Fatale Gewöhnung
Es ist wohl menschlich: Sind wir über einen längeren Zeitraum mit demselben Reiz konfrontiert, entwickelt das Gehirn mehr und mehr Toleranz, und es braucht einen immer stärkeren Reiz, um eine Reaktion auszulösen. Dieser Effekt ist so menschlich wie verhängnisvoll. Vor allem dann, wenn es um Leid geht, um Krisen oder Krieg.
So scheinen sich auch die jüngsten Nachrichten über die Überschwemmungen am Horn von Afrika bald in ein repetitives Muster einzureihen. Auf eine lange Dürreperiode folgten ab dem 8. November extreme Niederschläge in Kenia, Äthiopien und Somalia. Tausende Menschen wurden vertrieben, allein in Somalia über 700.000. Mehr als Hundert kamen in den Fluten zu Tode und es soll (Stand 23. November) auch in den kommenden zwei Wochen weiter regnen. Dass dies die x-te Klimakatastrophe in diesem Jahr ist, macht sie freilich nicht weniger schlimm. Doch je dauerhafter Katastrophenmeldungen und Klimakrisenberichte eingehen, desto mehr Gewöhnung tritt ein. Zuerst sinkt die Notfallbereitschaft und am Ende das Interesse.
Menschen, die vor den Folgen der Klimakrise fliehen, werden zurück gepusht
Noch während diese Nachrichten durch die Ticker gehen, werden Menschen aus Europa nach Kenia, Äthiopien oder gar nach Somalia abgeschoben. Oder nach Pakistan, wo die Folgen der Flutkatastrophe im August 2021 noch immer nicht eingehegt sind. Wieder andere, die etwa aufgrund von Dürren oder Missernten der Armut entkommen wollen, werden in diesen Tagen an den europäischen Außengrenzen abgewiesen oder ertrinken im Mittelmeer. Gleichzeitig setzt Europa auf grüne Technologien für den Klimaschutz, die unter anderem den Rohstoffbedarf erhöhen und so postkoloniale Abhängigkeiten fortschreiben. Durch den Bergbau sind die Abbauregionen sozial und ökologisch gefährdet. Die Menschen vor Ort leiden unter den gesundheitlichen Folgen oder werden gar vertrieben. Dieser für Mensch und Klima fatale Normalbetrieb läuft auch während des kommenden Weltklimagipfels weiter. Das gleiche gilt für die Suche nach einem sicheren Platz vor Fluten und Hitzewellen, das Fracking von Gas, die Verbrennung von Kohle oder die Förderung von Erdöl aus der Tiefsee. Die Weltgemeinschaft verhandelt indes erneut darüber, wie sie aus der Klimafalle herauszukommen gedenkt, in die sie vor allem die einkommensstarken emissionskräftigen Länder hineingerissen haben.
In diesem Dossier haben wir uns in Partnerschaft mit dem Netzwerk afrique-europe-interact und der Refugee-Redaktion Our Voice von Radiodreyeckland mit eben diesen zwei gesellschaftlichen Phänomenen beschäftigt: Klimakrise und Migration. Wir fragen nach den spezifischen Zusammenhängen zwischen Klimawandel, Klimakrise sowie Vertreibung und Migration. Und danach, wie eine rechtliche und politische Anerkennung aussehen könnte. Wir beleuchten die unterschiedlichen Auswirkungen und Aspekte der Klimakrise im Globalen Süden, konkrete Schauplätze klimaschädlicher Praxis sowie politisches Engagement für Klimagerechtigkeit. Welche Machtstrukturen verstecken sich innerhalb der Klimadebatten und den angebotenen Lösungen? Außerdem interessieren uns die Erfahrungen und Meinungen von Menschen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte in Deutschland. Sind ihre Positionen in der viel beschworenen Forderung nach Klimagerechtigkeit überhaupt abgebildet?
Auch wir haben bei diesem Projekt die Macht der Gewöhnung erfahren und mussten wiederholt feststellen, dass diese Gemengelage schmerzlich kompliziert ist. Dennoch gab es immer wieder Geschichten und Stimmen, die uns dazu bewegt haben, genauer hinzusehen und tiefer zu graben. Die Essenz: Von der Klimakrise und dem rassistischen Migrationsregime betroffene Menschen lediglich als »die Opfer« zu begreifen, verdeckt, dass viele tagtäglich Handlungsstrategien entwickeln, um mit den Herausforderungen des Klimawandels oder der Illegalisierung der Migration umzugehen. Und nicht zuletzt: politische Forderungen zu hören und für eine Plattform zu streiten, ist essentiell. Denn es sind genau diese Stimmen, die der Macht der Gewöhnung entgegentreten können.
die redaktion, in Kooperation mit afrique-europe-interact und Our Voice, der Refugee Redaktion bei Radio Dreyeckland
Dieses Dossier wurde mit der finanziellen Unterstützung der Europäischen Union durch das Staatsministerium Baden-Württemberg sowie der Stiftung Entwicklungs-Zusammenarbeit Baden-Württemberg (SEZ) im Rahmen von Mindchangers - Regions and Youth for Planet and People erstellt. Die Inhalte obliegen der Verantwortung des iz3w und vertreten nicht zwangsläufig die Meinung der Europäischen Union.