»Viele betrachteten die Deutschen fortan als Besatzer«

Interview mit Emran Feroz

Audiobeitrag von Anuk Oltersdorf

04.12.2024

Nach mehreren islamistisch motivierten Anschlägen hat Deutschland im August 2024, erstmals seit der Machtübernahme der Taliban, wieder nach Afghanistan abgeschoben. Mit dieser Aktion setzt Deutschland vermeintlich den Kampf gegen Terrorismus fort, den es vor über 20 Jahren mit dem Einmarsch nach Afghanistan begonnen hat. Während die deutschen Truppen mittlerweile abgezogen sind, werden die damaligen Verbündeten alleingelassen. Anuk Oltersdorf spricht im Interview mit dem Journalisten und Buchautor Emran Feroz darüber, wie Afghan*innen die deutsche Invasion wahrgenommen haben, über die ehemaligen Verbündeten und die aktuelle Abschiebepolitik.


Skript zum Audiobeitrag

Erstausstrahlung am 5.11.2024 im südnordfunk #126 auf Radio Dreyeckland

südnordfunk: Kannst Du dich und deine Arbeit zu Beginn vorstellen?

Emran Feroz: Ich bin Journalist, Autor und Kriegsberichterstatter, und das jetzt schon seit über zehn Jahren. Ich berichte hauptsächlich aus oder über Afghanistan. Vieles meiner Berichterstattung hat mit dem dortigen Konflikt zu tun, aber auch mit den Fluchtbewegungen, die sich seit Jahrzehnten aus dieser Region ereignen. Ich bin jedes Jahr meist mehrere Male in Afghanistan, um von dort zu berichten und zu recherchieren. Das letzte Buch hierzu ist »Der längste Krieg: 20 Jahre War on Terror«. Aktuell habe ich allerdings einige Probleme wegen des dortigen Regimes. Deswegen beschäftige ich mich gerade auch mit anderen Schauplätzen, zum Beispiel der europäischen Außengrenze in Griechenland.

 

In deinem gerade angesprochenen Buch »Der längste Krieg: 20 Jahre War on Terror« schreibst du auch über die Kriegsverbrechen Deutschlands in Kunduz. Wie war Deutschland in Afghanistan in den letzten Jahren des Krieges involviert, nachdem diese Verbrechen, die vor allem zu Beginn des Krieges passierten, bekannt wurden?

Viele Afghanen hatten Ende 2001, als die NATO in Afghanistan einmarschierte, ein anderes Bild von Deutschland. Die deutschen Soldaten wurden nicht auf die gleiche Weise wahrgenommen wie die Amerikaner oder Briten, die eine lange koloniale Geschichte in der Region hatten und dreimal versuchten, Afghanistan zu erobern – während der drei anglo-afghanischen Kriege. Die Deutschen wurden eher als Helfende gesehen, und viele Afghan*innen vertrauten ihnen. Doch dann gab es 2009 das Massaker von Kunduz im Norden des Landes.

Die deutschen Truppen waren hauptsächlich im Norden des Landes stationiert, etwa in Kunduz oder auch in Camp Marmal bei Masar-e Scharif in der Provinz Balkh. Dort war die deutsche Präsenz stark, und die Deutschen unterschieden sich in vielerlei Hinsicht nicht von anderen NATO-Staaten. Zwar gab es Hilfsprojekte, aber die Art und Weise, wie sie Politik betrieben, war genauso problematisch wie die anderer Länder. Sie verbündeten sich mit lokalen Warlords, mit brutalen Machthabern, die in der Region das Sagen hatten, statt sich auf die breitere Bevölkerung zu stützen. Das führte zu einem System, das bis heute viele Afghan*innen belastet. Afghanistan ist bis heute eine sehr heterogene Gesellschaft, das heißt, es gab einen Teil der Bevölkerung, der von diesen Warlords profitierte und die deutsche Präsenz akzeptierte. Aber es gab auch die ländliche Bevölkerung, die von der Besatzung viel abbekam, in Form militärischer Gewalt. Ganze Landstriche wurden pauschal verdächtigt, von den Taliban oder Al-Qaida kontrolliert zu werden, was zu brutalen Operationen führte und neue Feinde schuf.

»Das war eine Zäsur in der deutschen Afghanistan-Involvierung.«

Das Luftbombardement in Kunduz, bei dem 2009 rund 150 Menschen ums Leben kamen, ist ein weiteres Beispiel. Es ereignete sich, als Taliban-Kämpfer Tanklastwagen entführten und die Bevölkerung versuchte, Treibstoff abzuzapfen. Der damalige Oberst Klein gab den Befehl zum Luftangriff, weil er glaubte, es seien nur Taliban-Kämpfer dort. Aber viele Zivilist*innen wurden getötet, und dieses Kriegsverbrechen wurde nie wirklich aufgearbeitet. Es gab keine umfassende Entschädigung oder Aufarbeitung, und die betroffenen Menschen haben die Wahrnehmung des deutschen Einsatzes in Afghanistan für immer verändert. Viele betrachteten die Deutschen fortan als Besatzer, die zwar Entschädigungssummen zahlten, aber ansonsten ihre eigenen politischen Interessen verfolgten. Das war eine Zäsur in der deutschen Afghanistan-Involvierung.

Ein Militärfahrzeug in den Bergen von Afghanistan. Dort hat Deutschland einen vermeintlichen Krieg gegen Terror geführt. Jetzt regiert die Taliban.
Deutschland und andere Länder haben in Afghanistan Krieg geführt - die afghanischen Verbündeten lässt Deutschland nun allein | Foto: ArmyAmber, Pixabay, Public Domain

In deinem Buch schreibst du auch über die Entschädigungen, die nach den Kriegsverbrechen gezahlt wurden. Du erwähnst, dass viele Opfer nur lächerliche Beträge erhielten – etwa 1.000 Euro pro Familie. Kannst du das bestätigen?

Ja, das war ein sehr intransparenter Prozess. Viele Familien haben überhaupt nichts bekommen. Manche erhielten mehr für zerstörtes Gerät oder getötetes Vieh als für das menschliche Leben. Und es gab auch korrupte Strukturen, die hier eine wichtige Rolle spielten. Die Personen, die mit den NATO-Verbündeten vor Ort zusammenarbeiteten, wurden oft als Mittelsmänner eingesetzt. Ihnen wurde gesagt, sie sollten das Geld an die betroffenen Familien weitergeben, aber häufig behielten sie einen Großteil des Geldes für sich. Es gab keine echte Transparenz, und die betroffenen Menschen hatten oft keinen Zugang zu rechtlicher Hilfe oder internationalen Beobachter*innen. Karim Popal, ein Bremer Rechtsanwalt, war einer der wenigen, die versuchten, den Opfern in Deutschland zu helfen, aber insgesamt war der ganze Prozess sehr unklar und ungerecht.

 

Zum Bundesaufnahmeprogramm für afghanische Ortskräfte und gefährdete Personen: Laut dem Bund gibt es 45.000 Menschen, die als gefährdet gelten und in Deutschland aufgenommen werden sollen. Amnesty International bezeichnet dies als einen Hoffnungsschimmer. Wie siehst du das?

Das Bundesaufnahmeprogramm ist grundsätzlich eine gute Sache, aber in der Praxis läuft es nicht so, wie es sollte. Der aktuelle Stand ist, dass nur einige Hundert von Tausenden von Menschen tatsächlich aufgenommen wurden. Viele, die bereits Zusagen erhalten haben, warten noch immer in Pakistan oder anderen Nachbarländern. Die deutsche Bürokratie spielt hier eine entscheidende Rolle. Verschiedene Behörden arbeiten oft gegeneinander, und politische Ideologien behindern den Prozess. Es gibt Beamte, die den Sachverhalt klar sehen und die Menschen schnell aufnehmen wollen, aber wenn das Programm dann an Ministerien weitergeleitet wird, kann es zu Verzögerungen kommen. Die politische Stimmung in Deutschland – insbesondere bei rechten Kräften – trägt dazu bei, dass Menschen, die jahrelang mit Deutschland zusammengearbeitet haben, nun in den Hintergrund geraten. Es ist ein symbolisches Versagen, dass man nicht einmal in der Lage ist, die eigenen Verbündeten zu schützen und nach Deutschland zu holen.

 

Wie siehst du die Lebensrealität von Menschen in Afghanistan und die aktuelle Debatte um Abschiebungen?

Die Situation für abgeschobene Menschen in Afghanistan ist katastrophal. Für die 28 zuletzt abgeschobenen Personen wurde eigens ein Auffangraum am Flughafen eingerichtet. Dort wurden sie oft verhört, und die Freiheit hing von lokalen Strukturen und Familien ab. Die Taliban entscheiden, ob sie jemanden freilassen oder nicht, und oft müssen Familien garantieren, dass die Person sich nichts zuschulden kommen lässt.

»Viele der Abgeschobenen flüchten erneut.«

Für viele Abgeschobene ist das Leben in Afghanistan nach wie vor gefährlich, insbesondere für ehemalige Ortskräfte oder Menschen, die mit westlichen Organisationen zusammengearbeitet haben. EU-Staaten, die noch bis kurz vor der Rückkehr der Taliban nach Afghanistan abgeschoben haben, haben die Situation oft komplett ignoriert. Ich erinnere mich an einen Fall, bei dem ein Abgeschobener im Norden Afghanistans von einem Artilleriegeschoss getötet wurde. Es gibt viele ähnliche tragische Schicksale.

Auch in Athen berichteten mir NGOs, dass viele der Abgeschobenen erneut flüchten, oft über Griechenland in andere europäische Länder. Der ganze Abschiebeprozess ist inhuman. Es gibt viele Berichte über Menschen, die von Pushbacks betroffen sind oder wieder in gefährliche Situationen in Afghanistan zurückgeschickt werden. Es ist ein System, das keine Rücksicht auf die Sicherheit der Menschen nimmt. Und es gibt niemanden, der wirklich darauf schaut. Das ist ein weiteres Beispiel für das Versagen der westlichen Staaten, sich an ihre eigenen Werte zu halten.

Emran Feroz, geboren 1991 in Innsbruck, ist Journalist mit Fokus auf Nahost und Zentralasien. Er berichtet regelmäßig aus Afghanistan. Feroz ist Gründer von »Drone Memorial«, einer virtuellen Gedenkstätte für zivile Drohnenopfer.

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