Performance von der afghanischen Künstlerin Sara Nabil, Frau Schal um die Augen
Fotografie aus der »Power Serie 2014 - 2022« | Foto: Sara Nabil

»Eine Frau ist für sie kein Mensch«

Interview mit Sara Nabil über Frauen in Afghan­istan

Unter dem islamistischen Taliban-Regime wird die Situation von Frauen in Afghanistan immer aussichtsloser. Spätestens seit dem Erlass der sogenannten Tugend-Gesetze Ende 2024 sind Frauen in die Unsichtbarkeit verdrängt: Körper und Gesicht müssen bedeckt sein, lautes Singen, Reimen und Rezitieren ist verboten. Sie dürfen keine Männer ansehen, mit denen sie nicht verwandt oder verheiratet sind, und umgekehrt. Und das sind nur wenige der mittlerweile über 80 Vorschriften für Frauen.

Die internationalen Reaktionen darauf sind kaum mehr als Lippenbekenntnisse. Stattdessen dominieren bei den außenpolitischen Positionen Deutschlands gegenüber Afghanistan eher Abschiebungsinteressen. Als Reaktion auf das islamistische Attentat in Solingen im August 2024 folgten die ersten Abschiebungen nach Afghanistan. Der darin liegende Widerspruch zwischen vorgeblicher Islamismusbekämpfung und der Aufwertung eines islamistischen Terror-Regimes durch die Zusammenarbeit wird schlicht ignoriert.

Das Sondierungspapier von CDU/CSU und SPD sieht nun vor, das Bundesaufnahmeprogramm für gefährdete Menschen aus Afghanistan zu beenden. Dabei verschlechtert sich die Menschenrechtslage, wie die Situation von Frauen deutlich aufzeigt. Die afghanische Künstlerin und Aktivistin Sara Nabil appelliert, die Menschen in Afghanistan nicht zu vergessen. Im Interview mit dem iz3w spricht sie über die Situation der Frauen, ihren Aktivismus und die Ideologie der Taliban.

Das Interview führte Johanna Bächle

07.04.2025
Veröffentlicht im iz3w-Heft 408
Teil des Dossiers Islamismus

iz3w: Sara Nabil, was muss man über Dich wissen?

Sara Nabil: Ich bin Künstlerin und Aktivistin aus Afghanistan. Ich lebe seit knapp zehn Jahren in Deutschland. Hier studiere ich Kunst und mache gerade mein Diplom. In Afghanistan habe ich Politikwissenschaften studiert, aber wegen meiner Flucht musste ich das Studium abbrechen.

Mein Fluchtweg war anders als der übliche, da ich ein offizielles Visum hatte. Normalerweise kommen Menschen ohne Einreiseerlaubnis. Ich würde nicht ‚illegal’ sagen, denn man hat gar keine andere Wahl. Wie soll man ‚offiziell’ flüchten können, wenn man verfolgt wird? Wenn man in Gefahr ist, dann kommt man ‚illegal’. Ich hasse dieses Wort, aber es wird heutzutage leider so verwendet.

Du sagst, du benutzt deine Kunst als Waffe. Wie hat sich Dein Aktivismus seit der erneuten Machtübernahme der Taliban 2021 verändert?

In Afghanistan war ich auch schon als Künstlerin tätig und wurde deshalb verfolgt. Das Thema der Unterdrückung von Frauen ist das Kernanliegen meiner Arbeit. Ich arbeite an diesem Thema, weil ich selbst eine Frau bin und diese Unterdrückung selbst erlebt habe.

»Womöglich verbietet ein neuer Erlass den Frauen bald das Atmen«

Im ersten Taliban Regime (1996-2001) war ich noch ein Kind. Ich erinnere mich, was es damals bedeutete, eine Frau zu sein. Deshalb wollte ich mich engagieren und fragte mich: Wie kann ich meine Erlebnisse in eine Sprache bringen, damit ich auch andere darauf aufmerksam machen kann? In Ländern wie Afghanistan ist es schwierig über tabuisierte, progressive Themen zu sprechen. Ich habe trotzdem immer wieder versucht, einen Weg zu finden. Die Kunst war damals ein Werkzeug für mich. Damit kann ich kämpfen, meine Ziele erreichen und die Gesellschaft ändern.

Seit die Taliban wieder an der Macht sind, ist mein Kampf noch stärker geworden. Dennoch fehlen mir oft die Worte für die Beschreibung der Situation vor Ort. Es ist unmenschlich und inakzeptabel, dass 19 Millionen Menschen komplett von der Gesellschaft ausgeschlossen sind – allein aufgrund ihres Geschlechts. Allein weil sie Frauen sind. Dieses Thema ist in der deutschen Gesellschaft kaum präsent. Wir sind so weit entfernt von Afghanistan und so sehr mit anderen Themen beschäftigt … Das sieht man auch und vor allem in der deutschen Politik. Zum Glück habe ich die Kunst und kann damit Menschen hierzulande für Themen sensibilisieren, die auf der anderen Seite der Welt passieren.

Filmstill »51%« von der afghanischen Künstlerin Sara Nabil, schreiende Frau, Widerstand gegen Islamismus
Sara Nabil, »51%«, Filmstill, 2022 | Foto: Sara Nabil

Afghanistan wird als Regime der Gender-Apartheid bezeichnet, unter anderem von den Vereinten Nationen. Wie äußert sich das im Leben von Frauen und Mädchen?

Afghanistan als Gender-Apartheidsstaat zu bezeichnen ist leider noch nicht international anerkannt. Wir Aktivist*innen und afghanische Frauenrechtler*innen kämpfen sehr stark dafür, dass dies endlich so benannt wird. Frauen sind wegen ihres Geschlechts aus jedem Aspekt des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen, selbst fundamentale Rechte wurden ihnen entzogen. Sie dürfen nicht in die Schule oder zur Uni gehen, sie können keinen Arzt besuchen, wenn sie keinen Mahram (eine männliche Begleitung) haben. Sie dürfen das Haus nicht verlassen. Sie können an Politik und Wirtschaft nicht teilhaben. Sie haben alles verloren, jeden Aspekt ihres Lebens. Die Taliban haben, seitdem sie an der Macht sind, mehr als 50 Erlasse durchgesetzt, die Frauen ausgrenzen und unterdrücken, wie der UN-Sonderberichterstatter für Afghanistan, Richard Bennett, berichtet.

»Ihre Männlich­keit zeigen sie durch die absolute Macht­ausübung«

Zum Teil gibt es auch widersprüchliche Entwicklungen, zum Beispiel wenn die Taliban behaupten, dass sie den Frauen wirtschaftlich helfen wollen, indem sie ihre eigenen Unternehmen und Geschäfte haben. Viele internationale Organisationen wie die UN machen dazu Projekte. Darin werden Frauen aber wieder in die traditionellen Rollen gepresst, etwa als Näherinnen oder Schmuckhändlerinnen. Die meisten dieser Frauen sind gebildet, haben die Gesellschaft aktiv mitgestaltet, und jetzt, weil ihnen nichts anderes mehr erlaubt ist, müssen sie diese Kurse machen. Wir haben jahrelang so sehr dafür gekämpft, dass Frauen in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft partizipieren können. Aber jetzt, nach 20 Jahren, sind sie wieder zurückgedrängt in diese sehr traditionellen und sehr einschränkenden Geschlechterrollen.

Einer der Taliban-Erlasse ist das »Vice and Virtue«, zu Deutsch »Tugend-Gesetz«, das Ende 2024 erlassen wurde.

Das Gesetz ist total schrecklich. Hauptsächlich schränkt es Frauen ein, aber Männer ebenfalls. Jeder Aspekt von Individualität wird untersagt. Ein Beispiel: Es ist nicht erlaubt, die Stimme von Frauen in der Öffentlichkeit zu hören. Sie dürfen ihre Gesichter nicht zeigen, sie dürfen keine hellen Klamotten tragen. Sie dürfen keine Parks oder öffentlichen Bäder besuchen. Womöglich verbietet ein neuer Erlass den Frauen bald das Atmen. Viele Frauen in Afghanistan sagen, dass sie nur noch auf so etwas warten.

Was zeichnet den Islamismus der Taliban aus?

Die Ideologie der Taliban ist stark vom Islam geprägt. Vieles von dem, was sie tun, ist aber auch gegen die muslimische Lehre. Im Islam dürfen Frauen lesen, sie dürfen Teil der Gesellschaft sein. Die Taliban sind radikal islamistisch. Sie sind misogyn und denken sehr altmodisch. Die Anführer der Taliban glauben nicht an Modernität oder Reformen. Der Großteil kommt von einer paschtunischen Bevölkerungsgruppe in Afghanistan. Sie haben bestimmte Kodexe, die vor hunderten Jahren entstanden sind und an die sie sich bis heute halten. Dazu kommt noch die Machtstruktur der Taliban. Es gibt einen Anführer, und den müssen alle akzeptieren. Es ist stark hierarchisch und diktatorisch.

Welche Vorstellung von Männlichkeit propagieren sie?

Männer sind stark geprägt von ihrer Ideologie. Ihre Regierung ist rein männlich, Frauen gibt es darin nicht. Ihre Männlichkeit zeigen sie auch durch die absolute Machtausübung. Diese Macht und Männlichkeit stellen sie ständig zur Schau, zum Beispiel durch ihre schwarze Kleidung und bei Patrouillen auf der Straße. Sie sind überzeugt vom Patriarchat, weil sie gar nicht glauben, dass eine Frau ein Mensch ist.

Was ist Dir abschließend noch wichtig zu sagen?

Wir brauchen Solidarität mit afghanischen Frauen. Aber nicht nur mit ihnen, sondern mit allen Frauen, die in dieser Welt unterdrückt werden. Ich bin mir sicher, dass es keine Frau auf der Welt gibt, die nicht in irgendeiner Art und Weise Unterdrückung erlebt. Wir müssen laut sein für die Frauen, die ihre Stimme gerade nicht erheben können.

Wir dürfen die Frauen in Afghanistan nicht vergessen. Ja, sie sind weit entfernt, aber sie sind Menschen wie wir.

Das Interview führte Johanna Bächle.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 408 Heft bestellen
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