Traueralter/Gedenkstelle für drei Jugendliche, die bei Auseinandersetzungen mit Drogenbanden erschossen wurden
An dieser Stelle wurden drei Jugendliche in der Auseinandersetzung mit Drogenkartellen erschossen | Fotos: Jürgen Schübelin

»Einen Zauber­stab gibt es nicht«

Wie in chilenischen Armenvierteln der Gewalt entgegnet wird

Im Stadtteil La Victoria in der Hauptstadt Santiago de Chile kommt es zu einer schrecklichen Gewalttat. Alles deutet auf Bandengewalt hin, welche sich in Chiles Städten und vor allem in Armenvierteln ausbreitet. Was sind die Hintergründe und wer sind die Akteure? Mit welchen sozialen und politischen Strategien wird dem entgegnet? Eine Reportage.

von Jürgen Schübelin

12.02.2025

La Victoria, zwei Tage vor Sylvester, kurz nach acht. Es ist ein typischer Hochsommerabend in einem chilenischen Armenviertel mit vielen Menschen draußen auf der Straße. Ein junger Musiker hatte die Idee, zu einem neuen Song für sein Social-Media-Portal dort einen Videoclip zu produzieren. Dafür hatte er drei Mädchen auf der Straße angesprochen und sie eingeladen, spontan an Ort und Stelle zu seiner Musik zu tanzen. Viele Passant*innen blieben stehen und schauten zu. Niemand achtete auf den Pickup, der auf die Gruppe zufuhr. Plötzlich – ohne jegliche Warnung – begannen die Männer aus dem Fahrzeug heraus mit Schnellfeuerwaffen auf zwei kolumbianische Jugendliche zu schießen. Die beiden waren sofort tot. Acht Personen wurden durch die Schüsse verletzt, darunter die dreizehnjährige Mayra Castillo, eines der drei tanzenden Mädchen. Alle Versuche, ihr Leben zu retten, blieben vergeblich. Noch in der Nacht erlag sie im benachbarten Hospital Barros Luco ihren Verletzungen.

»Es ist, als ob wir ungebremst in einer Achter­bahn sitzen«

Schüsse im Stadt­teil

Nicht nur für ihre Familie, sondern auch für die Kinder und Jugendlichen aus dem Zentrum »Nuestra Señora de la Victoria«, für deren Team und die gesamte Nachbarschaft war der Tod von Mayra ein Schock, der bis heute nachwirkt. Die sensible, vor kreativer Energie sprühende 13jährige verbrachte seit ihren Kindergartenjahren jede freie Minute in diesem kirchlichen Projekt im geschichtsträchtigen Viertel in der Kommune Pedro Aguirre Cerda im Südwesten von Santiago. Valentina Campos, Direktorin des Kinder- und Jugendzentrums, und ihre Kollegin Rosani Lagos, Verantwortliche für die Stadtteilarbeit des Projektes, erfuhren– wenige hundert Meter vom »Centro Comunitario La Victoria« entfernt – noch in dieser Nacht des 29. Dezembers von dem Blutbad. Sie wussten gleich, was jetzt auf dem Spiel stand. Zunächst begleiteten sie Mayras Familie während der bangen Stunden im Hospital, anschließend in die Gerichtsmedizin und dann bei der Beisetzung ihrer Tochter. Die Zeremonie auf dem Friedhof geriet zu einem Aufbäumen und Protest der Menschen aus La Victoria gegen die Gewalt in ihrem Viertel und gegen die immer brutaler ausgetragenen Revierkämpfe rivalisierender Drogengangs.

Mayras Eltern hatten inständig darum gebeten, dass es bei der Beerdigung ihres Kindes trotz der aufgeheizten Stimmung zu keinen Ausschreitungen kommt. Denn bereits unmittelbar nach den tödlichen Schüssen hatten Carabineros, Chiles uniformierte Polizei, mit Tränengas und Wasserwerfern aufgebrachte Menschen aus der Nachbarschaft angegriffen. Diese protestierten spontan gegen die fehlende Sicherheit im Viertel und warfen der Polizei vor, vor den schwer bewaffneten Narko-Kriminellen kapituliert zu haben – oder, noch fataler, gemeinsame Sache mit ihnen zu machen. Deshalb geriet der Trauerzug hinter dem Sarg von Mayra schnell zu einem Hochrisikoevent mit jede Menge Polizei-Spezialeinheiten, was jedoch eine Gruppe junger Männer aus einer der La Victoria-Gangs nicht daran hinderte, mit viel Macho-Gehabe ostentativ Präsenz zu zeigen.

Mit wachsender Beklemmung beobachten Valentina Campos und Rosani Lagos seit langem den schleichenden Transformationsprozess im legendären linksgerichteten Stadtteil Población La Victoria, der nach einer Landbesetzung seit 1957 für seine Selbstorganisation und Nachbarschafts-Solidarität bekannt ist. Gegenüber der iz3w formuliert Valentina Campos die aktuelle Entwicklung so: »Es ist, als ob wir ungebremst in einer Achterbahn sitzen würden, in der die Kurven immer enger und die Abstürze immer steiler werden.«

Dieses Gefühl des Verlusts von Sicherheit und der Ohnmacht angesichts der schleichenden Übernahme der Kontrolle über das vertraute Viertel durch kriminelle Gangs, die durch den Drogenverkauf und andere schwere Straftaten über sehr viel Geld verfügen, ist auch für viele andere in Armenvierteln engagierte Nichtregierungs-Organisationen in Chile zu einer der größten Herausforderung geworden. Die Ursachen für die massive Zunahme von Gewalt, denen sich Kinder und Jugendliche, ihre Familien, aber auch die Teams in den Projekten ausgesetzt sehen, sind hochkomplex und vielschichtig: »Eine verhängnisvolle Rolle spielte ganz sicher die Corona-Pandemie mit dem monatelangen Eingeschlossen-Sein«, ist José Horacio Wood, Direktor des Kindernothilfe-Partners Fundación ANIDE, überzeugt: »Kinder und Jugendliche hatten fast zwei Jahre lang keine Möglichkeit, mit Gleichaltrigen außerhalb ihrer Familien zusammen zu sein. Sie erlebten den ständigen, massiven Stress zuhause und in ihrer Nachbarschaft – aber auch den brutalen Kampf um das tägliche Über-die-Runden-Kommen.« Die Covid-Pandemie führte dazu, dass Nachbar*innen öffentliche Räume nicht mehr gemeinsam nutzten. Dafür übernahmen Gangs fast überall in den dichtbesiedelten Armenvierteln der großen Städte die Kontrolle über Straßen und Plätze.

 

Gangs breiten sich aus …

Außerdem stieg während der Pandemie der Konsum von Drogen besorgniserregend an, mit immer dichteren Kuriernetzwerken und ausgefeilten Techniken der Haus-zu-Haus-Belieferung nach Online-Bestellung. »Und natürlich wird um diese Märkte und das viele Geld, das hier verdient wird, mit allen Mitteln gekämpft«, so José Horacio Wood: »Dass sich inzwischen in Chile internationale kriminelle Kartelle wie das berüchtigte ‚Tren de Aragua‘-Syndikat aus Venezuela festgesetzt haben und mit lokalen Gangs teils konkurrieren teils kooperieren, hat zu einer Brutalisierung dieser Kämpfe um Territorien, Märkte und Macht beigetragen - und zu einer immer massiveren Bewaffnung dieser Banden.« Die Liquidierung der beiden Jugendlichen aus Kolumbien, die auch Mayra das Leben kostete, war Teil eines solchen Machtkampfes.

Die Gangs über­nahmen die Kontrolle über Straßen und Plätze

Claudia Vera, die ANIDE-Programm- und Projektkoordinatorin, schlägt den Bogen zwischen der allgegenwärtigen Normalisierung der Gewalt: auf der Straße, in den eigenen vier Wänden gegenüber Kindern und schließlich der zunehmenden Gewaltausübung durch Eltern gegen Mitarbeitende in Krankenhäusern, Gesundheitsposten, Lehrer*innen und auch Erzieher*innen in Projekten: »Kinder werden unmittelbar Zeugen, wie schnell Erwachsene selbst bei kleinsten Problemen die Kontrolle verlieren und Diskussionen in physischen Angriffen enden.« Deshalb ist es für sie auch nicht überraschend, dass immer mehr Lehrerinnen und Lehrer berichten, von Schülern körperlich angegriffen zu werden.

»Einen Zauberstab, um dieser Gewalt in all ihren unterschiedlichen Facetten zu begegnen«, sagt José Horacio Wood, »gibt es nicht.« Aber es gelte, das Problem in seiner ganzen Dimension zu sehen: »Wie immer hängt alles mit allem zusammen: Der ‚Erfolg‘ der bewaffneten Gangs in den Vierteln und ihre ‚Attraktivität‘ als Teil einer Macho-Kultur mit der Verheißung von Macht und schnellem Geld, das ist auch das Ergebnis eines extreme Ungleichheit vertiefenden Wirtschaftssystems, das jungen Menschen aus Armenvierteln die Chance auf gute Bildung und ein ordentliches Auskommen verweigert.« Und, fügt er hinzu, eines Staates, dessen politisch Verantwortliche nie verstanden haben, dass sein Schutzversprechen für alle gelten muss, nicht nur für die Reichsten und Privilegiertesten.

… und es braucht Designer­klamotten

Letztlich, so die Analyse von José Horacio Wood und Claudia Vera, ist es gerade in Chile das von einer Verfassung voller autoritärer Elemente geschützte hyperkapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, das der Gewalteskalation – etwa durch bis an die Zähne bewaffnete Drogengangs – Vorschub leistet. »Diese Narko-Kultur, die wir in den Armenvierteln der chilenischen Städte beobachten, fügt sich«, so José Horacio Wood, „perfekt in die Verheißungen der Konsumwelt, die uns unablässig propagiert werden, ein“. Ablesen lässt sich das seiner Meinung nach etwa am Einkaufsverhalten der jungen Gang-Mitglieder: »Zum Shoppen geht es grundsätzlich in die teuersten Malls der Stadt«, schildert Wood eigene Beobachtungen, »und eingekauft werden dann nur die teuersten Marken-Turnschuhe, Uhren und Designer-Klamotten, immer in bar bezahlt – mit großen Scheinen.«

Und noch ein Statussymbol ist zum festen Bestandteil der Gang-Kultur geworden: aufwändige Schönheitsoperationen, Brustvergrößerungen und Lippen-Aufspritzen für die Freundinnen der harten Jungs. »Enchulando a las pololas« – Freundinnen-Aufhübschen, nennt sich das im Social-Media-Sprech der Szene. »Wirklich fatal ist«, fügt Claudia Vera hinzu, »dass es den Narko-Gangs gelingt, sich mit dem sexistischen Macho-Gehabe als coole Rebellen, als Systemsprenger zu gerieren – und eine unheimliche Attraktivität auf Jugendliche auszuüben.« Besonders anfällig, um in die Fänge einer der Gangs zu geraten, so beobachtet es das Projektteam des »Nuestra Señora de la Victoria“-Zentrums, sind männliche Jugendliche mit einem niedrigen Selbstwertgefühl, die für sich weder eine schulische noch eine berufliche Perspektive sehen: »Wenn dann bereits 14jährige am helllichten Tag offen auf der Straße mit ihren Waffen herumfuchteln«, sagt Valentina Campos, »ist das wie ein Adrenalin-Kick, die Macht, andere Menschen einzuschüchtern«. Dazu passt ein makabrer Todeskult: Immer wieder bekommen sie und ihre Kolleg*innen von den Jugendlichen zu hören: »Wenn ich erschossen werde, ist es dann eben so, aber vorher will ich noch richtig einen draufmachen und gut leben!«

Wie verwirrend und gebrochen die Trennlinien zwischen den Lagern in der Población La Victoria mittlerweile verlaufen, illustriert eine groteske Episode aus dem vergangenen Jahr, als aufgebrachte Nachbarn den örtlichen Posten der Carabineros stundenlang belagerten, um gegen die Untätigkeit der Polizei gegenüber den Narko-Gangs im Viertel zu protestieren – und es dann ausgerechnet schwerbewaffnete Bandenmitglieder waren, die die Demonstrantinnen und Demonstranten vertrieben, um einen Einsatz von zu Hilfe gerufenen »Fuerzas Especiales« der uniformierten Polizei zu verhindern.

Soziale und politische Arbeit …

In den Armenvierteln Chiles arbeitende Nichtregierungsorganisationen haben gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Bündnissen und Initiativen unterschiedliche Strategien entwickelt, um die Kinder und Jugendlichen bestmöglich zu schützen und sie dabei zu fördern, selbst Akteure gegen die Gewalt zu sein. In La Victoria standen Valentina Campos, Rosani Lagos und ihr Team vor der extrem schwierigen Aufgabe, mit den Kindern im Projekt den Tod ihrer erschossenen Freundin Mayra zu verarbeiten. Claudia Vera und José Horacio Wood von der Stiftung ANIDE organisierten finanzielle Mittel der Kindernothilfe Österreich, um professionellen therapeutischen Beistand zu erhalten. »Conversatorios« – frei übersetzt: Nachdenk- und Gesprächsrunden – nennt das La Victoria-Team die neu geschaffenen Formate, um altersgerecht mit den Kindern und Jugendlichen über Trauer und Verlust zu sprechen, aber auch die gewaltfreie Lösung von Konflikten einzuüben. Wie lassen sich Beziehungen untereinander verbessern, wie ist es möglich, zu streiten, ohne sich zu verletzen? Wie gehen wir mit Wut, wie mit Angst um? Und ganz wichtig: Wie können wir uns gegenseitig schützen und auf Gefahrensituationen aufmerksam machen?

»Ganz entscheidend«, sagt Claudia Vera, »war in dieser Phase aber auch, mutig und lautstark einzufordern, dass Kinder ein Recht haben, sicher und ohne Bedrohung auf den Straßen und Plätzen in ihrem Viertel spielen zu können, dort Musik zu machen, sich zu treffen, Spaß zu haben“. Mit einer Gruppe von Müttern organisiert das La Victoria-Zentrum jeden Freitag Spiel-, Sport- und Kulturprogramme für Hunderte Kinder und Jugendliche im André-Jarlan-Park, der einzigen Grünfläche des Armenviertels. Unterstützt werden sie dabei auch vom Radio Comunitario La Victoria, einem der historischen chilenischen Bürgerradios. »Und natürlich geht es mehr denn je darum«, erklärt José Horacio Wood, »alles Menschenmögliche zu unternehmen, um die Kinder und Jugendlichen zu motivieren, täglich zur Schule zu gehen, den Unterrichtsbesuch nicht abzubrechen. Noch nie war eine nachhaltige Bildungsperspektive für diese Kinder so wichtig wie heute!«

… für bessere Quartiere

Im Projekt »Belén El Cobre«, im Südosten von Santiago, rund zehn Kilometer von La Victoria entfernt, wo vor drei Jahren ebenfalls drei Jugendliche, die in dem gleichnamigen Zentrum groß geworden sind, auf offener Straße bei einem Konflikt mit Drogendealern erschossen wurden, nennt das Team diese Wiederaneignung von öffentlichen Räumen: »Friedensorte schaffen!«. Die gesamte Nachbarschaft wird eingeladen, während die Kinder aus dem Projekt einen Platz mitten im Armenviertel verschönern, Wandbilder malen, Ornamente mit bunten Steinen gestalten, Blumen pflanzen. Was auf den ersten Blick wie eine harmlose, sympathische Initiative wirkt, ist in Wirklichkeit ein kreativer Akt von Zivilcourage, weil er, sagt Claudia Vera, »zeigt, dass das Projektteam, die Jugendlichen und ihre Familien nicht bereit sind, sich den Regeln der Gangs und der Mechanik der von ihnen losgetretenen Gewaltspirale zu unterwerfen!«

Und im Projekt »Niñas y Niños sin Fronteras« im Norden von Santiago – einer 2002 gegründeten Organisation zur Verteidigung der Rechte von Kindern aus Flüchtlings- und Migrant*innenfamilien – haben sich Mütter zusammengeschlossen, um »Cuidadoras Colectivas« zu sein. Das sind Frauen, die gemeinsam ein Auge auf die Sicherheit ihrer Kinder haben. Sie begleiten Mädchen und Jungen, wenn sie spät auf den Straßen des Stadtteils Independencia unterwegs sein müssen, reden mit Kindern und ihren Eltern über mögliche Gefahrensituationen, trainieren untereinander den Umgang mit Risiko-Begegnungen und informieren das Colectivo-Projektteam und sich gegenseitig über die Präsenz und Aktivitäten von Personen und Gruppen, die ihnen verdächtig vorkommen.

Aber auch das Sich-Erinnern – und angemessene Orte und Formen dafür – sind wichtig: So entschied das Projektteam des »Nuestra Señora de la Victoria“-Zentrums gemeinsam mit den Jugendlichen und den Eltern, in La Victoria ein Zeichen für mehr Chancen- und Bildungsgerechtigkeit zu setzen und ein Abiturs- und Hochschul-Vorbereitungsprogramm mit und für junge Leute aus dem Viertel aufzubauen. Der Name ist Programm: »Pre-Universitario Mayra Castillo«.

Jürgen Schübelin ist Sozialwissenschaftler. 22 Jahre leitete er das Lateinamerika- und Karibik-Referat der Kindernothilfe und hält weiter im Ruhestand intensiv den Kontakt nach Chile.

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