
Magische Realitäten und Widerstand
Lateinamerikanisches Kino auf der 75. Berlinale
Auf der Berlinale waren starke lateinamerikanische Filme im Wettbewerb und in den Nebenreihen vertreten. Die iz3w stellt eine Auswahl vor.
»Die Zukunft ist für alle da«, schallt es aus den Lautsprechern einer Industriestadt im Amazonas. Doch für alte Menschen scheint kein Platz zu sein. Junge sollen übernehmen für mehr Produktivität und Wirtschaftswachstum, fordert die Regierung. Im brasilianischen Wettbewerbsbeitrag »O ultimo azul« (The Blue Trail) soll die 77-jährige Tereza in eine Seniorenkolonie abgeschoben werden. Die rebellische Seniorin aber widersetzt sich. Sie will ihren Job in der Alligatoren-Fleischfabrik behalten und vor allem einen lang gehegten Traum verwirklichen: Fliegen.
Ohne Genehmigung der Tochter darf die rüstige Mittsiebzigerin allerdings kein Flugticket kaufen. Kurzerhand chartert Tereza ein Boot, das sie zu einem privaten Flugplatz bringen soll. Die Flussfahrt entwickelt sich zur Selbstermächtigung, bei der Tereza neben zwielichtigen Begleitern auch unerwartete Verbündete findet. Gabriel Mascoros dystopische Satire zeigt den Amazonas als magischen Lebensraum für Pflanzen und Tiere, aber auch als Schauplatz von Korruption, Umweltzerstörung und religiösem Eifer. In einem schwimmenden Casino setzt Tereza schließlich alles auf eine Karte, um ihren Lebensabend selbst bestimmen zu können. Die Berlinale-Jury zeichnete das entspannte »Boat-Movie« mit seiner beeindruckenden Hauptdarstellerin (Denise Weinberg) mit dem Silbernen Bären (Großer Preis der Jury) aus.

Tierstimmen und eine unkonventionelle Familie
Auch »El Mensaje« (The Message) des argentinischen Regisseurs Iván Fund wurde mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet. Im Mittelpunkt seines Road-Movies steht die junge Anika (beeindruckend gespielt von Anika Bootz), die Gedanken von Tieren lesen kann. Ihre geschäftstüchtigen Großeltern Myriam und Roger machen daraus ein Geschäft: Tierbesitzer*innen bringen ihre Schildkröten, Katzen oder Igel und lassen sich von dem Mädchen deren Wünsche und Sorgen übersetzen. In der staubigen, argentinischen Provinz bringt dies zwar nicht viel ein, aber das Trio in seinem klapprigen Campingbus kommt gerade so über die Runden.
Fund erzählt die Geschichte in langen, ruhigen Schwarz-Weiß-Einstellungen. Die Dialoge sind knapp; vieles – wie die Beziehung zu Anikas Mutter, die in der Psychiatrie lebt – wird nur angedeutet. Auch die Musik (Mauro Mourelos) mit wiederkehrendem Trompetensolo und dem Pet Shop Boys-Song »Always on my mind« wird sparsam, aber ausdrucksstark eingesetzt.
Ist Anikas Gabe Magie oder bloße Show? Beuten Myriam und Roger ihre Enkeltochter aus? Der Film wertet nicht, sondern beobachtet fein. Wenn Myriam Sandwiches mit abgezählten Chips belegt, wenn Roger auf der Kirmes Plüschtiere für Anika angelt und wenn Anika die Erwachsenen mit Botschaften ihrer Mutter tröstet, dann wird die tiefe Verbundenheit zwischen ihnen spürbar.

Koloniale Vergangenheit und filmische Spurensuche
Während die Spielfilme magische und satirische Realitäten erkundeten, widmeten sich viele Dokumentarfilme der Aufarbeitung von Geschichte und Gewalt.
Im FIPRESCI-Forum-Gewinnerfilm »La memoria de las mariposas« (The Memories of Butterflies) folgt die peruanische Filmemacherin Tatiana Fuentes Sadowski den Spuren einer Fotografie, die zwei indigene Männer in London zeigt. Sie stößt auf ein Universum aus Propagandabildern von kolonialen Expeditionen und Kautschuk-Abbauprojekten im Amazonas. Auch Omarino und Aredomi, so die Namen der beiden Männer, wurden vom damals mächtigsten Kautschukunternehmen, La Casa Arana, versklavt. Der britische Diplomat und Menschenrechtler Robert Casement brachte die beiden 1911 aus dem peruanischen Iquitos nach London, um sie als lebendige Beweise für die grausamen Arbeitsbedingungen bei der Kautschukgewinnung zur Schau zu stellen. Sadowski erzählt von der Recherche in den Archiven, aber auch von der Rückgabe der Bilder an die indigenen Gemeinschaften.
Berlinale zeigt Dokus über Hamas-Geiseln und Gaza-Athleten
Mit einer Super 8-Kamera zeichnet die Regisseurin die Reise ins Grenzgebiet von Peru und Kolumbien auf. Durch das eigenhändige Entwickeln und Verfremden der Schwarz-Weiß-Aufnahmen gelingt es dem Filmteam, eine Brücke zwischen den alten beschädigten Archivaufnahmen und der Gegenwart zu bauen. In einer Szene werden vergrabene Filmstreifen wie Wurzeln aus der Erde gezogen, in einer anderen übermalen die indigenen Nachfahren die mitgebrachten Dokumente mit ihren Farben und Zeichen. Ergänzt werden die Bilder von Naturgeräuschen (Sounddesign: Félix Blume) und einem Off-Kommentar, der die eigene Rolle hinterfragt. Wie lassen sich koloniale Narrative dekonstruieren? Wie lässt sich die Aneignung von Geschichte und Schmerz vermeiden, die uns nicht gehören? Die Begegnung mit den Nachfahren der indigenen Überlebenden habe den Film sehr verändert, erzählt Sadowski im Filmgespräch. Vor allem eins habe sie von ihnen gelernt: Man müsse nicht alles über die Toten wissen.
Politische Geschichte aus Familienperspektive
In »Colosal« (Colossal) erkundet Regisseurin Nayibe Tavares-Abel die politische Geschichte der Dominikanischen Republik aus der subjektiven Perspektive ihrer Familie. Dabei verschränkt sie Interviews mit Familienmitgliedern und Bürger*innen auf der Straße mit umfangreichem Archivmaterial. Im Mittelpunkt steht der Wahlbetrug des Diktators Joaquín Balaguer 1990. Der Großvater von Tavares-Abel, ein bis dahin angesehener, unabhängiger Jurist, war damals Vorsitzender der Wahlkommission. Drei Jahrzehnte später dokumentiert Tavares-Abel selbst als Wahlbeobachterin die abgebrochenen Kommunalwahlen und anschließenden Proteste.
Auch die 1960er-Jahre, in denen Tausende Oppositionelle umgebracht wurden, werden in persönlichen Gesprächen am Küchentisch oder auf langen Autofahrten lebendig. Ein Großonkel der Filmemacherin wurde damals als Studentenführer ermordet. Noch heute spürt man die Angst vor Repression und die Überwindung, die es die Familienangehörigen kostet, sich den Fragen der Filmemacherin zu stellen. Trotz gelegentlicher Überfrachtung mit Fragen und Material: »Colosal« überzeugt als lebendige Geschichtsstunde mit autobiografischem und generationsübergreifendem Ansatz.

Jugendliche gegen Gewalt
»Hora do recreio« (Playtime) gibt schwarzen Jugendlichen in Brasilien eine Stimme. In Lucia Murats Dokumentarfilm berichten sie von sexuellen Übergriffen, Misshandlung in der Familie und rassistischer Diskriminierung. Gedreht wurde an vier repräsentativ ausgewählten Schulen in Rio de Janeiro; Ausgangspunkt des Filmprojekts war eine Umfrage unter Lehrer*innen an öffentlichen Schulen. Murat verknüpft die Geschichten der 14- bis 19-Jährigen mit hochklassigen Tanz- und Theaterszenen, in denen die Jugendlichen die eigenen Erlebnisse verarbeiten. So sehr die intimen Berichte der Jugendlichen auch erschüttern: »Hora do recreio« beeindruckt vor allem durch den Mut, das (Selbst-)Vertrauen und kreative Potential der beteiligten Jugendlichen. Außerdem zeigt die Dokumentation, wie engagierte Bildungsarbeit in benachteiligten Stadtteilen aussehen kann. Eine Lehrerin, die ihre eigenen Gewalterfahrungen sehr offen mit ihrer Klasse teilt, bringt es für die Jugendlichen auf den Punkt: Bildung kann helfen.
Die Jugend-Jury der Berlinale Sektion Generation lobte den Film, weil er »tief berührt und gleichzeitig eine hoffnungsvolle und inspirierende Vision für die Zukunft bietet.«
