Ein bewaffneter telefoniert - Im Sand sind menschliche Überreste schwach zu erkennen
Menschliche Überreste in Kurdistan - Genozid an den Jesid*innen | Foto: Seth Franzman | CC BY-NC-ND 2.0

Kein Weg zurück

Der Völkermord an den Jesiden hat eine neue Realität geschaffen

Zehn Jahre nach den Angriffen durch den Islamischen Staat (IS) leben die meisten Jesiden im Irak noch immer in Flüchtlingscamps. Daran hat auch die Anerkennung des Genozids durch den Deutschen Bundestag Anfang 2023 nichts geändert.

von Oliver M. Piecha

20.06.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 403
Teil des Dossiers Genozide

Spätesten seit 2017 ist das komplette Siedlungsgebiet der Jesiden um den Bergzug des Sinjar (kurdisch Shingal) vom IS befreit. Dennoch leben rund 200.000 Jesiden noch immer in Zelten, die einst als Notmaßnahme gedacht waren. Das »Kalifat« mit seiner Hauptstadt Mosul ist Geschichte, der Genozid an den Jesiden aber hat die Region dauerhaft verändert. Eine so fürchterliche wie wenig beachtete Erkenntnis: Täter, die einen Völkermord begehen, ohne dass sofort eingegriffen wird, sind in ihrer Zielsetzung bereits erfolgreich, egal, was nachher mit ihnen selbst geschieht.

Keine Sicherheit

Im Juli 2024 sollen nun nach dem Willen der irakischen Zentralregierung die verbliebenen Lager für IDPs (Binnenflüchtlinge) in der kurdischen Autonomiezone geschlossen werden sowie die anderen entsprechenden Lager im Irak bereits in den letzten Jahren. Das ist im Grunde auch keine schlechte Idee und ein wichtiger Schritt hin zu einer Normalisierung, wenn denn die Menschen nur dorthin zurückkehren könnten, von wo sie einmal fliehen mussten. Und das zu erträglichen Bedingungen, was neben einer funktionierenden Infrastruktur, vorhandenen Verdienstmöglichkeiten, geräumten Minen und reparierten Häusern vor allem eines bedeutet: Die Gewährleistung von Sicherheit. Und die ist im Sinjar für die Jesiden nach wie vor nicht gewährleistet. Ihr Siedlungsgebiet steht im strategischen Fokus diverser regionaler und überregionaler Akteure. Es ist so viel einfacher, Menschen zu vertreiben und umzubringen, als eine zerstörte Landschaft wiederaufzubauen.

Den genozidalen Erfolg des IS kann man auch an der jesidischen Migrationsgeschichte ablesen: In der Bundesrepublik leben nach dem Nordirak mittlerweile die meisten Jesiden weltweit. Diese Entwicklung hat der IS allerdings nur dramatisch beschleunigt, Jesiden werden in der Region seit langem drangsaliert und massenhaft ermordet, aus ihren Siedlungsgebieten in Syrien und der Türkei sind sie meist schon ganz verschwunden. In ihrer Überlieferung zählt die jesidische Gemeinschaft 74 Angriffe und Massaker, der Völkermord des IS steht so am bisherigen Ende einer langen, düsteren Geschichte extrem brutaler, religiös begründeter Verfolgung. Der Genozid kam nicht aus heiterem Himmel.

Die Jesiden sind eine monotheistische Religionsgemeinschaft, manche verstehen sich als Kurden, manche als eigenständige Ethnie und es gibt auch eine kleine Gruppe arabischsprachiger Jesiden. In den jeweiligen Fremd- und Selbstbestimmungen spiegeln sich auch immer Machtverhältnisse wieder. Ihr historischer Ursprung liegt im Dunkeln, es gibt Hinweise auf altiranische Elemente in ihrem Kultus und für viele Jesiden gilt ihre Religion als buchstäblich uralt. Geschichtlich fassbar werden sie erst ab dem 11./12. Jahrhundert. Im jesidischen Glauben sind diverse Einflüsse identifizierbar, vor allem die des muslimischen Sufismus. Die religiösen Überlieferungen wurden bis in die Neuzeit ausschließlich mündlich weitergetragen. Jeside wird man durch Geburt und beidseitige väterliche wie mütterliche Abstammung.

Der Genozid und seine Vorgeschichte

Anfang August 2014 griff der IS das zentrale jesidische Siedlungsgebiet rund um den Gebirgszug des Sinjar an. Gelegen im westlichen Nordirak nahe der Grenze zu Syrien bezeichnet Sinjar sowohl den Bergzug, den Distrikt und die zentrale Stadt des Gebietes. Die Islamisten töteten mindestens 5.000 vor allem männliche Jesiden und massakrierten in Orten, wo niemandem die Flucht gelang, praktisch die ganze männliche Bevölkerung. Die im Sinjar stationierten Peschmerga aus der nordirakischen kurdischen Autonomiezone zogen sich über Nacht ohne Gegenwehr zurück und überließen die Bevölkerung ihrem Schicksal. Der Großteil der Jesiden des Sinjar, zwischen 50.000 bis 100.00 Menschen, denen eine Flucht auf das Bergmassiv gelungen war, konnten sich bei einer dramatischen Rettungsaktion durch einen von PKK/YPG Kämpfern freigehaltenen Korridor nach Nordsyrien ins kurdische Gebiet retten, von wo aus sie über die Türkei in das kurdische Autonomiegebiet (KRG) des Irak gelangten.

Der Großteil dieser Menschen lebt immer noch in den Lagern für IDPs, die damals vor allem im Norden der kurdischen Autonomieregion errichtet wurden. Militärische Hilfe zur akuten Rettung der Jesiden kam nur sehr zögerlich und begrenzt in Gang, wobei mittlerweile klar ist, dass es zur Verhinderung des Schlimmsten nur minimaler militärischer Aktionen bedurft hätte. Im Nachhinein fand das Schicksal der Jesiden eine sehr große internationale Beachtung. Die Versklavung von mindestens 7.000 jesidischen Mädchen und Frauen sowie die organisierte sexualisierte Gewalt an ihnen durch die Jihadisten trug dazu bei. Bis heute werden verschleppte Frauen und Mädchen freigekauft, rund 2.700 sind noch immer vermisst.

Noch immer gelten 2.700 jesidische Mädchen und Frauen als vermisst

Die ideologisch-religiöse Begründung für die Diskriminierung und Verfolgung der Jesiden basiert darauf, dass sie aus muslimisch-orthodoxer Sicht nicht als »Buchreligion« gelten und ihnen daher immer wieder die Existenzberechtigung als religiöse Gruppe abgesprochen wurde. Hier zieht sich eine direkte Kontinuitätslinie zwischen den Massakern an Jesiden durch muslimisch-kurdische Regionalherrscher im frühen 19. Jahrhundert, den Versuchen religiöser Zwangsassimilierung im Osmanischen Reich bis hin zum Angriff des IS. Zur Vorgeschichte des Angriffs auf die Jesiden des Sinjar 2014 gehört auch ihre Drangsalierung unter der Herrschaft Saddam Husseins. Im Rahmen der Arabisierungspolitik wurden seit den 60er Jahren um die 400 Dörfer und Ansiedlungen im Sinjar zerstört, ihre Bewohner in »Modelldörfer« bzw. »collective towns« umgesiedelt, die in der leichter zu kontrollierenden Ebene rund um den Bergzug des Sinjar lagen. Eine Veränderung der Siedlungsstruktur, die dem IS wiederum seinen Genozid erst möglich machte.

Der Sinjar gehört zu den sogenannten »umstrittenen Gebieten«, die sich geographisch als Streifen entlang der innerirakischen Grenze der kurdischen Autonomiezone bis in den äußersten Nordwesten des Landes nach Shingal/Sinjar entlangziehen. Sie werden von kurdischer Seite beansprucht, unterstehen aber der Regierung in Bagdad. Die umstrittenen Gebiete zeichnen sich durch einen explosiven Mix aus und stellen ein grundlegendes Problem für die Stabilität des Irak dar. Hier treffen Minderheiten aufeinander, die religiöse oder ethnische Dominanz kann sich von Ansiedlung zu Ansiedlung ändern. In den letzten Jahrzehnten gab es zahlreiche Vertreibungen und Umsiedlungen und immer wieder wurde versucht, die Zusammensetzung der Bevölkerung gezielt zu verändern. Die Situation ist gekennzeichnet durch tendenziell schwache staatliche Instanzen und die Präsenz diverser Milizen und bewaffneter Gruppen. An der Oberfläche hat sich die Situation seit dem Sieg über den IS beruhigt, aber ein unsichtbares Netz von Gewalt liegt über dem Land.

Nachbarn als Täter

Für die Frage einer Rückkehr der Jesiden sind vor allem zwei Faktoren zentral: Der IS hat sich auch aus ortsansässigen Muslimen rekrutiert, die Täter waren manchmal Nachbarn. So liegen die Orte, in die bisher Jesiden zurückgekehrt sind, am weitesten von den arabischen Dörfern entfernt. Der Sinjar hat sich außerdem zu einem strategisch hochumstrittenen Gebiet entwickelt, nicht zuletzt durch die Anwesenheit der PKK beziehungsweise ihrer regionalen Filialgründungen. Die kurdischen Kämpfer aus Syrien haben im August 2014 die Flucht der Jesiden ermöglicht und im Sinjar gegen den IS gekämpft. Nun zieht ihre weitere Anwesenheit im Sinjargebiet die dortige Bevölkerung in den Konflikt zwischen PKK und der Türkei mit hinein. Für die Wiederherstellung einer wirklichen und nicht nur nominellen irakisch-staatlichen Souveränität über das Gebiet ist die Präsenz der PKK ein Hindernis. Auch der Iran und die teilweise mit ihm eng verbandelten irakischen »Volksmobilisierungseinheiten« (zu denen auch Milizgruppen aus dem PKK-Umfeld gehören) haben im Sinjar strategische Interessen. Solange sich die Situation in der Großregion inklusive Syriens nicht grundlegend ändert, wird das auch so bleiben. Der Genozid des IS hat im Sinjar eine Welt zerstört und das Feld für weitere machtpolitische Auseinandersetzungen eröffnet.

Jeder Genozid erschafft eine neue Realität. Wenn er geschehen ist, gibt es kein Zurück in die Vergangenheit. Die Anerkennung eines Genozids ist kein nachträgliches Prädikat für Massenmorde und sollte nicht für abgeleitete Ziele – ideologische oder historische Auseinandersetzungen – dienen. Es besteht auch die Tendenz, nun überall in der menschlichen Geschichte Genozide zu entdecken. So wird der Begriff zum Schluss inhaltsleer und sinkt ab zur rhetorischen Phrase. Gerade der Fall der Jesiden lehrt, dass der Genozidbegriff seine furchtbare Besonderheit im Hinblick auf die Zukunft und die Verhinderung weiterer Völkermorde entfaltet.

Oliver M. Piecha ist Historiker und hat für pro Asyl und WADI e.V. das Gutachten »Zehn Jahre nach dem Völkermord: Zur Lage der Jesidinnen und Jesiden im Irak« (2024) verfasst.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 403 Heft bestellen
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