»Behörden sind auf dem rechten Auge blind«
Interview mit Ferat Koçak über die »Grauen Wölfe«
Ferat Koçak aus Berlin-Neukölln ist schon lange gegen Rassismus und Faschismus aktiv. Seit 2021 ist er Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses und Sprecher der Linksfraktion für Klima, Flucht und Antifaschismus. Die iz3w sprach mit ihm über die türkischen Grauen Wölfe. Mit mehr als 18.000 Mitgliedern sind sie auch hierzulande eine der stärksten rechtsextremen Organisationen.
iz3w: Wer sind die Grauen Wölfe?
Ferat Koçak: Die Grauen Wölfe entstanden in der Türkei der 1960er-Jahre, mit der Gründung der MHP (Partei der Nationalen Bewegung). Die MHP koaliert aktuell als Juniorpartner mit der AKP als Regierungsparteien unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Die Grauen Wölfe sind die Kampfgruppe der MHP, vergleichbar mit der SA in Deutschland der 1930er-Jahre. Ihre politischen Gegner sind Linke und Menschen kurdischer, alevitischer, armenischer, griechischer, assyrischer oder jüdischer Herkunft. In der Türkei begingen die Grauen Wölfe allein zwischen 1974 und 1980 insgesamt 694 Morde.
Ihre Ideologie, der Panturkismus, basiert auf der angeblichen Einheit und Überlegenheit aller Turkvölker. Sie propagieren die Vereinigung dieser Völker in einem großtürkischen Reich unter türkischer Vorherrschaft, welches vom Balkan bis in die Mongolei reicht. Die Ursprünge reichen in die Zeit des Osmanischen Reiches zurück. Ende des 19. Jahrhunderts entstand eine nationalistische Bewegung, die Jungtürken. Sie waren am Genozid an den Armenier*innen beteiligt, auch am Massaker in Koçgiri, der Heimatstadt meiner Familie. Auf dieses gewaltvolle Erbe beziehen sich die Grauen Wölfe.
Wo fängt ihre Geschichte in Deutschland an?
Die Anwerbung von Gastarbeiter*innen in den Jahren zwischen 1960 und 1970 hat vor allem Türk*innen aus den Dörfern, aus armen Regionen sowie viele Kurd*innen und politisch Verfolgte nach Deutschland gebracht. Es war eine politisch brisante Zeit in der Türkei. 1960 und 1971 gab es zwei Militärputsche, ein weiterer sollte 1980 folgen. Viele Linke, die die Gastarbeiteranwerbung genutzt haben, um nach Deutschland zu fliehen, waren in der Türkei gewerkschaftlich organisiert und haben das auch in Deutschland getan. Der wilde Streik in den Ford-Werken in Köln 1973 war der erste größere Arbeitskampf in der BRD, der vor allem von türkischen Arbeitsmigrant*innen getragen wurde. Obwohl der Streik letztlich keinen Erfolg hatte, schuf er Solidarität innerhalb der Belegschaften und Vernetzung mit fortschrittlichen linken Initiativen.
Das gefiel vermutlich nicht allen.
»Es wurden damals gezielt Gastarbeiter*innen aus rechten Kreisen nach Deutschland angeworben«
Der Streik sorgte in der politischen Landschaft in Deutschland für Wirbel. Es gab ein Treffen des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß von der CSU mit dem Gründer und ideologischen Führer der MHP, Alparslan Türkeş, der auch ein glühender Verehrer Hitlers war. Bei dem Treffen wurde darüber beraten, wie der Einfluss der linken Migrant*innen aus der Türkei gemeinsam zu bekämpfen sei. Daraufhin wurden gezielt Gastarbeiter*innen aus rechten, oder zumindest konservativen Kreisen für die Arbeit in Deutschland angeworben. 1978 erfolgte mit der Unterstützung der CDU/CSU die Gründung der MHP-nahen Türkischen Föderation in Deutschland. Der CDU-Politiker und Türkei-Experte des BND, Hans Eckhardt Kannapin, mietete die Halle für die Gründungsversammlung der Türkischen Föderation an. So wurde das Erstarken des türkischen Nationalismus, des türkischen Faschismus in Deutschland politisch gefördert.
Was hatte das für Folgen?
Es kam vermehrt zu Gewalt auf der Straße, bis hin zu Mord. 1980 wurde der Lehrer und Gewerkschafter Celalettin Kesim in Berlin von einem Mitglied der Grauen Wölfe erstochen, 1984 wurde im Kreuzberger Frauenladen Tio die Juristin Seyran Ateş angegriffen und schwer verletzt.
Das zieht sich bis in dieses Jahrhundert und auch in andere Länder: 2013 wurden die drei kurdischen Frauenrechtlerinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez in Paris ermordet. 2015 wurde in Berlin der Infostand und auch das Büro der linken türkisch-kurdischen Partei HDP mehrfach angegriffen, auch mit Brandsätzen. Hier in Berlin spüren wir die Gefahr, aber in anderen Städten und Bundesländern ist die Gefahrenlage noch höher.
Wie organisieren sich die Grauen Wölfe?
Die Organisation ist heute auf der Basis von Vereinsstrukturen aufgebaut. Es gibt aber nicht den Verein der Grauen Wölfe. Sie sind verankert in Fußballclubs, Kampfsportvereinen, Nachhilfevereinen oder etwa Moscheen. Oft ist es nicht einfach zu erkennen. Die Vereine bekommen ganz offiziell Gelder, weil sie eine Rechtsberatung anbieten, ein Frauen- oder Bildungsverein sind. Viele Eltern schicken ihre Kinder aus kultureller Verbundenheit zu einem dieser Vereine, zum Sport oder zur Nachhilfe, weil sie denken, dass sie dort gut aufgehoben sind. Das ist gefährlich, weil vor allem junge Menschen leicht zu indoktrinieren sind.
Was macht das mit jungen Menschen?
»Ich will, dass über ein Verbot der Grauen Wölfe nicht nur diskutiert wird«
Viele der Jugendlichen, die ich hier in Berlin in den letzten Jahren auf den Straßen sehe und die den Wolfsgruß der Grauen Wölfe zeigen, haben gar kein ideologisches Hintergrundwissen dazu. Für diese Jugendlichen ist es etwas, das sie mit ihrer Identität verbinden. Sie wollen sich mit ihrer Heimat, oder der ihrer Eltern oder Großeltern, identifizieren. Viele rutschen aber in diese Strukturen rein und werden dort radikalisiert. Ich habe das selbst erlebt, als ich angefangen habe, Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Damals wurde ich auf Türkisch von einem Kommilitonen aus einem höheren Semester angesprochen. Da ich eher schüchtern war, fand ich das schön. Wir haben uns mit anderen türkischsprachigen Erstsemestern getroffen und auch über Probleme wie Rassismus geredet, und darüber, dass wir uns organisieren und zusammenhalten müssen. Als wir dann irgendwann zusammen Texte von Alparslan Türkeş gelesen haben, wurde mir klar, dass ich es mit Grauen Wölfen zu tun hatte.
In Österreich ist der Wolfsgruß, das Handzeichen der Grauen Wölfe, verboten. In Deutschland wird immer wieder über ein Verbot der ganzen Organisation gesprochen. Was denkst du darüber?
Ein Verbot der Grauen Wölfe wurde immer wieder gefordert, aber nicht umgesetzt. Zuletzt gab es im November 2024 einen Verbotsantrag im Bundestag. Angeblich ist ein Verbot nicht möglich, weil den Grauen Wölfen keine klaren Vereinsstrukturen zuzurechnen seien. Das halte ich für eine problematische Ausrede. Im Kontext des PKK-Verbots zum Beispiel werden Vereine verboten oder sind Repressionen ausgesetzt, weil ihnen Verbindungen zur PKK vorgeworfen werden. Meiner Meinung nach geht es da um politische Gegnerschaft: Bei türkischen, faschistischen Organisationen wird nichts getan aufgrund der Beziehungen zur Türkei und der Tatsache, dass aus der türkisch-stämmigen Community viele Wählerstimmen kommen, die doppelte Staatsbürgerschaft haben. Die CDU beispielsweise kriminalisiert linke, türkische Strukturen, pflegt aber Beziehungen zu konservativen und rechten Strukturen.
Neben so einem Verbot braucht es natürlich auch eine antifaschistische Organisierung, sowohl gegen deutsche Rechte als auch gegen alle anderen faschistischen, nationalistischen und rechten Strukturen. Dazu zählen für mich die Grauen Wölfe. Ich will, dass über ein Verbot der Grauen Wölfe nicht nur diskutiert wird. Wir müssen Veranstaltungen dazu machen – gemeinsam in die Mehrheitsgesellschaft rein und zusammen mit demokratischen Strukturen aus der Türkei. Wir müssen Druck auf die hiesigen Parteien ausüben und uns selbst organisieren.
Wie gefährlich ist das? Und welche Rolle spielen die Geheimdienste?
Es gibt zahlreiche oppositionelle türkische Journalist*innen, die sich verstecken müssen, weil der türkische Geheimdienst, in Zusammenarbeit mit den Grauen Wölfen, solche Menschen angreift. Der Journalist Erk Acarer etwa wurde in seiner Wohnung aufgesucht und in Anwesenheit seiner Familie krankenhausreif geschlagen, um ihm zu sagen, dass er von hier aus keine Oppositionsarbeit machen soll. Der deutsche Verfassungsschutz und auch andere Behörden befassen sich wenig mit der Thematik. Ich bin immer wieder entsetzt, dass die deutschen Behörden dazu kaum stichhaltige Auskünfte geben können. Das ist ein großes Problem, das wir als deutsche Antifaschist*innen allerdings bereits kennen: Auch über den deutschen Rechtsextremismus ist die Informationslage teilweise sehr gering. Beim Brandanschlag auf meine Familie und mich wurden die Nazis über Monate abgehört. Der Verfassungsschutz hat mitbekommen, wie sie mich verfolgt haben und dass sie zwei Wochen vor dem Anschlag sogar herausgefunden haben, wo ich wohne. Dazu gibt es Abhörbänder. Gewarnt wurde ich nicht. Vor Gericht haben meine Anwält*innen und ich dann Anträge eingereicht, weil wir wissen wollten, warum die Behörden wissen, was die Nazis vor und nach dem Anschlag gemacht haben, aber nicht, was sie währenddessen taten. Deutsche Behörden sind auf dem rechten Auge blind und auf dem rechten Ohr taub. Das gilt auch für die Grauen Wölfe.