Internationale Solidarität und die »Zärtlichkeit der Völker«
‚Das Volk‘ als Bezugspunkt von Internationalismus und Klassenpolitik
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine sowie die israelische Kriegsführung im Nahen Osten hat in der Linken wieder Diskussionen über Imperialismus, Kolonialismus und Befreiungsbewegungen aufleben lassen. Das ist zu begrüßen, stellt linke Bewegungen und Parteien aber vor Zerreißproben, da das internationale Geflecht aus Machtverhältnissen selten eindeutige Positionierungen zulässt. Nur wenige stellen sich noch einfach auf die Seite der ukrainischen Regierung und kaum jemand sieht in der Hamas wirklich eine Befreiungsbewegung. Einen Ausweg scheint die Losung der »Solidarität mit allen unterdrückten Völkern« zu bieten, die lange Zeit einen Leitstern der internationalen Solidarität darstellte. Solidarität gilt hier der einfachen Bevölkerung und traditionell insbesondere derjenigen solcher Länder, die relativ weit unten in der internationalen Machtordnung stehen.
In der letzten Ausgabe der iz3w (Sept/Okt 2024) kritisiert Thorsten Mense in seinem Artikel »Rückkehr der Völker« genau diesen Ansatz. Der Artikel diagnostiziert ein problematisches ‚Volksgemeinschaftsideal‘ in den derzeitigen anti-imperialistischen Bewegungen Deutschlands und wehrt sich gegen die Auffassung des ‚klassischen Antiimperialismus‘, der davon ausgehe, unterdrückte Völker würden von imperialistischen Mächten ausgebeutet. Die Kolonialzeit sei schließlich schon seit Jahrzehnten an ihr Ende gelangt. Dabei unterstellt der Beitrag den anti-imperialistischen Bewegungen, sie hätten eine »Vorstellung eines homogenen Volkes« und weist diese energisch zurück. Er fordert, sich mit derartiger Solidarität nicht die Hände schmutzig zu machen, denn beim Begriff ‚Volk‘ klingeln anscheinend Alarmglocken. Es lohnt sich daher auf diesen Terminus genauer einzugehen.
Schon im 20. Jahrhundert gab es in den anti-imperialen Befreiungsbewegungen eine Kontroverse zwischen sozialistisch-marxistischen und bürgerlichen Strömungen. Während letztere eine nationale und politische Befreiung forderten, strebten sozialistische Kräfte, neben der politischen Unabhängigkeit, auch soziale Veränderungen an. Bereits Ernesto Che Guevara lehnte in den 1960er Jahren eine Unabhängigkeitsbewegung unter der Führung der bürgerlichen Klasse ab. Diese würde sich nach der Vertreibung der Kolonialmacht selbst zu einer ausbeuterischen Macht entwickeln, welche die heterogenen arbeitenden Klassen beherrschte. Schon dem alten linken Anti-Imperialismus war also klar, dass es sich auch in den ehemaligen Kolonialländern nicht um »homogene Völker«, sondern um Klassengesellschaften handelt.
Dennoch spielte bei ihrer anti-imperialistischen Strategie die Kategorie des ‚Volkes‘ eine entscheidende Rolle, wie der ebenfalls von Che Guevara stammende Satz »Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker« bezeugt. Das ist kein Zufall, denn das politische Subjekt der Linken in den Ländern des globalen Südens waren nicht gewerkschaftlich organisierte Industriearbeiter*innen wie im Westen, sondern ein heterogenes Amalgam, bestehend aus Bauernfamilien auf dem Land und prekarisierten Arbeiter*innen und (informellen) Selbständigen in den Städten. Diese subalternen Klassen sind unter der politischen Identität des ‚Volkes‘ seit jeher ein zentraler, sozial und ethnisch heterogener Bezugspunkt der anti-imperialen Bewegungen.
Der Volksbegriff ist ambivalent besetzt
Innerhalb der Klassenverhältnisse kapitalistischer Gesellschaften beinhaltet ‚das Volk‘ die den herrschenden Klassen gegenüberstehenden subalternen Klassen: die Arbeiter*innen, Bäuer*innen und Selbständige. Diese soziale Heterogenität ist besonders in Ländern des globalen Südens nach wie vor von großer Bedeutung. Hier stellt das ‚Volk‘ in der Regel weniger eine ethnische Partikularität als vielmehr eine heterogene Klassenidentität dar. In Lateinamerika ist das beispielsweise unschwer erkennbar an der bei fast jedem Protestzug präsenten Losung »El pueblo unido jamás será vencido« (»Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden«). Hier ist ‚das Volk‘ (el pueblo) eine einende Klassenidentität gegenüber der herrschenden Klasse im eigenen Land. Auf keinen Fall kann man die politisch bedeutsame Klassenidentität des »pueblo« in Lateinamerika ideologiekritisch einfach als »regressiv« einordnen.
Der Volksbegriff ist allerdings ambivalent besetzt. Während Linke den Begriff des ‚Volkes‘ rund um die Welt mit Recht als Identität einer Allianz der unteren Klassen nutzen, versuchen faschistische Kräfte insbesondere in den Zentrumsländern seit jeher das Volk als ein Herrenvolk ethnisch und rassifiziert zu deuten. Damit wurde der Begriff zu einer umkämpften Identität. Die Rechte nutzt ihn als ethnisches ‚Volksgemeinschaftsideal‘ und die Linke als Klassenidentität.
Doch selbst Politiken mit ethnischen Identitäten lassen sich nicht einfach als »regressiv« einordnen. Während der Ethnonationalismus in den Industrienationen in der Regel ein rassistisches Projekt von oben war und globale Ungleichheiten absichern sollte, kämpfen beispielsweise indigene Völker im globalen Süden mit einem klaren Bezug auf ihre kulturelle Identität um ihre angestammten Territorien gegen koloniale Ungleichheiten.
Damit ist jedoch keinesfalls gesagt, dass jede subalterne ‚Identitätspolitik‘ progressiv ist und jede Gegenwehr gegen imperiale oder neokoloniale Machtverhältnisse im globalen Süden einen emanzipatorischen Akt darstellt. Allerdings folgt daraus genauso wenig, dass die Solidarität der Völker per se als »regressiv« einzuschätzen ist. Diese Solidarität muss nach wie vor die Grundlage einer internationalistischen Klassenpolitik bilden.