Erinnerung an die getöteten Journalist*innen in Gaza: Pressewesten mit Blut liegen auf dem Boden.
Erinnerung an die getöteten Journalist*innen in Gaza, Washington DC | Joe Flood CC BY-SA 2.0

»Nationale Sicher­heit ist sehr weit gefasst«

Presse­freiheit in Israel und den besetzten Gebieten

Kritischer Journalismus in Israel und Palästina ist von Restriktionen betroffen, die sich unter der rechtsradikalen Regierung von Premierminister Benjamin Netanyahu verschärft haben. Haggai Matar vom E-Zine +972 gibt einen Einblick in die Pressefreiheit in Israel und Palästina.

Das Interview führten Maus Taute und Anuk Oltersdorf

17.12.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 406
Teil des Dossiers Kritischer Journalismus

iz3w: Wie würden Sie die Pressefreiheit in Israel und den besetzten Gebieten beschreiben?

Haggai Matar: Grundsätzlich existiert Pressefreiheit in Israel mit einigen Einschränkungen, aber sie existiert. Besonders für jüdische Journalist*innen gibt es kaum Beschränkungen. Es gibt die Militärzensur, aber abgesehen davon können Journalist*innen frei arbeiten, berichten und Kritik üben. Wir beobachten jedoch eine Zunahme von Angriffen auf die Presse. Netanyahu hat es sich schon vor 2009 zur Aufgabe gemacht, die israelischen Medien zu übernehmen. Er führt eine Kampagne gegen die freie Presse und versucht durch Propagandakanäle die alten Medien zu ersetzen. Unter anderem deshalb landete er wegen Korruption vor Gericht. Die Motivation für die korrupten Vorgänge war Medienkontrolle. Aktuell diskutiert die Regierung darüber, Werbeanzeigen in der regierungskritischen Tageszeitung Haaretz zu verbieten, welche eine wesentliche Einnahmequelle darstellen.

Für palästinensische Bürger*innen Israels gab es schon immer etwas weniger Freiheiten, aber sie können weitgehend frei agieren. In der Westbank und Ostjerusalem leiden palästinensische Journalist*innen dagegen unter den schwersten Einschränkungen. Wir haben gesehen, wie Journalist*innen beschossen, geschlagen, verhaftet und im schlimmsten Fall sogar getötet wurden. Ihre Ausrüstung wurde konfisziert und sie wurden für sehr lange Zeit festgenommen, teilweise ohne Prozess. Medienhäuser können mit militärischen Anordnungen leicht geschlossen werden. Außerdem sind die Journalist*innen hier auch der Diskriminierung durch die Palästinensischen Autonomiebehörde ausgesetzt.

Journalist*innen in Gaza müssen mit der Repression durch die Hamas umgehen. Das ist eine große Herausforderung. Wir wissen, dass die Hamas in Gaza Menschen bedroht. Bisher wurden zwar keine Journalist*innen, die für uns arbeiten, angegriffen, aber es kann sein, dass sie bedroht wurden. Kritik an der Hamas wurde von unseren Journalist*innen zumeist nur geäußert, wenn diese Gaza bereits verlassen hatten. Seit dem Krieg in Gaza hat sich die Situation für Journalist*innen dort drastisch verschlechtert. Mindestens 120, laut manchen Zählungen sogar 160, Journalist*innen wurden seit Beginn des Krieges getötet. Es ist der tödlichste Konflikt für Journalist*innen weltweit in den letzten Jahrzehnten.

 

Was ist die Militärzensur und wie beeinflusst sie Ihre journalistische Arbeit?

Grundsätzlich muss alles, was irgendwie mit nationaler Sicherheit zu tun hat, vor der Veröffentlichung dem militärischen Zensor vorgelegt werden, einer Einheit des Nachrichtendiensts der Armee. Dabei ist die Definition von nationaler Sicherheit sehr weit gefasst. Mit der Zeit lernt man, was dieser Stelle wichtig ist und was sie genehmigen wird. Es liegt in der Verantwortung der Redakteur*innen, zu identifizieren, was dem Zensor vorgelegt werden muss. Der Zensor kann einen Text dann entweder genehmigen, bestimmte Teile kürzen oder alles verbieten. Das ist etwas, womit wir uns insbesondere im letzten Jahr auseinandersetzen mussten.

In Kriegszeiten gibt es immer eine Zunahme der Zensur. Im vergangenen Jahr haben wir Recherchen über die Arbeit der israelischen Geheimdienste in Gaza veröffentlicht. Dabei mussten wir uns mit dem Zensor auseinandersetzen. Dieser versucht zwar so liberal wie möglich zu sein, aber es ist eine furchtbare Institution, die in einem Land, das behauptet, demokratisch zu sein, nicht existieren sollte. Diese Stelle verbietet eine Berichterstattung jedoch nicht, nur weil sie kritisch gegenüber der Regierung ist oder weil sie Israels Vorgehen gegen die Palästinenser*innen aufdeckt.

Das größere Problem ist, dass die meisten Journalist*innen sich gegen eine differenzierte und kritische Berichterstattung entscheiden. Besonders während des Krieges hat die Mehrheit der israelischen Medien den Tod und die Zerstörung in Gaza ausgespart. Sie zeigen nicht, was die Palästinenser*innen dort durchmachen. Das ist eine bewusste Entscheidung. Wir hingegen zeigen das Leid der Palästinenser*innen. Die linksliberale Haaretz hat in den ersten Monaten vergessen, dass sie es auch zeigen sollte, dann aber aufgeholt. Die übrigen israelischen Medien tun das nicht – und das liegt nicht an der Zensur, sondern an ihren eigenen Prioritäten.

 

Immer wieder hört man Journalist*innen seien in »Administrativhaft«. Was bedeutet das?

Administrativhaft ist ein Überbleibsel aus der britischen Mandatszeit. Es handelt sich um eine Art Notstandsregelung. Sie erlaubt es dem Militär, jemanden ohne Gerichtsverfahren zu verhaften, wenn die Person eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstelle. Es braucht dazu keinen Gesetzesverstoß. Es reicht zu sagen, dass eine Bedrohung besteht. Das führt dazu, dass Menschen sehr lange Zeit im Gefängnis sitzen, ohne zu wissen, warum. Diese Haftbefehle sind auf sechs Monate begrenzt und können unbegrenzt verlängert werden. Es gibt Fälle, in denen Menschen 12 Jahre im Gefängnis verbracht haben.

Dieses Instrument kann prinzipiell gegen jeden eingesetzt werden. Innerhalb Israels wird es selten angewendet. Im Westjordanland ist es verbreitet und wird es fast ausschließlich gegen Palästinenser*innen verwendet. Derzeit sind etwa 2.400 Menschen in Administrativhaft. Normalerweise liegt die Zahl zwischen einigen Hundert und Tausend, aber seit dem Krieg ist sie stark angestiegen. Darunter befinden sich auch Journalist*innen, obwohl ich die genaue Zahl nicht kenne. Vor ein paar Jahren haben wir eine Untersuchung über die Verhaftung von Journalist*innen im Westjordanland durchgeführt. In allen Fällen wurden sie wegen ihrer journalistischen Arbeit verhaftet. Jedoch will die israelische Regierung nicht den Eindruck erwecken, dass Pressearbeit behindert wird. Stattdessen erfolgt Administrativhaft, wo keine Begründung erforderlich ist, oder die Betreffenden werden wegen anderer Vorwürfe angeklagt. So wird die Missachtung der Pressefreiheit verschleiert. Man kann gegen die Administrativhaft zwar Berufung einlegen, doch es gibt keine spezifischen Gesetze zur Pressefreiheit, auf die man sich berufen könnte. In Israel nicht und erst recht nicht im Westjordanland, wo für Palästinenser*innen das Militärrecht gilt.

 

Gibt es Fälle, in denen die Berichterstattung von der Regierung beeinflusst wurde?

Ein Beispiel ist, dass Israel den Zugang zu Gaza für ausländische Journalist*innen reglementiert. Seit dort Krieg ist wurde niemand hineingelassen, es sei denn die Person lässt sich vom israelischen Militär eskortieren. Journalist*innen haben versucht, hineinzugelangen und zweimal vor dem Obersten Gerichtshof Klage eingereicht. Die erste wurde abgelehnt.

So kann die Regierung bequem darauf verweisen, dass Journalist*innen, die aus Gaza berichten, nicht vertrauenswürdig seien, da es sich um von der Hamas unterdrückte Palästinenser*innen handele. Neben der Berichterstattung durch das israelische Militär und der Hamas sind aber diese Journalist*innen vor Ort die einzigen Quellen zum Geschehen. So kann man natürlich nicht überprüfen, was dort passiert. Das ist die Strategie der israelischen Regierung. Ein weiterer Grund ausländische Journalist*innen nicht nach Gaza zu lassen, ist, dass so viele Journalist*innen dort getötet wurden. Wenn es sich um ausländische Journalist*innen handelte, würde das viel mehr Druck auf Israel ausüben, den Krieg zu stoppen. Bei getöteten palästinensischen Journalist*innen ist das nicht der Fall.

 

Gibt es Bestrebungen der Regierung um die Pressefreiheit einzuschränken?

Ein Beispiel dafür ist das jüngste Verbot des Senders Al Jazeera. Al Jazeera ist ein schwieriger Fall, da sie einerseits wichtige Arbeit leisten und andererseits ganz klar Propaganda verbreiten. Doch ein Verbot setzt einen gefährlichen Präzedenzfall. Es eröffnet die Möglichkeit, auch andere ausländische und, wenn das Gesetz geändert wird, sogar israelische Medien zu verbieten.

Das Gesetz hindert Al Jazeera jedoch nicht daran zu berichten. Wer online geht, kann die Website weiterhin finden. Es ist ein symbolisches, aber gefährliches Gesetz. Es hat dazu geführt, dass Al Jazeera-Journalist*innen verhaftet und ihre Ausrüstung beschlagnahmt wurden. Hauptsächlich wird verhindert, dass Al Jazeera aus Israel selbst berichtet. Allerdings hat Israel kürzlich Büros von Al Jazeera im Westjordanland durchsucht und versucht auch dort, die Arbeit des Senders einzuschränken.

Haggai Matar ist Geschäftsführer des Magazins +972 und lebt in Tel Aviv. Seit 15 Jahren ist er Journalist, seit 25 Jahren politischer Aktivist. +972 ist eine Plattform von palästinensischen und israelischen Journalist*innen, die nach dem Gazakrieg 2009 gegründet wurde. Das Interview führten und übersetzten Maus Taute und Anuk Oltersdorf.

Maus Taute und Anuk Oltersdorf arbeiten im iz3w.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 406 Heft bestellen
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