Brasilianische Soldaten in der Toskana
Brasilianische Soldaten in der Toskana | Foto: Sammlung Casa Brasile in Toscana

»Ihre Geschichte drohte zu ver­schwinden«

Interview über die brasilian­ischen Befreier der Toskana

Luis De Oliveira stammt aus einer Familie von italienischen und portugiesischen Migrant*innen in Brasilien. Er arbeitete als Fotograf, Programmierer und Journalist und kam im Jahr 2006 erstmals nach Europa. Dort musste er feststellen, dass fast niemand etwas über die brasilianischen Soldaten wusste, die im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Alliierten in Italien gekämpft hatten. 2008 gründete er eine Zeitung für brasilianische Migrant*innen in Italien und begann mit Recherchen über »die brasilianischen Befreier der Toskana«. Die Ergebnisse präsentiert er seit 2016 in einem kleinen, privaten Museum, der »Casa Brasile«, in Barga, einem Bergstädtchen im Apennin.

von Karl Rössel

12.02.2025
Veröffentlicht im iz3w-Heft 407
Teil des Dossiers Vergessene Befreier

iz3w: Wo und wann hast Du zum ersten Mal erfahren, dass 25.000 brasilianische Soldaten 1944 in Italien gegen die deutsche Wehrmacht gekämpft haben?

Luis De Oliveira: Als ich noch ein Junge war, hörte ich erstmals von meinem Vater davon. Er war ein Kriegsgegner und entzog sich dem Militärdienst, indem er seine Heimatstadt verließ und bis Kriegsende in São Paulo untertauchte.

Wie wurde der Kriegseintritt in Brasilien aufgenommen?

Die Leute reagierten mit gemischten Gefühlen auf die Entsendung brasilianischer Truppen nach Europa. Das lag zum einen daran, dass Ende der 1930er-Jahre schätzungsweise drei Millionen deutsche und italienische Einwanderer*innen in Brasilien lebten, von denen viele mit den Nazis und Mussolini sympathisierten. Im Bundesstaat Santa Catarina machte die deutsche Kolonie sogar ein Viertel der Bevölkerung aus. Viele der Einwanderer*innen waren politisch und kulturell sehr aktiv. Im Süden Brasiliens gab es über Tausend deutsche Schulen, die vom NS-Regime finanziert und in denen in deutscher Sprache unterrichtet wurde. Die brasilianische Nazipartei war mit ihren etwa 3.000 Mitgliedern eine der größten NS-Auslands-Organisationen weltweit.

»Brasilianische Soldaten teilten ihr Essen mit der italien­ischen Be­völkerung«

Ein weiterer Grund für die Zurückhaltung bei der Entsendung brasilianischer Soldaten nach Europa war, dass Brasilien bei einem riesigen Territorium nur über eine sehr kleine Armee verfügte – und das in einer Zeit, in der überall auf der Welt die Spannungen zunahmen, auch in Südamerika. Argentinien zum Beispiel ist viel kleiner, hatte aber eine viel größere Armee. Und es kursierten damals Gerüchte, dass der argentinische Präsident Juan Perón, der mit dem Faschismus sympathisierte, die italienischen und deutschen Einwanderer*innen in Brasilien mobilisieren wollte, um deren Provinzen in Südbrasilien abzuspalten und unter argentinische Kontrolle zu bringen.

Während des Zweiten Weltkriegs wurde Brasilien von Gétulio Vargas regiert, dessen autoritärer »Estado Novo« selbst faschistische Züge trug und der enge Geschäftsbeziehungen zum Nazi-Regime unterhielt. Es war daher nicht absehbar, dass Brasilien auf Seiten der Alliierten in den Krieg ziehen würde. Wie kam es 1944 dazu?

Deutschland und Italien waren aufgrund der Einwanderer*innen nicht nur kulturell sehr präsent, sondern kontrollierten auch viele Unternehmen in Brasilien. Nach 1933 wurde Deutschland zum wichtigsten Handelspartner Brasiliens. In der Regierung von Vargas gab es die sogenannten »Germanophilen«, die für eine enge Kooperation mit dem NS-Regime eintraten. Der brasilianische Verteidigungsminister, General Eurico Gaspar Duta, war ein Nazi-Sympathisant, der Polizeichef Filinto Müller kooperierte mit der Gestapo und der Oberkommandant der brasilianischen Armee, General Góes Monteiro, plante gemeinsame Manöver mit der Deutschen Wehrmacht.

Die USA und das Vereinigte Königreich waren in den 1930er-Jahren in Brasilien dagegen weniger präsent. Die USA warben deshalb mit »Botschaftern« wie Orson Welles und Walt Disney um Sympathien bei den Brasilianer*innen und boten dem Land langfristige Investitionen an. Aber letztlich entscheidend war die mächtige Militärindustrie der USA, die ihre Zähne zeigte, um die brasilianische Regierung dazu zu bewegen, ihre Neutralität im Zweiten Weltkrieg aufzugeben und sich den Alliierten anzuschließen. Die Atlantikküste im Osten Brasiliens war für die US-amerikanische Kriegsführung von entscheidender Bedeutung, denn von dort gab es die kürzeste und sicherste Schiffsverbindung nach Nordafrika. Die USA forderten deshalb Militärbasen an der Küste Brasiliens und es gab schon Pläne, mit US-Truppen in die Region einzumarschieren, sollte sich die brasilianische Regierung nicht überzeugen lassen. Da Hitlers U-Boote den Nordatlantik kontrollierten, verschifften die USA ihre Truppen für die Landemanöver in Südeuropa und Frankreich über Brasilien und Nordafrika nach Europa.

Deine Großeltern sind von Italien nach Brasilien ausgewandert. Du bist den umgekehrten Weg gegangen und lebst nun seit fast zwei Jahrzehnten in dem Bergstädtchen Barga im Norden der Toskana. Unweit von Barga verlief 1944 die »Gotenlinie«, eine der letzten Stellungen der Deutschen Wehrmacht in Norditalien. Die brasilianischen Soldaten leisteten einen wichtigen Beitrag, diese zu durchbrechen und die Stadt zu befreien. Was wusste man in Barga darüber, als Du hier ankamst?

Bei meinen Recherchen über die brasilianischen Truppen, die im Apennin gekämpft hatten, traf ich 2013 einen italienischen Militärhistoriker und einen hohen Offizier der italienischen Armee, der aus dieser Berggegend stammte. Sein Vater hatte im Zweiten Weltkrieg Kontakte zwischen den Partisanen und den alliierten Streitkräften vermittelt. Ich wurde eingeladen, an einer Gedenkfeier teilzunehmen und war zunächst beeindruckt von der Bereitschaft der Einwohner*innen von Barga, sich mit der Kriegsgeschichte auseinanderzusetzen. Aber dann musste ich feststellen, dass sie alle behaupteten, ihr Tal sei »von Schwarzen US-amerikanischen Soldaten« befreit worden, was nicht der Wahrheit entsprach. Sie reagierten sogar einigermaßen empört, als ich ihnen erklärte, dass Barga von brasilianischen Soldaten befreit wurde. Danach war mir klar, dass die historische Wahrheit zu verschwinden drohte und dass ich dazu beitragen musste, dies zu verhindern.

Du hast die italienischen Partisanen erwähnt, die auch in den Apuanischen Alpen im Norden der Toskana operierten. Wie waren die Beziehungen der brasilianischen Truppen zu ihnen?

Die brasilianischen Soldaten arbeiteten mit den Partisanen sehr gut zusammen, besser als die Engländer oder Nordamerikaner. Ein Grund dafür war, dass ihre Sprachen, das Portugiesische und das Italienische, miteinander verwandt waren und dass beide Seiten – anders als die anglophonen Soldaten – katholisch waren. Außerdem teilten die brasilianischen Soldaten ihr Essen mit der hungernden italienischen Bevölkerung in der Bergregion, nachdem Mussolinis Faschisten und die deutschen Nazis ihnen die Ernten gestohlen hatten. Daran erinnern sich viele noch heute.

Inzwischen gibt es in zahlreichen Städten und Dörfern Norditaliens Denkmäler für die brasilianischen Befreier. Auf dem großen brasilianischen Soldatenfriedhof in Pistoia finden regelmäßig Gedenkveranstaltungen statt, und Museen in der Region – zum Beispiel in Iola, Montese und Livergnano sowie in dem von Dir eingerichteten in Barga – informieren über die Operationen und die 450 Gefallenen der Força Expedicionária Brasileira. Wie kam es zu der breiten Wahrnehmung dieses lange ignorierten Kapitels der Kriegsgeschichte?

Das ist einer Handvoll Menschen zu verdanken, die diese Geschichte vor dem Vergessen bewahrten. Dazu gehörte zum Beispiel der brasilianische Sergeant Miguel Pereira, der nach dem Krieg in Italien blieb und sich um den brasilianischen Soldatenfriedhof in Pistoia kümmerte. Später übernahm sein Sohn Mario diese Aufgabe. Hilfreich war auch, dass einige brasilianische Soldaten ihre Erinnerungen an den Krieg aufgezeichnet und veröffentlicht haben. Darauf konnte ich bei der Produktion einer Videodokumentation und eines Buchs zurückgreifen, die ich in italienischer Sprache über die Einsätze des brasilianischen Expeditionscorps im nordtoskanischen Serchio-Tal publizierte. Das Buch ist inzwischen leider vergriffen.

Du planst, für den Ruhestand nach Brasilien zurückzukehren. Was wird aus den Dokumenten, Fotos, Erinnerungsstücken und Informationen, die Du über die brasilianischen Befreier der Toskana gesammelt hast?

Ich möchte die Winter nicht länger in Barga verbringen. Es ist einfach zu kalt hier und die Strom-und Gasrechnungen sind zu teuer. Ich hoffe sehr, mein Buch über Brasilien im Zweiten Weltkrieg noch einmal in einer erweiterten Fassung herausgeben zu können und dies nicht nur in Italienisch, sondern auch in Englisch, Portugiesisch und Deutsch. Es geht darum, eine Lücke in der Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkriegs zu schließen. Was die Dokumente und Memorabilien angeht, die ich gesammelt habe, so gibt es zwei Museen in der Region, die sie gerne übernehmen wollen, eines in Borgo a Mozzano und das andere in Brancoli.

Das Interview führte Karl Rössel

Luis de Oliveira wird am 4. April in Köln, am 7. April in Hamm und am 8. April in Freiburg über »die brasilianischen Befreier der Toskana« informieren.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 407 Heft bestellen
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