Die kolumbianische Journalistin und Feministin Jineth Bedoya vor einem Mikrophon.
Die kolumbianische Journalistin Jineth Bedoya kämpfte 24 Jahre für Gerechtigkeit. Im Jahr 2000 war sie von Paramilitärs entführt und vergewaltigt worden | Foto: stephan-roehl.de CC BY-SA 2.0

»Das Problem liegt tiefer«

Interview über Gewalt gegen Journalist­innen in Kolumbien

Journalismus deckt gesellschaftliche Missstände auf. Aber wie es um Journalist*innen selbst steht, bleibt oft unterbelichtet. Das trifft insbesondere auf die Situation von Frauen zu. Über die Herausforderungen von Journalistinnen in Kolumbien und Lateinamerika sprach die iz3w mit Fabiola Calvo. Die Journalistin ist Teil des Red Columbiano de Periodistas con Visión de Género (Kolumbianisches Journalist*innennetzwerk mit Gender-Perspektive).

Das Interview führte Anni Eble

16.12.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 406
Teil des Dossiers Kritischer Journalismus

iz3w: Wie ist es, als Journalistin in Kolumbien tätig zu sein?

Fabiola Calvo: Für die Situation von Journalistinnen muss berücksichtigt werden, dass die kolumbianische Gesellschaft und ihre politischen Institutionen zutiefst patriarchal geprägt sind. Die Berufswelt des Journalismus stellt da keine Ausnahme dar. In den Redaktionen und bei der Berichterstattung zeigen sich unterschiedliche Ausdrucksformen von Gewalt gegen Frauen: psychisch, sexuell, physisch und digital. In einer Untersuchung, die wir zusammen mit der Fondación Karisma durchgeführt haben, wurden 470 Journalistinnen befragt: 73,4 Prozent gaben an, dass sie Opfer psychischer Gewalt wurden. 51 Prozent gaben an, dass sie sexualisierte Kommentare oder Andeutungen von Seiten ihrer Kollegen, ihrer Chefs oder bei ihren Recherchen vor Ort erfahren haben. Und 67,1 Prozent von ihnen gaben an, dass sie bereits körperlich sexuell belästigt wurden.

Einerseits befinden sich die Täter also in den Redaktionen. Aber auch im öffentlichen Raum widerfährt Journalistinnen Gewalt: etwa vonseiten der Polizei bei der Berichterstattung über Demonstrationen. Auch im Kontakt mit Quellen kann es zu übergriffigen Situationen kommen, etwa, wenn abgelegene Treffpunkte gewählt werden.

»In Latein­amerika gibt es eine Menge Straf­losigkeit«

Die Zahlen geben bereits einen Hinweis darauf, wie es ist, als Frau in diesem Beruf zu arbeiten. Ein großes Problem dabei ist, dass die Gewalt relativiert und dann nicht als solche erkannt wird. Und selbst wenn, wollen viele Journalistinnen keine Anzeige erstatten. Dahinter steht zum Beispiel die Angst, den Job zu verlieren. Und zum anderen besteht großes Misstrauen gegenüber den Institutionen. Ein dritter Aspekt ist, dass es an Wissen mangelt, wie man in einem solchen Fall genau vorgeht.

Wie unterscheidet sich die Situation vom übrigen Lateinamerika?

Die Situation ist dort allgemein vergleichbar. Für den kolumbianischen Kontext ist spezifisch, dass seit langem ein bewaffneter Konflikt besteht. Es gibt viele bewaffnete Akteure und auch der Staat ist in den Paramilitarismus und Drogenhandel verwickelt, was die Berichterstattung gefährlich machen kann.

In anderen Ländern wie Nicaragua oder Guatemala hat sich die Situation von Journalist*innen durch die Wirtschaftskrisen und die autoritären Regierungen deutlich verschlimmert. Dort gab es ebenfalls feministische Journalismusnetzwerke wie unseres. Heute gibt es keine mehr.

Welche Funktion hat Ihr Netzwerk?

Wir prangern Missstände an, während die kolumbianische Stiftung für Pressefreiheit die rechtliche Situation bearbeitet. Wir unterstützen die Sichtbarkeit von Frauen in den Medien aus einer feministischen Perspektive. Dazu gehört es, die Gewalterfahrungen unserer Kolleginnen öffentlich zu machen. Das tun wir auch auf internationaler Ebene, im Red Internacional de Periodistas con Visión de Género. Mit diesem journalistischen Netzwerk sind wir in 35 Ländern aktiv.

Dazu machen wir Bildungsarbeit. Mit Workshops, Konferenzen und Publikationen vermitteln wir Tipps für eine geschlechtergerechte Berichterstattung und eine inklusive Sprache. Wir wollen die Redaktionen und journalistischen Plattformen erreichen und sie für geschlechtergerechte Berichterstattung und für die Situation von Journalistinnen selbst sensibilisieren.

Richtet sich Ihr Bildungsangebot auch an männliche Journalisten?

Ja. Und dabei lässt sich sehr anschaulich beobachten, wie Gewalt im Arbeitsalltag normalisiert wird. In einem Workshop mit einem Medienunternehmen über die verschiedenen Formen der Gewalt, welche Journalistinnen am Arbeitsplatz widerfahren, sagte ein Fernsehjournalist: »Aber ich habe doch all die negativen Dinge getan, die Sie gesagt haben. Dann sagen Sie mir, wie ich es anders machen kann.« Nun. Er hat immerhin erkannt, dass er falsch gehandelt hat. Das hat mir bestätigt, dass soziales Bewusstsein von außen angestoßen werden kann. Ein anderer Teilnehmer fragte vorwurfsvoll: »Warum hat uns nie jemand davon erzählt?« Es gibt diese enorme Unsichtbarkeit der Gewalt. Man muss auch die männlichen Kollegen erreichen, um sie zu sensibilisieren.

Wie hat sich die Situation für Journalistinnen in den letzten Jahren verändert?

Es gibt eine immer größere Arbeitsplatzunsicherheit. Ich denke, das ist weltweit der Fall. In Lateinamerika und Kolumbien ist sie sehr ausgeprägt. Viele Journalist*innen sind frei für Medienunternehmen tätig. Sie erhalten ein Honorar, aber keine Sozialleistungen und keinen Arbeitsschutz. Die Unsicherheit trifft Frauen aber härter, denn sie werden für die gleiche Arbeit schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen.

»Ihr Recht auf freie Meinungs­äußerung wird unter­graben«

Dennoch arbeiten immer mehr Frauen in den Medien. Das wird als Zeichen der Gleichstellung gewertet. Meine Frage ist aber, unter welchen Bedingungen? Sicher, die Möglichkeiten des Berufseinstiegs werden besser. Aber die Bedingungen bleiben prekär. Und der Anteil von Frauen in Entscheidungspositionen ist sehr gering.

Es wurden einige Gesetze für die Verbesserung der Situation von Journalistinnen verabschiedet. Zuletzt wurde ein Fonds zu Prävention, Schutz und Unterstützung für gewaltbetroffene Journalistinnen veranlasst. Was bewirken solche Gesetze?

Die vergangenen Gesetze haben nichts an der Gewalt gegen Journalistinnen geändert, denn es hapert bei der Umsetzung. Nach einem Urteil des Verfassungsgerichts im Juni 2021 sind zum Beispiel alle Medien dazu verpflichtet, geschlechtsspezifische Gewalt zu verhindern und zu bestrafen. Bei Übergriffen sind sie an ein vom Gericht vorgegebenes Protokoll gebunden. Aber welche Medien halten sich daran? Wer überprüft das? Da bleiben viele Fragen offen.

Das Gesetz zur Schaffung des Fonds »No es hora de callar« (Jetzt ist nicht die Zeit zu schweigen) ist eine Folge des Gerichtsurteils des Interamerikanischen Gerichtshofs, das den Staat verpflichtet, die Situation von Journalistinnen zu verbessern. Das ist ein großer Schritt nach vorn, weil ein solches Urteil weltweit einmalig ist. Die Anwendung aber wird davon abhängen, ob wir als Zivilgesellschaft genügend Druck ausüben können, um diese Entscheidung umzusetzen.

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Das Urteil des Interamerikanischen Gerichtshof geht auf den Fall von Jineth Bedoya zurück. Die Journalistin wurde im Jahr 2000 bei einem Interview mit einer bewaffneten Gruppe entführt und vergewaltigt. Nach 24 Jahren erlangte sie Gerechtigkeit. Was hat dieser Fall bewirkt?

Jineth hat ungeheuren Mut bewiesen. Und ich glaube, dass der Erfolg auch auf die Arbeit der feministischen Bewegung in Kolumbien zurückzuführen ist. Wir haben den Fall von Jineth gepusht. Er hat gezeigt, dass unsere Anstrengungen etwas bewirken. Aber eine Organisation allein kann wenig schaffen. Wir müssen die Stimmen der Journalistinnen, die Stimmen der großen und kleinen Medien zusammenbringen.

Würden Sie sagen, dass der Fall von Jineth anderen Journalistinnen Mut macht, obwohl es ganze 24 Jahre gedauert hat, bis ein Gericht den Fall verurteilt hat?

Das würde ich sagen, denn in Lateinamerika und in Kolumbien gibt es eine Menge Straflosigkeit. Und zwar so viel Straflosigkeit, dass Jineth sogar Kolumbien verlassen und den Fall vor den Interamerikanischen Gerichtshof bringen musste. Das ist der Grund, warum Journalistinnen Gewalttaten nicht anzeigen: Sie vertrauen den staatlichen Institutionen nicht. Jineth erreichte in Kolumbien auch deshalb kein Urteil, weil der Paramilitarismus im Spiel war. Es ist kein Geheimnis, dass die kolumbianischen Institutionen damit verflochten sind.

Jineths Fall wird oft als extreme Ausnahme dargestellt. In einer Recherche, die ich mit Journalist*innen aus verschiedenen Regionen über den bewaffneten Konflikt und die Arbeit von Journalist*innen durchgeführt habe, erfuhr ich allerdings von einigen Fällen der Vergewaltigung, extremen Drohungen und Entführungen. Aber die Betroffenen wollten nicht, dass ihre Namen bekannt werden und sie wollten die Taten nicht anzeigen. Was haben sie stattdessen getan? Sie haben den Beruf verlassen. Das Problem liegt viel tiefer, als wir es in Prozenten ausdrücken können. Es gibt eine enorme Dunkelziffer, gerade in den Regionen, in denen bewaffnete Gruppen herrschen.

Wenn Journalistinnen aufgrund der strukturellen Gewalt ihren Beruf aufgeben müssen, welche gesellschaftlichen Konsequenzen hat das?

Abgesehen von den persönlichen Konsequenzen wie Selbstzensur und emotionalen Belastungen, gehen ihre Stimmen und Perspektiven verloren. Ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wird untergraben. Wir verlieren an Pluralität im medialen Diskurs. Das beeinträchtigt die Demokratie. Und die Gesellschaft verliert die Möglichkeit, aus einer bestimmten Perspektive, etwa einer feministischen, über bestimmte Fakten (wie etwa Gewalt gegen Journalistinnen) informiert zu werden.

Anni Eble arbeitet im iz3w.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 406 Heft bestellen
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