»Beharr­lich weiter organi­sieren«

Editorial

Wo man in dieser Welt auch hinsieht ist der Lebensunterhalt an die Arbeit geknüpft. Und es ist in der Tendenz so, dass die Arbeit die einen reich macht und die anderen arm. Ausbeutung und die Existenz von Klassen sind keine Ausnahmen oder gar eine Dysfunktion des kapitalistischen Wirtschaftens. Sie sind seine Essenz.

Es heißt, dass die sozialen Schichten heute durchlässig seien. Nun, da gibt es Ausnahme und Regel. Die Ausnahme ist das berühmte »Vom Tellerwäscher zum Millionär«. Zum Regelfall ist gerade ein Buch erschienen: »Vom Tellerwäscher zum Tellerwäscher«. Täglich reproduziert sich millionenfach die Armut und zugleich das kapitalistische System, in dem noch im entlegensten Winkel in der ,Vierten Welt‘ jemand loszieht und Wertmüll einsammelt, um ihn wieder zu verkaufen. Die betreffende Person sichert sich (hoffentlich) das Überleben und sie reproduziert mit ihrer Arbeit die eigene Armut und die Klassengesellschaft.

Die Vor­stellung vom Proletarier blieb geprägt durch die Attribute männ­lich, weiß und mit einem von hand­werklicher Arbeit gestähltem Körper

Wir haben es in jedem Heft mit diesem Faktum zu tun und fragen uns: Klasse – was ist das? Die Vorstellung ist vor allem geprägt vom, im Zuge der Industrialisierung entstandenen, Proletariat und der Hoffnung auf das Entstehen einer weltweiten, revolutionären Arbeiter(*innen)klasse. Diese kämpft um die Aneignung der Produktionsmittel – allerdings, um das Ausbeutungsverhältnis aufzuheben und eben nicht mehr als Abhängige die Arbeitskraft zu Markte tragen zu müssen.

Global gesehen setzten sich diese organisierten industriellen Arbeitsverhältnisse jedoch nicht flächendeckend durch. Vielmehr dominieren bis heute informelle Arbeitsverhältnisse und nehmen auch in den Metropolen an Bedeutung zu. Trotzdem fanden sozialistische Ideen von der klassenlosen Gesellschaft auch im Globalen Süden großen Anklang. Die Vorstellung vom Proletarier blieb derweil dominant geprägt durch die Attribute männlich, weiß und mit einem von handwerklicher Arbeit gestähltem Körper. Dieses ikonografische Bild wurde zu einer historischen Kraft, zum Objekt revolutionärer Theorien, zur Zielgruppe der Mobilisierung linker, sozialistischer, kommunistischer und anarchistischer Bewegungen.

Diesen »Helden der Arbeit« kann man heute noch auf antiquierten Denkmälern bestaunen. Sie symbolisieren den ersten Backlash der Klassengesellschaft, in dem sich wie etwa in der Volksrepublik China die Klassengesellschaft nicht abgeschafft hat, sondern die Parteidiktatur die arbeitende Klasse herumkommandiert. Dem bleibt, wie es im abschließenden Interview dieses Dossiers hervorgehoben wird, eine radikale Analyse der Kapitalverhältnisse entgegenzusetzen. Bezüglich der Klassenverhältnisse hieße dies, erst einmal zu realisieren, dass jenseits der Industrie und Landwirtschaft in allen Beschäftigungssektoren, etwa im Dienstleistungssektor, in Bildung und Pädagogik, in der Pflege oder der Verwaltung – pink und white collar workers unterwegs sind. Ebenso im informellen Sektor, in der Selbstständigkeit oder bei Tagelöhner*innen.

Spätestens seit dem Postfordismus mit seiner neoliberalen Ideologie und Politik, lässt sich keine vereinigte revolutionäre Arbeiter*innenklasse ausmachen. Aber die Klassengesellschaft gibt es dennoch. Das schauen wir uns in den ersten Artikeln dieses Dossiers an. Ob man es mag oder nicht: Die Bilder werden vielfältiger, die Positionierung und Identifikation der Arbeiter*innen ebenfalls, das Klassenbewusstsein ist oft unklar und lässt sich nicht an der gewerkschaftlichen Organisierung ablesen. Verlust- und Abstiegsängste fördern die zunehmend rechte, rassistische, chauvinistische Positionierung von (vor allem) Lohnabhängigen. Und Klassenfragen werden – ebenfalls ein globales Phänomen – vielerorts von Diskursen und Identitätspolitiken um Volk und Nation überschrieben.

Wie stellt sich die Klassengesellschaft in den unterschiedlichen Weltregionen dar? Wir schauen vergleichend nach Italien, das nach dem Zweiten Weltkrieg eine intensive Zeit von Klassenkämpfen durchlebte; und nach Osteuropa, das in einer tiefen Transformationskrise nach dem Zusammenbruch seines vorgeblichen Sozialismus steckt (Kultur­kampf statt Klassen­kampf). Wir blicken nach Indien, wo sich ganz unten die Klassengesellschaft mit dem Kastensystem verschränkt (Die Kaste in der Klasse). In Argentinien sehen wir, wie in der Wirtschaftskrise eine neoliberale »Schocktherapie« die Klassengesellschaft deutlich herausschält (Klassen­kampf gegen Ketten­säge). Am Beispiel Somalia betrachten wir Klassenaspekte von Flucht und Migration (Status­paradox). Und am Beispiel von Arbeitskämpfen in der Volksrepublik China fragen wir schließlich, wie sich die chinesische Klassengesellschaft und die Arbeitskämpfe darstellen (»Partei und Bürokratie bilden eine Klasse«).

Es zeigt sich, dass die Klassengesellschaft zwar überall fest etabliert, aber ebenso umkämpft ist. Und sein muss! Der Artikel zur »Schocktherapie« in Argentinien bringt es schnörkellos auf den Punkt: »Die konsequente Klassenposition scheint das beste Mittel zu sein, um Präsident Mileis libertären Märchen zu begegnen: nichts unwidersprochen lassen, nichts kampflos aufgeben, sich nicht verstreuen lassen, sich beharrlich weiter von unten selbst organisieren.«

die redaktion

PS: Wir danken Neil Moralee für die schönen Fotos des Londoner Alltags, die Teile unseres Dossiers bebildern.

Das Dossier konnte dank freundlicher Unterstützung aus dem Solidaritätsfonds der Hans-Böckler-Stiftung finanziert werden.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 405 Heft bestellen
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