Blick in eine spärlich ausgestattete Einzimmerwohnung in Nakuru
Wohnraum einer aus Somalia geflüchteten Familie in einem Wohnviertel in Nakuru, Kenia | Foto: Tabea Scharrer

Status­paradox

Klasse im Kontext von (Flucht-)Migration aus Ostafrika

Welcher Klasse zugehörig eine Person wahrgenommen wird, ist im Kontext von Flucht und Migration oft widersprüchlich. Es reicht nicht aus, Bildung, Status und Besitz heranzuziehen. Im transnationalen Raum ist auch relevant, ob Kapital übertragen werden kann. Hinzu kommt die Dimension des rechtlichen Kapitals.

von Tabea Scharrer

16.10.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 405
Teil des Dossiers Die neue Welt-Klasse

Geflüchtete werden im öffentlichen Diskurs, aber auch in der akademischen Forschung, häufig als homogene nationale Gruppen dargestellt. Diese Homogenisierung – basierend auf Staatsbürgerschaft – lässt andere sozial relevante Aspekte in den Hintergrund treten, darunter Klasse oder Gender. Sie führt zudem zu widersprüchlichen Darstellungen. So werden in Europa und Nordamerika Somalis oft als Migrant*innen beschrieben, die mit Problemen im Bildungsbereich und am Arbeitsmarkt zu kämpfen haben. In Kenia hingegen werden Somalis im öffentlichen Diskurs zum Teil als wirtschaftlich sehr erfolgreich und daher als Konkurrenz wahrgenommen (Scharrer 2018)*. Diese jeweils einseitigen und gegensätzlichen Bilder resultieren daraus, dass die Heterogenität von (Flucht-)Migration im transnationalen Raum vernachlässigt wird.

Flucht und Migration

Barlin Mohamed, der Name wurde zum Schutz der Person geändert, wohnt mit ihren zwei Töchtern, ihrem erwachsenen Sohn und ihrem Bruder zusammen in Nairobi. Da Barlin Mohamed und zwei ihrer Kinder offiziell als somalische Flüchtlinge registriert sind, müssten sie eigentlich in einem der Flüchtlingslager im Norden des Landes leben. Dort hätten ihre Töchter jedoch kaum Chancen auf eine gute Bildung. Zudem ist das Leben in den Camps von diversen ökonomischen und sozialen Unsicherheiten geprägt, die häufig zu einer zusätzlichen Verarmung der dort lebenden Bevölkerung führen.*

Obwohl, beziehungsweise weil, die Familie somit irregulär in Nairobi lebt, konnten die beiden Töchter dort zur Schule gehen. Der Jüngsten der beiden wurde aufgrund guter Schulleistungen inzwischen die kenianische Staatsbürgerschaft verliehen. Barlin Mohameds ältester Sohn hat sein Medizinstudium in Kenia sowie sein praktisches Jahr in Somalia erfolgreich abgeschlossen. Allerdings will er aufgrund der Bedrohungslage nicht in Somalia arbeiten. In Kenia ist ihm jedoch die Arbeit als Flüchtling verboten. Finanzieren konnte die Familie das Leben in der Stadt lange Zeit nur durch die Hilfe von Frau Mohameds Bruder, der noch vor dem Fall Siad Barres 1991 als Student nach Australien gegangen war, dortblieb und die australische Staatsbürgerschaft annahm. Der Wegfall seines Stipendiums zwang ihn zur Aufgabe des Studiums und er begann als Taxifahrer zu arbeiten. Mit diesem Einkommen unterstützte er seine Schwester und ihre Kinder, die seit 1991 immer wieder in Fluchtsituationen lebten, in verschiedenen Camps in Kenia*, als Binnenvertriebene in Somalia oder wie jetzt in Nairobi. Als sich seine gesundheitliche Situation verschlechterte, zog der Bruder  zu seiner Schwester - diese Art von 'Rückkehrmigration' trägt ebenfalls zu den Vorstellungen über somalische Migrant*innen in Kenia bei (Scharrer 2020). Die finanzielle Unterstützung der Familie übernahm nun der jüngere Sohn, der 2014 nach Europa gelangte. Er reiste wie viele andere Somalis in dieser Zeit über Libyen, eine Route, die trotz der bekannten Gefahren genutzt wurde, da sie billiger und leichter zu organisieren war als andere Routen und legale Zugangswege nicht existieren (Scharrer 2023). Ohne finanzielle Unterstützung von außen hätte sich die Familie von Frau Mohamed das Leben im urbanen Kenia nicht leisten können, was für alle Kinder schlechtere Bildungsmöglichkeiten mit sich gebracht hätte. Migration über die Flucht hinaus führte in diesem Beispiel also nur bedingt zu sozialer Mobilität der Migrierenden, sondern vor allem zum Erhalt einer Position in der (unteren) Mittelklasse für die in Kenia verbliebene Familie.

Was aber hat die geschilderte Situation mit Klasse zu tun - und wie hat Klassenzugehörigkeit den Werdegang beeinflusst?  Zunächst einmal: (Flucht-)Migration kann als eine Form von Migration verstanden werden, die aus gewaltsamen Kontexten resultiert, die aber zugleich mit anderen Formen von Migration verknüpft sein kann. Während durch den Fluchtkontext ökonomische Ressourcen und sozialer Status verloren gehen können (siehe auch Hunkler et.al. 2022), besteht durch die Möglichkeit auf Asyl eine vage Chance, diesen Verlust zumindest teilweise auszugleichen. So können in einem Haushalt somalischer Geflüchteter in Kenia Menschen mit verschiedenen Staatsbürgerschaften, unterschiedlichen Aufenthaltsrechten und, je nach theoretischer Perspektive, divergierenden sozioökonomischen Positionen zusammenleben. Der rechtliche Status der Personen erschwert eine Betrachtung von Klasse im Sinne dieser Positionen.

Klasse – ein übertragbares Konzept?

Für den afrikanischen Kontext wurde immer wieder argumentiert, dass das Konzept der Klasse so nicht anwendbar sei. Der Ethnologe Jack Goody (1971) begründete dies für die vorkoloniale Zeit damit, dass im Vergleich zu Europa und Asien in den meisten afrikanischen Gesellschaften keine Konzentration von Vermögen stattgefunden habe. Als ursächlich dafür sah er Heiratspraktiken, die verschiedene Bevölkerungsschichten eher verbanden als diese weiter auszudifferenzieren. Ähnliches gelte auch für die Weitergabe von Eigentum. Zudem waren die landwirtschaftlichen Praktiken nicht darauf ausgerichtet, große Überschüsse abzuwerfen und boten damit – verglichen mit Europa – weniger Anreiz zur gesellschaftlichen Differenzierung.

Andere Autor*innen argumentierten mit der vergleichsweise geringen Industrialisierung und der damit kaum vorhandenen Arbeiterschaft. Auch Ernesto »Che« Guevara stellte im Tagebuch (2021) über seine Zeit bei der Guerillabewegung im Kongo fest, dass die sozialen Kategorien, die er in Lateinamerika verwendet hatte, nur von begrenztem Nutzen waren. Da in der Region kaum privater Landbesitz existierte, war die Bauernschaft als wichtigste soziale Schicht unabhängig. Zudem gab es kein Industrieproletariat, und eine kleinbürgerliche Klasse von Mittelständlern war nur schwach ausgeprägt.

Klasse ist in einem trans­nationalen Kontext schwieriger zu fassen

Die Debatte um die Anwendbarkeit des Klassen-Konzeptes wurde auch unter afrikanischen Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen geführt. Während einige Vertreter*innen eines Afrikanischen Sozialismus (wie etwas Kwame Nkrumah oder Julius Nyerere) Afrika ebenfalls als klassenlosen Kontinent darstellten (siehe Scharrer & O'Kane 2018), wiesen andere (wie Archie Mafeje, Mahmoud Mamadani oder Achille Mbembe) auf die Auswirkungen der Kolonialzeit hin. Diese brachte nicht nur spezifische Strukturen der Ausbeutung mit sich, sondern hinterließ in der politischen und rechtlichen Arena eine Schaffung von Zugehörigkeit über race, tribe und ethnicity, die abseits ökonomischer Strukturen funktionierte.  

Allgemein für die heutige Zeit argumentierte Ulrich Beck (2007), dass globale Individualisierungsprozesse zu einer Auflösung von Einheiten führen, die als Klassen bezeichnet werden können. Diese würden durch neue, transnationale »Post-Klassen«-Formen der Ungleichheit ersetzt, für die Migration eine große Rolle spielt. Diese Diskussionen stellen nicht in Abrede, dass weitreichende sozioökonomische Unterschiede bestehen, wie auch die Forschungen zu Armut, Eliten oder insbesondere seit den 2010er Jahren zu afrikanischen Mittelschichten zeigen. Die Frage ist vielmehr, ob für diese Ungleichheiten der Begriff 'Klasse' verwendet werden sollte.

Einige Vertreter*innen eines Afrikanischen Sozialismus - wie etwas Kwame Nkrumah oder Julius Nyerere - stellten Afrika als klassenlosen Kontinent dar. Andere wiesen auf die Auswirkungen der Kolonialzeit hin - so Archie Mafeje, Mahmoud Mamadani oder Achille Mbembe.

Die Beantwortung dieser Frage ist abhängig vom verwendeten Konzept von 'Klasse'. Frühere Arbeiten im afrikanischen Kontext stützten sich eher auf Karl Marx, aber auch auf Max Weber, spätere stärker auf Pierre Bourdieu, der versuchte beide Ansätze zu vereinen. Während Karl Marx in 'Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte' (1852) davon ausging, dass das Leben unter ähnlichen sozioökonomischen Bedingungen zu ähnlichen Lebenswahrnehmungen, Denkweisen und gemeinsamen politischen Interessen führe, entkoppelten sowohl Max Weber (1921/22) als auch Pierre Bourdieu (1984) diese Elemente. Soziale Klasse aus Weberscher Perspektive bezieht sich auf Lebenschancen auf Grundlage von zur Verfügung stehenden Ressourcen (wie Eigentum und Einkommen durch Beruf); eine Definition, die auch in neueren Konzeptualisierungen von Klasse verwendet wird (z. B. Mike Savage 2013). Darüber hinaus argumentierte er, dass die Zugehörigkeit zu einer wirtschaftlichen Klasse nicht unbedingt den sozialen Status definiert oder mit einer bestimmten politischen Orientierung verbunden sei. Bourdieu (1984) ging dagegen von verschiedenen, aber ineinander konvertierbaren Kapitalformen aus, die er als ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital bezeichnetet. Zusammen bestimmen diese drei Kapitalsorten die Position eines Menschen im sozialen Raum. Alle drei theoretischen Konzepte haben gemeinsam, dass eine bestimmte sozioökonomische Lage das gelebte Leben stark prägt. Sie unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der Überlegung, inwieweit die sozioökonomische Lage als gemeinschaftsstiftend wahrgenommen wird, etwas, das auch in den Überlegungen von Marx erst durch politische Willensbildung geschieht.

Klasse in Ostafrika

Alle drei Ansätze eignen sich somit auch für gesellschaftliche Strukturen, in denen 'Klasse' nicht als Hauptelement der sozialen und politischen Strukturierung wahrgenommen wird, sondern als ein Element neben anderen. So spielt Klasse in der Strukturierung der politischen (Parteien-)Landschaft sowohl in Kenia als auch in Somalia nur eine geringe Rolle, im Vergleich zu anderen Kategorien politischer Gruppenbildung und Identifikationsprozesse wie Ethnizität oder Clan (Gruppen die sich auf geteilte patrilineare Herkunft beziehen). Aber auch hier gibt es Ausnahmen, wie die Proteste in Kenia 2024 gegen Steuererhöhungen sowie gegen die ungerechte Nutzung der erhobenen Steuern zeigen. Diese Steuererhöhungen, die Forderungen des IMF folgten, hätten die ohnehin seit 2020 stark gestiegenen Lebenshaltungskosten noch weiter angehoben (siehe auch: Ken Opalo). Die Proteste zeigen, dass sehr wohl ein Bewusstsein für soziale Ungleichheit besteht. Dieses Bewusstsein über ökonomischen und sozialen Status spiegelt sich auch im Alltagsleben wieder, zum Beispiel in der Wahl der Schule oder der Wohnviertel.

Der rechtliche Status der Personen erschwert eine Betrach­tung sozio­ökonomischer Positionen

Zudem lassen sich sozioökonomische Schichtungen in Teilen Ostafrikas bereits in vorkolonialer Zeit nachweisen, die seitdem an Bedeutung gewonnen haben. So zeigt die Anthropologin Catherine Besteman (1998) an Somalia, dass Migration in der Zeit nach der Unabhängigkeit ein wichtiges Element der Schaffung von Klassenunterschieden innerhalb der somalischen Gesellschaft war, und zwar durch Urbanisierungsprozesse und Arbeitsmigration (hauptsächlich nach Saudi-Arabien). Dies hat wiederum zur Bildung einer städtischen Elite und zu einer zunehmenden Trennung und Schichtung zwischen städtischen und ländlichen Gruppen geführt. Dieser Prozess wurde durch die Migrationsprozesse nach dem Zusammenbruch des somalischen Staates noch verstärkt.

Migration als Mittel, seine Lebenschance zu verbessern, ist in vielen gesellschaftlichen Bereichen anzutreffen, die Formen und Wege unterscheiden sich jedoch. Während Binnenmigration auch für ärmere Bevölkerungsgruppen eine Option darstellt (was ebenfalls auf Flucht zutrifft, siehe Bakonyi & Chonka 2023), ist grenzüberschreitende Migration häufig mit höheren finanziellen Investitionen verbunden. Diese können meist nur von Menschen der Mittelklassen und der Eliten aufgebracht werden.

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Als Mittelklassen sollten aber nicht nur diejenigen betrachtet werden, die gemeinhin als zugehörig zu einer 'globalen Mittelschicht' gezählten werden. Denn diese würden im kenianischen Kontext bereits zur oberen Mittelklasse gehören – Klassenzugehörigkeit ist also relativ. Das Kenyan National Bureau of Statistics zählte 2021 etwa 40 Prozent der Bevölkerung als von Armut betroffen. Da nur eine sehr kleine Gruppe als reich angesehen werden kann, werden somit etwa 60 Prozent als den Mittelklassen zugehörig aufgeführt. Von diesen zählen allerdings etwa ein Drittel zur 'floating class'*, sind also armutsgefährdet und können durch Lebensereignisse wir Arbeitslosigkeit, Inflation oder teuer zu behandelnde Krankheiten* aus der Mittelklasse herausfallen (siehe z.B. Kroeker 2020). Auch die Familie von Frau Mohamed würde aus dieser Sicht der 'floating class' zugehörig sein. Migration kann für diese von Unsicherheit geprägte sozioökonomische Position eine wichtige Möglichkeit der Diversifizierung von Einkommen darstellen und damit stabilisierend wirken.  

Migration verkompliziert Klasse

Die Familiengeschichte zeigt beispielhaft: Das Konzept von und die Forschung über Klasse wird durch Migration verkompliziert, insbesondere wenn diese Grenzübertritte einschließt. Einerseits sind Migration und Klasse, räumliche und soziale Mobilität, miteinander verknüpft. Das betrifft sowohl Ideen von Migration also auch die Möglichkeit, diese in die Tat umzusetzen. Autor*innen wie Catie Coe und Julia Pauli (2020) zeigen, dass Migration vielfach als Versuch betrachtet werden kann, globale Ungleichheit zu überwinden. Hierbei spielen auch die „Ideologie“ des Kapitalismus (Piketty 2020) und das Streben nach Zugehörigkeit zu einer Art globaler Mittelschicht (Schielke 2012) eine Rolle. Beide sind mit der Vorstellung verbunden, dass bei genügend Anstrengung ein sozialer Aufstieg möglich sei. Migration stellt dafür einen wichtigen Weg dar – sie könnte also als Kulminationspunkt eines Glaubens an eine kapitalistische Ordnung und an das Prinzip der Meritokratie angesehen werden – des Aufstiegs durch Leistung bzw. Anstrengung. Allerdings wird für Migration finanzielles Kapital benötigt. Fehlt dies, so kann es ggf. durch andere Kapitalformen abgefedert werden. In Bezug auf (Flucht-)Migration zeigt Nicholas Van Hear (2004), dass im Fall von Migrant*innen aus Sri Lanka und Somaliland die Migrationsrouten stark vom »Zugang zu den verschiedenen Kapitalsorten« bestimmt waren – vor allem, weil die Kosten der Migration gestiegen waren.

Ghanaische Migrant*innen, die nach einigen Jahren in Europa nach Ghana zurück­kehrten, erlebten ein »Statusparadox«

Argumentiert man wie Van Hear mit Bourdieu, müssten zu den drei im nationalen Kontext wichtigen Kapitalsorten im Falle von internationaler Migration noch das 'rechtliche Kapital' hinzugefügt werden. Darunter kann Kapital verstanden werden, das in den jeweiligen nationalen Kontexten unterschiedliche Rechte verleiht. Rechtliches Kapital bezeichnet dabei nicht nur die Staatsbürgerschaft, die sowohl internationale Mobilität ermöglicht als auch sozioökonomische Positionen im globalen Ungleichheitssystem beeinflusst. Ebenfalls von Relevanz ist der differenzierte Rechtsstatus, den Migrant*innen in den jeweiligen Aufenthaltsländern innehaben können. Als Beispiele seien hier unterschiedliche aufenthaltsrechtliche Bedingungen für Studierende, anerkannte Flüchtlinge oder Geduldete aufgeführt, die jeweils mit spezifischen Rechten und Einschränkungen verbunden sind. Zudem beeinflusst Klasse im Sinne der sozioökonomischen Grundlage von »Lebenschancen« nicht nur, wohin Menschen migrieren können, sondern auch, wie sie vorhandenes Kapital übertragen können, um sich an neuen Orten einzuleben, welchen Status sie anstreben und wie sie ihre eigene Situation bewerten.

Das Statusparadox

Andererseits ist Klasse schwieriger zu fassen, wenn diese in einem transnationalen Kontext untersucht wird. Die meisten Vorstellungen und Forschungen über Klasse beziehen sich auf nationalstaatlich begrenzte Kontexte und gehen nicht auf transnationale Klassenbildung ein. Somit wird auch der Einfluss von Migration kaum beachtet (Weiss 2005). Wird die transnationale Dimension, das Leben an unterschiedlichen Orten wie auch migrationsbedingte multilokale Familiennetzwerke in die Überlegungen aufgenommen, kommen zu den Dimensionen der Klasse noch vielfältige Unterschiede zwischen Orten hinzu. So zeigte Boris Nieswand (2014) am Beispiel ghanaischer Migrant*innen, die nach einigen Jahren in Europa nach Ghana zurückkehrten, dass diese ein »Statusparadox« erlebten. Als Arbeitsmigrant*innen hatten sie im Aufnahmeland aufgrund der Art der Beschäftigung in der Regel einen niedrigen Status inne. Gleichzeitig gewannen sie in den Herkunftsregionen aufgrund der relativ hohen Löhne an Status. Dieser relativ neue Status entbehrte jedoch oft einer konventionellen Legitimation, wie hohe Bildung, prestigeträchtiger Beruf und/oder Abstammung. Das führte in den etablierten Mittelschichten zu Irritationen.

Im Fall somalischer Migrant*innen wird dieses Statusparadoxon durch nahegelegene Zufluchtsländer wie Kenia verkompliziert. Während arme Geflüchtete in den Flüchtlingslagern im Norden weitab der Zentren leben, werden diejenigen die mit mehr finanziellen Ressourcen in den Städten ihre Existenz bestreiten, im öffentlichen Diskurs als verhältnismäßig 'reich' wahrgenommen. Das ist auch dann der Fall, wenn diese überhaupt nur durch die Weitermigration eines Familienangehörigen in den urbanen Zentren leben können, wie im Falle der Familie Mohamed.

Literatur

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Ulrich Beck (2007): Beyond class and nation: reframing social inequalities in a globalizing world. In: The British Journal of Sociology, Volume 58, Issue 4, Dezember 2007, Seite 679-705.

Catherine Besteman (1998): Primordialist Blinders: A Reply to I. M. Lewis. Cultural Anthropology, Vol. 13, No., Seite 109-120.

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Pierre Bourdieu (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Achim Russer. Suhrkamp Insel, 912 Seiten.

Cati Coe and Julia Pauli (2020): Migration and Social Class in Africa: Class-Making Projects in Translocal Social Fields. Africa Today, Vol. 66 no. 3, 2020, Seite 2-19.

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Christian Hunkler et al. (2022): Spatial and social im/mobility in forced migration: revisiting class. Journal of Ethnic and Migration Studies Volume 48, Issue 20.  

David O’Kane, Tabea Scharrer (2018): Anthropology and Class in Africa: Challenges of the Past and Present. In: Kroeker, L., O'Kane, D., Scharrer, T. (eds) Middle Classes in Africa. Frontiers of Globalization. Palgrave Macmillan, Cham.

Lena Luise Kroeker (2020): Moving to Retain Class Status: Spatial Mobility among Older Middle-Class People in Kenya. In: Africa Today, Indiana University Press, Seite 136-158.

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Tabea Scharrer, 2018: »Ambiguous citizens«: Kenyan Somalis and the question of belonging. In: Journal of Eastern African Studies, 12 (3), Seite 494–513.

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Tabea Scharrer ist Ethnologin und arbeitet am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen sowie an der Universität Bayreuth. Zu ihren Schwerpunkten gehören neben Migration und Ungleichheitsforschung auch der Islam in Afrika.

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