Meine Klassenzugehörigkeit
Ein Kommentar
Trotz faktischem Niedriglohn käme ich nie auf die Idee, mich wegen meiner Redaktionstätigkeit im iz3w der Arbeiter*innenklasse zuzurechnen. Seit Tag und Jahr habe ich es nur mit (hauptamtlichen) Kolleg*innen mit einem akademischen Abschluss zu tun. Auch eine Dissertation schadet nicht, um die iz3w-Teilzeit-Honorartätigkeit zum Einheitslohn anzutreten. Danach engagiert man sich für die Belange der Unterklassen in aller Welt. Und die eigenen? Nun, wenn wir wenigstens prekarisierter Mittelbau an der Uni wären. Dort machen Arbeitskämpfe Sinn. Auch in Zeitungsunternehmen sind sie hoch relevant. Im selbstverwalteten Projekt sind sie deprimierend, weil man nur den Mangel innerhalb des Projekts herumschiebt. Immerhin: Den ausgebeuteten Klassen gehört unsere volle Solidarität.
Nun habe ich noch den ‚Brotjob‘ in der Altenpflege. Hier ist es einfach: Ich bin und fühle mich der Arbeiter*innenklasse zugehörig. Gewerkschaftsmitglied bin ich bei ver.di: Vom iz3w her bin ich dort als Journalist dabei, von der Altenpflege her als Malocher. In der Altenpflege rege ich mich richtig auf, wenn es um die Löhne und Arbeitsbedingungen geht, und engagiere mich entsprechend. Die beiden Jobs sind völlig unterschiedlich: fast, als läge eine Klassengrenze dazwischen. Man spricht sogar verschiedene Sprachen. Ein anderer Signifikant (das war iz3w-Sprache) für unterschiedliche Klassensegmente: Aus dem iz3w gehe ich inspiriert nach Hause, nach der Altenpflege bin ich abgeschossen.
Die Bleibedauer in der Altenpflege liegt etwa bei 13 Jahren
Die Arbeit in der Altenpflege ist hoch spannend – nicht zuletzt unter dem Klassenaspekt. Im 19. Jahrhundert wurde aus der karitativen Pflege ein fachlicher Beruf. Das 20. Jahrhundert wurde das Zeitalter der Professionalisierung der Pflege, das 21. Jahrhundert das ihrer Prekarisierung (iz3w 362). Hier gerieten die – weiblich konnotierten und deshalb schon immer schlecht bezahlten und angesehenen – Gesundheitsberufe im Zuge der Neoliberalisierung noch einmal unter Druck: Staatlicherseits wurde gespart und die Pflege wurde unter dem Primat der Effizienz umstrukturiert. Der Pflegebedarf von Menschen wird mit Fallpauschalen knapp kalkuliert. Für die Arbeitskräfte brachte die neoliberale Phase seit den 1980er-Jahren stagnierende Löhne bei gleichzeitig steigendem Arbeitsdruck. Altenpfleger*innen, die es sich leisten können, verkürzen seither ihre Arbeitszeiten. Wer es schafft, kehrt dem Beruf ganz den Rücken. Die Bleibedauer im Beruf liegt etwa bei 13 Jahren.
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Entsprechend zieht der Job nicht genug Neue an. Aber die demographische Entwicklung sorgt dafür, dass der Bedarf an Pflege steigt. In vielen Altenheimen ist der Job der reine Horror: Die Arbeitskräfte haben zu wenig Zeit, um den Job zufriedenstellend durchzuführen. Der Krankheitsstand ist hoch. Man muss dauernd einspringen, die Schichten sind oft unterbesetzt.
Das Klassensegment der Gesundheitsberufe hat also nicht vom fordistischen Aufschwung im 20. Jahrhundert profitiert und das Prestige der Jobs sinkt von unterem Niveau aus. Heute erweckt ein Altenpflege-Outing nur noch Mitleid und den pflichtschuldigen Hinweis darauf, dass das ja eine sehr soziale Tätigkeit sei.
Die automatische Konsequenz für die Klassenzusammensetzung, die hierzulande das Profil ‚Drecksjob‘ hat, ist seine Internationalisierung. Wie damals der Kohlebergbau ist heute der Gesundheitsbereich eine Branche, die für Arbeitsimmigration sorgt.
Meine Kolleg*innen kommen aus Ghana, Kenia, Togo, Nepal, Thailand, Russland, Ukraine, Rumänien, Ungarn, Polen, Chile und so weiter. Im Früh- oder Spätdienst bin ich nicht selten der einzige Deutsche. Meine Kolleg*innen kommen teils aus sehr prekären Verhältnissen. Sie packen die Gelegenheit beim Schopf, um eine neue Existenz zu gründen. Schaut man zweimal hin, so erweist sich die Klasse wieder als divers. Natürlich kenne ich auch den syrischen Arzt, der hier überqualifiziert und dauerhaft als Altenpfleger arbeitet. Viele kommen aus der Mittelschicht ihrer Länder, denn von dort bringt man eher die Voraussetzungen mit, um sich im deutschen Arbeitsmarkt zu etablieren: eine höhere Bildung etwa und Sprachkenntnisse. Die Familie kann das Kapital für die Reise und den Übergang aufbringen. Und selbstverständlich habe ich nicht nur eine Kollegin, die trotz Job jahrelang von Abschiebung bedroht war und unter Residenzpflicht nur eine Duldung nach der nächsten bekam. Arbeiten in Deutschland heißt für viele, dass sie nicht nur ausgebeutet, sondern dazu staatlicherseits in Angst gehalten werden. Das ist der klassenspezifische Dank an die ausländischen Arbeitskräfte dafür, dass sie die Pflege vor dem Zusammenbruch retten.
Bei einem Gespräch mit zwei russischen Kolleginnen über Wohnungssuche zeigt sich, dass sie trotz Arbeitsplatz in Freiburg nicht einmal auf die Idee kommen, hier eine Wohnung zu mieten. Sie suchen im Umland. Das ‚grüne‘ Freiburg ist eine stark segregierte Stadt: Angehörige der unteren Klassen werden marktinduziert aus dem Stadtraum verdrängt. Dabei garantieren sie seine soziale Infrastruktur.
Das Klassensegment der Gesundheitsberufe hat mittelmäßige Aufstiegschancen: Die gewerkschaftliche Organisierung im Stressjob läuft schleppend, vielleicht auch, weil manche lieber sozial sind, anstatt sozial behandelt zu werden.
In einem Punkt ist die Internationalisierung ein Problem: Es wird gnadenlos ausgenutzt, dass die neu Zugezogenen Sprachprobleme haben und (noch) froh sind, überhaupt einen Job zu bekommen. Solange die Rekrutierung im Ausland weiter funktioniert, ist der Zwang, die soziale Arbeit selbst zu humanisieren, minimiert. Für mich ist das kein Argument gegen Zuwanderung: Ich wollte schon aus Eigennutz nicht zurück zur rein deutschen Belegschaft. So wie es jetzt ist, ist es viel spannender. Der Zusammenhalt der diversen Belegschaften ist oft hervorragend. Wir kämpfen uns zusammen durch die neoliberale Pflegehölle und feiern immer wieder das Leben mit unseren Heimbewohner*innen, dem Zentrum von allem in der Pflege. Was am Job nervt, ist seine kapitalistische Abwertung.