Was haben Marx und Queer Theory miteinander zu tun? Eine ganze Menge, meint Friederike Beier, Wissenschaftlerin und Herausgeberin von Materialistischer Queerfeminismus. Theorien zu Geschlecht und Sexualität im Kapitalismus. Die zwölf Essays der Anthologie umspannen eine Phase materialistisch-feministischer Theoriebildung mit Anfängen im marxistischen Feminismus der 1970er Jahre über dekonstruktivische Theorien von Judith Butler bis zur materialistischen Wende der Queer Theory heute.
Warum sollten Identität und Klassenzugehörigkeit im Widerspruch zueinander stehen?
Der Sammelband ist zugleich eine Anklage gegen die Neoliberalisierung feministischer Theorie und Praxis, und ein hoffnungsvoller Vorschlag, den vermeintlichen Widerspruch zwischen Materialismus und Identitätspolitik zu überwinden. Denn die Überbetonung der (meist unproduktiven) Differenzen zwischen materialistischem und queerem Feminismus, so Beier, sei Teil einer Herrschaftsstrategie, die auf die Spaltung feministischer und linker Bewegungen ziele.
Gleichzeitig distanzieren sich sowohl Beier als auch die einzelnen Beiträge vom orthodoxen Marxismus und seiner unhinterfragt-biologistischen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, und plädieren dabei für die historische Variabilität der Geschlechterverhältnisse. Geschlecht hängt wie Klasse von historischen und ökonomischen Verhältnissen ab – ist also nicht festgeschrieben, sondern kann verändert, ja sogar überwunden werden.
Wie sehr die Anfänge der Queer Theory auf dem Marxismus basieren und wie oft sich die jeweiligen Leerstellen gegenseitig ergänzen, wird in den Texten schnell deutlich. Die Spaltung zwischen Klassen- und Identitätspolitik, der vermeintliche Gegensatz des heutigen Feminismus, beruht wohl auf einem Missverständnis: Warum sollten Identität und Klassenzugehörigkeit im Widerspruch zueinander stehen? »Sexualität ist sehr wohl ein Schauplatz von Klassenkampf«, schreibt Christine Delphy. Indem wir Sexualität, auch individuelle, als äußerst politisch begreifen und Frauen sowie (gender-)queere Menschen als systematisch unterdrückte Klasse, wird die Spaltung der Geschlechter als profitable Erfindung der patriarchalen, kapitalistischen Gesellschaft offensichtlich. Damit vertreten wir bereits einen materialistischen Ansatz. Dies, so schlägt Beier vor, sollte der Ausgangspunkt für einen materialistischen Queerfeminismus sein.
»Materialistischer Queerfeminismus« ist ein notwendiges Buch, wenn auch nicht unbedingt für Theorie-Neulinge geeignet. Und doch geht es um die Versöhnung von Klassenkampf und Identitätspolitik, auf die der heutige Feminismus lange gewartet hat.
Greta Baessato