»Juárez ist keine Kaserne, Armee raus!«

Das Medienkollektiv Juarlin aus Ciudad Juarez über Medienrepression und die Gefahren journalistischer Arbeit in Mexiko

Audiobeitrag von Kathrin Zeiske und Leobardo Alvarado

03.12.2024
Teil des Dossiers Kritischer Journalismus

Im Oktober wurde Claudia Sheinbaum als erste Präsidentin Mexikos vereidigt. Sie folgte auf den für seine repressive Medienpolitik in Verruf geratenen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador, der seit 2018 im Amt war. Obrador gilt als bekanntes Beispiel für den Konflikt zwischen einem Präsidenten und Medienschaffenden. Der südnordfunk bat Kathrin Zeiske und Leobardo Alvarado vom Medienkollektiv Juarlin aus Ciudad Juarez, einer Grenzstadt zum US-amerikanischen Bundesstaat Texas, über die Zeit der Repression von Medien, Meinungsfreiheit und über die Herausforderungen des kritischen Journalismus in Mexiko zu sprechen.


Skript zum Beitrag mit dem Medienkollektiv Juárlin

Erstausstrahlung am 3. Dezember 2024 im südnordfunk #126 auf Radio Dreyeckland

Kathrin Zeiske: Wenn wir über die Repression von Medien, Meinungsfreiheit und die Herausforderungen des kritischen Journalismus in Mexiko sprechen: Vielleicht ist das, was weltweit am bekanntesten ist, die Situation während der Präsidentschaft von Andrés Manuel López Obrador, kurz: AMLO. Oder genauer gesagt, dass seine Regierung gewisse Diskrepanzen mit dem Journalismus – oder besser – mit Medienschaffenden und journalistischen Recherchen hatte.

Leobardo Alvarado: Es war ein Werkzeug, das der Präsident nutzte, um ein politisches Problem anzugehen. Als er die Präsidentschaft übernahm, etablierte er ein Instrument, um die Gesellschaft zu informieren, bekannt als »die Mañanera«. Jeden Morgen informierte er hier über die Aktivitäten seiner Regierung. Aber er kommentierte hier auch die Kritik, die er von Seiten der Privatwirtschaft oder politischer Gegner*innen, von Medien oder Journalist*innen erntete.

In diesem politischen Streit geriet ein Teil der Medienlandschaft und des Journalismus in den Fokus. AMLO sprach generalisierend vom Journalismus per se, und das führte dazu, dass sich auch Journalist*innen, die nicht direkt in diesen Konflikt verwickelt waren, auf den Schlips getreten fühlten. Diesen politischen Streit im Land nutzten Medien und Journalist*innen, auch um eigene Zwecke oder Ziele zu verfolgten – etwa dazu, in Opposition zur Regierung zu agieren. In diesem Disput geriet dann auf einmal das hohe Gut Meinungsfreiheit selbst zwischen die Fronten.

Kathrin Zeiske: Und dieser Konflikt – diese Auseinandersetzung um Meinungsfreiheit als ein Wert und für einen Journalismus, der weder regierungskonform noch anbiedernd ist – bleibt meiner Meinung nach stark auf die Hauptstadt Mexiko City beschränkt. Man sollte auch die Bundesstaaten Mexikos betrachten, um die Lage von Journalist*innen dort zu verstehen. Ich denke, in den Bundesstaaten gab und gibt es viel mehr direkte Angriffe und sogar Morde an Medienschaffenden.

Heute führt der Bundesstaat Veracruz die Liste von ermordeten Journalist*innen mit 31 Morden an

Wenn wir uns die Zahlen der seit dem Jahr 2000 in Mexiko ermordeten Journalist*innen ansehen, kommen wir auf 163 Personen, die aufgrund ihrer Arbeit getötet wurden. Im Bundesstaat Chihuahua sind es bis heute 25 Personen. Wenn wir uns die Zahlen unter den verschiedenen Präsidentschaften anschauen, sehen wir sehr deutlich, dass die Morde an Medienschaffenden  seit der Ausrufung des sogenannten »Drogenkriegs« unter Präsident Calderón – also schon vor der Amtszeit von ALMO – in die Höhe geschossen sind. Während unter seinem Vorgänger Fox im Jahr etwa 20 Journalist*innen ermordet wurden, waren es in den letzten drei Amtsperioden jeweils fast 50 Personen.

Heute führt der Bundesstaat Veracruz die Liste von ermordeten Journalist*innen mit 31 Morden an, gefolgt von Guerrero mit 17. Es folgen Oaxaca, Tamaulipas und Chihuahua mit jeweils 15 getöteten Journalist*innen – bis zum heutigen Tag.

Leobardo Alvarado: Der Kontext dieser Bundesstaaten ist interessant, insbesondere, wie Chihuahua unter diesen fünf Staaten gelistet wird. Veracruz, Oaxaca und Guerrero - das sind alles südliche Küstenstaaten. Diese Regionen erleben seit langer Zeit politische Spannungen. Sie stehen im Schatten des organisierten Verbrechens. Und in manchen Fällen, wie in Guerrero, gibt es eine starke Tradition von sozialen Kämpfen.

Tamaulipas und Chihuahua hingegen sind an der Grenze zu Texas gelegen. Ihre geografische Lage bedingt den Drogenschmuggel Richtung USA und andere kriminelle Aktivitäten. Wenn wir an die 15 Morde in den letzten Jahren in Chihuahua denken, fällt auf, dass einige emblematische Fälle dabei sind.

Ein trauriges Beispiel ist Miroslava Breach, die im Jahr 2017 ermordet wurde. Ihre Geschichte steht dafür, was in den genannten Staaten passierte. Sie führte investigative Recherchen durch, die sowohl politische als auch kriminelle Aktivitäten beleuchteten. Dabei konzentrierte sie sich auf ein geografisches Gebiet, nämlich die Sierra von Chihuahua.

Blick auf den Gedenkort an die mexikanische Journalistin
Gedenken an Miroslava Breach, mexikanische Journalistin am 24. März 2017 in Chihuahua | Foto: Laura.carrasco | CC BY-SA 4.0

Kathrin Zeiske: Miroslava Breach recherchierte in einem Gebiet mit wenig medialer Berichterstattung, wo das organisierte Verbrechen – in diesem Fall die Gruppe „Los Salazares“ – mit der Politik eng vernetzt ist. Sie deckte auf, dass sich ein Angehöriger dieser Gruppe als Bürgermeisterkandidat der Partei PRI aufstellen wollte. Schließlich wurde sie vor den Augen ihres Kindes in der Landeshauptstadt Chihuahua ermordet. Ich denke, dieser Fall ist immer noch vielen Journalist*innen hier im Bundesstaat Chihuahua in Erinnerung.

Leobardo Alvarado: Miroslava Breach hatte eine lange Karriere im Journalismus hinter sich. Sie berichtete über den gesamten Bundesstaat Chihuahua, und eben auch über konfliktreiche und schwierige Themen. Unter der Regierung von Gouverneur Javier Corral Jurado entstand ein politischer Konflikt in der Gemeinde Bacíniva, und aus diesem politischen Umfeld heraus scheint ihr Mord motiviert gewesen zu sein.  

Ihr Fall – wie sie vor ihrem Haus ermordet wurde – zeigt die schwierigen Bedingungen, unter denen Journalist*innen arbeiten und wie die Risiken ihrer Arbeit sie im Privatleben einholen können. Ähnlich erging es Armando Rodríguez, bekannt als »El Choc«. Er wurde 2008 morgens vor seinem Haus erschossen, als er seine Kinder zur Schule bringen wollte. Armando Rodríguez berichtete in Ciudad Juárez über Polizeithemen.  

Sprecherin: Ciudad Juárez ist eine Grenzstadt im Norden Mexikos und eine der schnellst wachsenden Städte in Mexiko überhaupt. Der Grund ist die Ansiedlung sogenannter Maquiladoras, Montagefabriken, die für den Weltmarkt produzieren. Die Metropolregion hat zirka 2,5 Millionen Einwohner*innen. Zwischen 2008 und 2012 galt Ciudad Juárez als die Stadt mit den meisten Morden weltweit – das war die Zeit, als das mexikanische Militär im »Krieg gegen Drogen« ausgesandt wurden, um sie einzunehmen.

Kathrin Zeiske: Ich denke, wir sollten näher darauf eingehen, was in Ciudad Juárez während des sogenannten »Drogenkriegs« geschah, den der ehemalige Präsident Felipe Calderón ausrief. Es war der erste Ort, an dem die mexikanischen Streitkräfte einmarschierten, gefolgt von der Bundespolizei, um das Juárez-Kartell zu bekämpfen. In dieser Situation war die Stadt praktisch unter militärischer Besatzung.

Es war eine soziale Tragödie.

Leobardo Alvarado: Unter Belagerung, zuerst durch die Armee und später durch die Bundespolizei. Ich erinnere mich, dass wir als Zivilgesellschaft damals mit dem Slogan auf die Straße gingen: »Juárez ist keine Kaserne, Armee raus!« Der gesellschaftliche Druck führte schließlich dazu, dass die Armee die Stadt verließ. Doch leider wurde die Situation nicht besser, weil anschließend die Bundespolizei unter der Leitung von Sicherheitsminister Genaro García Luna eintraf, der inzwischen verurteilt wurde. In den Jahren 2009 und 2010 verschlimmerte ihre Präsenz in Ciudad Juárez die Lage, anstatt Sicherheit zu gewährleisten. Es war eine soziale Tragödie.

Kathrin Zeiske: In dieser Zeit waren Journalist*innen in Ciudad Juárez enormen Gefahren ausgesetzt. Reporter der Zeitung »El Diario de Juárez« und andere Medien arbeiteten unter extremen Bedingungen: Sie berichteten vom Tatort, während die Killer noch anwesend waren, und wurden von Militär und Polizei bedroht. Das waren für den Journalismus in Juárez wirklich schwere Zeiten. Auch wenn die Lage heute in der Stadt scheinbar kontrollierter oder ruhiger ist, ist die Situation in anderen Teilen Mexikos mit damals vergleichbar geworden. Kartelle führen regelrechte Schlachten, Polizei und Militär sind involviert, und es herrscht ein nicht deklarierter Krieg, unter dem sowohl die Bevölkerung als auch Journalist*innen leiden.

»Was wollt ihr von uns?«

Leobardo Alvarado: Der Journalismus ist seit Calderóns »Drogenkrieg« stark gefährdet. Ich erinnere mich daran, was sich damals mit der Zeitung »El Diario de Juárez« ereignete. Armando Rodríguez, genannt »El Choco«, wurde 2008 ermordet, und 2009 wurde sein Kollege Carlos Santiago Orozco ebenfalls getötet. Sogar das Verlagsgebäude der Zeitung wurde von Kriminellen beschossen. Inmitten dieser Gewalt veröffentlichte die Zeitung einen sehr starken Leitartikel mit der Frage: »Was wollt ihr von uns?« Sie richtete sich damit an die verschiedenen kriminellen Gruppen und fragte, was zu tun sei, um die Gewalt zu stoppen. Dieses Ereignis steht symbolisch dafür, wie die gesamte Gesellschaft von den Folgen des von Präsident Calderon ausgerufenen Krieges überwältigt und in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Kathrin Zeiske: Auch wenn wir heute in einer Stadt leben, die scheinbar ruhiger ist...

Leobardo Alvarado: Sie ist immer noch sehr gewalttätig.

Kathrin Zeiske: Mit vielen Morden. Und die Präsenz der Kartelle macht die Lage kompliziert.

Leobardo Alvarado: Auch wenn die Mordzahlen zurückgegangen sind, herrscht weiterhin allgemein Gewalt. Vielleicht führt Juárez nicht mehr die Liste der gewalttätigsten Städte an, aber sie ist immer noch Teil dieses Szenarios. Deshalb liegt der Bundesstaat Chihuahua auf Platz fünf der mexikanischen Bundesstaaten mit den meisten ermordeten Journalist*innen. Medienschaffende sind in Juarez nach wie vor großen Risiken ausgesetzt, insbesondere bei der Berichterstattung über Flucht und Migration an der Grenzmauer zu den Vereinigten Staaten. Dort prallen die Interessen von Kartellen, der texanischen Nationalgarde und den mexikanischen Behörden aufeinander. Viele Journalist*innen werden bedroht, vertrieben oder angegangen – sowohl an der Grenze als auch im Stadtzentrum.

Kathrin Zeiske: Es wird spannend sein zu sehen, was jetzt unter Claudia Sheinbaum als Präsidentin geschieht. Themen wie Migration und die Berichterstattung an der Grenze werden wichtig werden.

Leobardo Alvarado: Ja, aber vorher möchte ich erwähnen, dass der letzte Journalist, der in Ciudad Juárez ermordet wurde, Ismael Villagómez war, und zwar im November letzten Jahres. Sein Fall zeigt eine andere Dimension der Risiken: Um sein Gehalt als Fotojournalist aufzubessern, arbeitete er als Fahrer für eine Mitfahrplattform. Dabei wurde er überfallen und ermordet. Diese Art von Gewalt kommt zu den Gefahren hinzu, die Journalist*innen in ihrem Beruf ohnehin schon haben.

Die Regierung von Claudia Sheinbaum steht noch am Anfang. Auch wenn ihr Diskurs im Vergleich zu dem ihres Vorgängers anders erscheint, benutzt sie denselben Mechanismus, um täglich über die Arbeit der Regierung zu informieren. Dies könnte – und wurde teilweise schon – genutzt, um sich gegen bestimmte Medien auszusprechen. Es ist noch zu früh für eine genaue Analyse, aber man sollte das im Auge behalten. Wie ich eingangs sagte, ist dies Teil des politischen Konflikts im Land, bei dem die Meinungsfreiheit oft unter die Räder gerät.

Shownotes

Mehr zur Investigativ-Journalistin Miroslava Breach

Pressefreiheit und Repression in Mexiko, siehe auch Reporter ohne Grenzen

 

 

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