»Es gibt das Bild nach außen, dass hier gewalttätige Zombies wohnen«

Alltag und Aktivismus in der gefährlichsten Stadt der Welt: Ciudad Juárez

Audiobeitrag von Eva Gutensohn

01.10.2024

Das Bild der nordmexikanischen Metropole Ciudad Juárez wird in den Medien weltweit häufig durch Drogenkartelle, Armut und Femizide gezeichnet. Oft übertitelt mit der Schlagzeile: Ciudad Juárez – die gefährlichste Stadt der Welt. Die deutsche Autorin und Journalistin Kathrin Zeiske lebt seit über zehn Jahren in dieser Stadt und zeichnet ein komplexeres Bild. Für sie ist es eher »Die Stadt der Arbeit«, denn unzählige Unternehmen beschäftigen tausende Menschen, die aus ganz Mexiko und darüber hinaus dort anheuern. Viele auf dem Weg nach Norden, auf der Suche nach einem besseren Leben. Neben Gewalt und Drogenkartellen gibt es jede Menge Solidarität, menschliches Miteinander und kreative politische Protestformen. Eva Gutensohn vom südnordfunk spricht mit Kathrin Zeiske über die schwierigen Bedingungen vor Ort und warum es sich dennoch lohnt, dort zu leben.

Skript zum Interview mit Kathrin Zeiske

Erstausstrahlung am 1. Oktober 2024 im südnordfunk #125 bei Radio Dreyeckland


südnordfunk: Kathrin Zeiske, du hast dein Lebensmittelpunkt in Ciudad Juárez in Nord-Mexiko an der US-amerikanischen Grenze. Seit wann bist du dort und warum hat es dich dorthin verschlagen?

Kathrin Zeiske: Ich bin jetzt schon fast zehn Jahre hier in Ciudad Juárez und war immer wieder begeistert, wie viel Zivilgesellschaft hier vorhanden ist und wie unglaublich engagiert Leute soziale Kämpfe angehen, trotz der ganzen widrigen Bedingungen, trotz all der Gewalt.


Was sind das für politische Kämpfe?

Es geht natürlich traditionell ganz viel um die Suche nach Verschwundenen, um die Aufklärung von Femiziden. Es geht auch viel gegen Militarisierung und Polizeigewalt. Immer mehr auch drehen sich die Kämpfe um umweltpolitische Themen, weil das immer wichtiger wird. Ciudad Juárez liegt mitten in der Wüste, aber auch in einer landwirtschaftlichen Region. Der Grenzfluss Rio Bravo (mex.) oder Rio Grande (us-amerik.) war eigentlich immer die Lebensader der Stadt. Er liegt jetzt zwischen zwei Städten, nachdem sich die Grenze verschoben hat. (Anmerkung d. Red.: Der zwischen den Zwillingsstädten El Paso und Ciudad Juárez liegende Fluss ist seit 1848 ein Grenzfluss. Damals gewannen die USA/Texas einen Krieg gegen Mexiko und verschoben die Grenze um Hunderte Kilometer nach Süden. Davor war das damalige El Paso del Norte einfach eine mexikanische Stadt mit dem Fluss in der Mitte.) Und natürlich gibt es heute immer weniger Wasser. Es wird vorausgesagt, dass in sieben Jahren kein Wasser mehr in Ciudad Juárez vorhanden sein wird. Und es gibt 1,5 Millionen Einwohner*innen und 300 Weltmarktfabriken. Da steht also ein Problem ins Haus.


Anbetracht der vielen parallelen Probleme vor Ort: Haben einzelne Themen Priorität? Gerade ist zum Beispiel die Umweltproblematik sehr präsent, doch rückt deswegen das Thema Kriminalität oder Femizide mehr in den Hintergrund – und drei Monate später wechselt der Fokus wieder? Oder kämpfen die Bewegungen gleich stark?

Die Bewegungen laufen parallel und es zeichnet die Stadt aus, dass sie eine große Zivilgesellschaft hat, die übrigens auch tatsächlich durch die Mütter der Verschwundenen erstarkt ist. In den 1990er Jahren gab es die erste Femizid-Welle und damals waren es einfache Frauen, Migrantinnen, die in die Stadt gezogen und deren Töchter verschwunden waren. Diese Frauen haben dann selbstständig die Ermittlungen aufgenommen. Ihnen ist es zu verdanken, dass sich eine ganze Bewegung internationalisiert und professionalisiert hat. Daraus resultieren eigentlich die Bewegungen, die es heute vor Ort gibt. Eine Bewegung, die natürlich auch da ist und immer Feuerwehr spielen muss, ist die der Menschen, die solidarisch mit Migrant*innen und Geflüchteten an der Grenze arbeiten. Ciudad Juárez muss diesbezüglich, wie alle mexikanischen Grenzstädte, immer auf internationale Politik reagieren. Die USA geben vor: jetzt noch mehr Abschottung, jetzt kommen noch weniger Leute durch. In Ciudad Juárez sammeln sich dann die Menschen, die auf dem Weg vom Süden hier ankommen, auch die Abgeschobenen. Das ist auf jeden Fall eine Dynamik, die Ciudad Juárez gerade im letzten Jahrzehnt umgetrieben hat. Sowohl unter Trump wie auch unter Biden ist die Grenze nochmal mehr zugegangen. Für die Menschen wird es immer gefährlicher und immer teurer, wenn sie nach Norden ziehen.

»Für mich wäre ein angemesseneres Label: Die Stadt der Arbeit.«

Die Stadt hat international diesen unschönen Ruf: Die gefährlichste Stadt der Welt. Findest du so ein Label problematisch?

Es gibt natürlich ein Bild nach außen, dass hier gewalttätige Zombies wohnen. Doch dem ist überhaupt nicht so. Ciudad Juárez ist im Epizentrum einer Ware, die den globalen Weltmarkt umtreibt: Drogen. Auch wenn diese Ware nicht legal ist, kann man hier vor Ort sehen, wie sehr sowohl legale wie illegale Warenströme und Geldströme miteinander verknüpft sind. Und seitdem die Grenze geschlossen wurde, haben sich die Kartelle immer mehr auf den Menschenschmuggel über die Grenze spezialisiert. Je weniger legale Wege es gibt, in die USA einzureisen und Asyl zu beantragen, desto mehr profitiert die organisierte Kriminalität davon. Das ist wirklich wie unter einem Brennglas. Hier ziehen einerseits Menschen Richtung Norden, die keine sichere Heimat mehr haben, keine Möglichkeit, in anderen Ländern zu überleben, die unter Lebensgefahr ihre Häuser verlassen müssen. Und andererseits fließt hier der Strom der illegalen Drogen nach Norden. Hier sind zudem sehr viele Fabriken angesiedelt, von denen aus täglich auch legale Produkte über die Grenze gehen. Man kann davon ausgehen, dass in Ciudad Juárez für den Weltmarkt produziert wird, Waren, die jede*r von uns im Haushalt hat: sehr viel Autoinnenelektronik – auch von deutschen Unternehmen – Feuermelder, Glasfaserkabel, hochtechnologische Gegenstände. Die meisten denken überhaupt nicht darüber nach, wo diese Waren herkommen, wer das produziert hat und unter welchen Bedingungen.

 

Die Umstände sind mehr als prekär: Die Menschen arbeiten wahnsinnig viel und können teilweise dennoch nicht davon leben. Das wäre gut zu wissen, wenn wir hier Produkte konsumieren, die dort hergestellt werden.

Genau. Ciudad Juárez hat das Label Die gefährlichste Stadt der Welt. Für mich wäre eigentlich das Label, das auch hier am meisten zieht, dass es die Stadt der Arbeit ist. Der Großteil der Bevölkerung sind Leute, die zugezogen sind. Früher war Ciudad Juárez viel kleiner und durch die Ansiedlung der Weltmarktfabriken, der Maquilas, ist die Stadt enorm gewachsen. Es kommen noch immer täglich Leute aus ländlichen Bundesstaaten Mexikos, die sich hier ansiedeln, um in diesen Fabriken zu arbeiten. Einerseits gibt es in der Stadt das Versprechen von Arbeit: Es gibt wahnsinnig viele Arbeitsplätze und es werden immer Arbeitskräfte gesucht. Und andererseits ist die Arbeit sehr schlecht bezahlt. Eigentlich ist es keine ungelernte Arbeit, weil sich die Menschen am Fließband viel aneignen müssen. Man muss spezialisiert sein, um diese technologisierten Prozesse durchmachen zu können, aber die Arbeiter*innen werden nicht entsprechend bezahlt.

»Für viele Jugendliche sind die organisierte Kriminalität und die Drogenkartelle viel attraktiver.«

Aus einer Familie arbeiten zwei, drei Leute in den Fabriken und teilen sich in Tagschicht und Nachtschicht auf. Zum Beispiel bei einem Ehepaar: Der Mann macht die Nachtschicht, die Frau ist bei den Kindern, tagsüber arbeitet die Frau, der Mann sorgt dafür, dass die Kinder zur Schule gehen und zu essen bekommen. Wenn es alleinerziehende Frauen sind, stehen sie meistens vor der schwierigen Entscheidung, die Kinder entweder nachts oder tagsüber alleine zu lassen. Und dann nicht zu wissen, ob sie überhaupt zur Schule gehen oder was sie den ganzen Tag über treiben. Die meisten Frauen, die alleinerziehend sind, haben nebenher einen Job am Wochenende. Keine Familie kann mit nur einem Maquila-Job überleben. Die Maquilas bieten keine Möglichkeit, aus der Armut herauszukommen, aufzusteigen. Für viele Jugendliche bedeutet das: meine Eltern arbeiten ultra hart, erhalten dafür aber kein Geld. Warum sollte ich auch in die Fabriken gehen? Für viele sind in dieser Lage die organisierte Kriminalität und die Drogenkartelle viel attraktiver. Die sind zwar sehr gefährlich. Doch die Jugendlichen sehen: Darüber kann man schnelles Geld machen, da erhalte ich mehr auf die Hand an Dollar Noten, als die Leute hier im ganzen Viertel – so kann ich wenigstens ein paar Jahre ein gutes Leben haben. Es ist schwer, diesen Jugendlichen eine andere Perspektive zu bieten.

Drei mexikanische Migrant*innen mit Rucksack zu Fuß unterwegs
Mexikanische Migrant*innen auf dem Weg in eine hoffentlich bessere Zukunft | Quelle: Kathrin Zeiske

In Ciudad Juárez sammeln sich viele Menschen, die es bis dahin geschafft haben, nicht weiterkommen und sich niederlassen müssen. Wie spürt man das im Stadtbild? Gibt es eine ganz eigene Gesellschaft der Migrant*innen?

Eine Zeitlang war eine kubanische Gemeinde sehr präsent. Sie hatte sich in den Vierteln eingemietet hat, die eigentlich als gewalttätig verschrien und während des sogenannten Drogenkrieges entsprechend verlassen waren. Jetzt gerade sind es Menschen aus Venezuela und auch aus Mittelamerika – also einer Großregion, aus der schon seit Jahrzehnten Menschen vor Gewalt und extremer Armut fliehen. In der Stadt ist es auf jeden Fall der Zivilgesellschaft zu verdanken, dass es in den letzten Jahren nicht zu einer humanitären Katastrophe gekommen ist. Weil vor allen Dingen kleine Gemeinden der katholischen Kirche wie auch der evangelikalen Kirchen gesagt haben, wir müssen den Leuten helfen, die hier auf der Straße stehen. Wir können nicht in unseren Gemeinden Nächstenliebe predigen, wenn es so offensichtlich ist, dass hier Leute unsere Hilfe brauchen. Sie haben in den letzten Jahren drei Dutzend kleine Herbergen aufgemacht. Daneben gibt es noch zwei größere staatliche und bundesstaatliche Herbergen.

»Ich habe Ciudad Juárez eigentlich immer als eine sehr tolerante Stadt wahrgenommen.«

Dieses Netz der Herbergen hat es einfach möglich gemacht, dass Menschen nicht auf der Straße stehen, dass sie erst mal ankommen. In einer großen Suppenküche unter der Kathedrale bekommen Leute, die täglich vom Zug steigen, Essen. Diese Suppenküche gibt jede Woche Lebensmittelpakete an Menschen aus, die mit ihrer Familie irgendwo in einem kleinen Zimmer untergekommen sind. Das Netzwerk ist groß und an zwei Menschenrechtszentren gekoppelt, dort erhalten Leute eine umfassend gute Betreuung: Unterkunft, tägliches Essen und auch legalen Beistand. Denn leider ereignen sich bereits auf dem Weg hierhin viele Verbrechen, verübt einerseits von den Kartellen, aber auch von Polizeieinheiten. Und die Leute sind ohne Papiere und daher vollkommen schutzlos gegenüber jeglichen kriminellen Gruppen.


Das klingt nach einer starken Zivilgesellschaft. Gibt es umgekehrt auch Vorbehalte und Rassismus gegen Menschen, die aus Süd- und Mittelamerika kommen?

Ich habe Ciudad Juárez eigentlich immer als eine sehr tolerante Stadt wahrgenommen, es ist ja auch eine Stadt der Migrant*innen: Die ganze Stadt setzt sich heute aus migrantischen Gemeinden aus dem Süden Mexikos und aus anderen Ländern zusammen. Leider hat es vor anderthalb Jahren einen gesellschaftlichen Umschwung gegeben, auch durch die Digitalisierung des Asylrechts. Vorher hatten viele Menschen, die neu in die Stadt gekommen sind die Chance, Arbeit zu suchen und sich erst einmal niederzulassen; zu schauen, wie komme ich jetzt über diese unüberquerbare Grenze. Durch die Abhängigkeit von einer Asyl-App der Einwanderungsbehörden ist es unglaublich schwierig geworden, sich hier niederzulassen und zu leben, weil man täglich auf Abruf sitzt. Also immer mit der Frage, komme ich jetzt in dieses Asylverfahren rein, erhalte ich einen ersten Interviewtermin? Wie lange werde ich hier in der Stadt sein, sind das Wochen, sind das Monate? Da ist es unglaublich schwierig, sich einfach ein Job zu suchen und zu sagen, ich miete mich jetzt hier ein, ich komme erst mal an.

»Die Menschen in Ciudad Juárez haben ganz viel im Kopf und im Herzen.«

Vor anderthalb Jahren kamen ganz viele Menschen aus Venezuela in die Stadt und haben über Monate im Grenzfluss kampiert und gesagt, wir warten direkt vor den Augen der Border Patrol, die müssen uns einfach reinlassen. Diese Menschen standen dann täglich an den Straßen und haben Hilfe erbeten, auch ganz klar mit Schildern ‚Ich bin aus Venezuela‘ oder mit Nationaltrikots oder der venezolanischen Flagge. Auf einmal kam es zu einem gesellschaftlichen Umschwung, es kochte viel Rassismus in den sozialen Medien hoch, mit vielen Hasstiraden und Razzien in der Stadt. Menschen sind in ein Abschiebegefängnis eingepfercht worden, das eigentlich schon längst still stand, und dort ohne Wasser, ohne alles, einen ganzen Tag lang festgehalten worden. Die Gemüter kochten hoch und Leute zündeten Matratzen an, damit man sie rauslässt. Erst im letzten Moment wurde die Frauenzelle geöffnet. In der Männerzelle sind 40 Menschen qualvoll erstickt und nur 27 Personen wurden von der Feuerwehr gerettet. Diese Insassen sind nur mit ganz schweren Verbrennungen und gesundheitlichen Folgen davongekommen.

 

Auf dem Klappentext deines Buches wird erwähnt, dass es in Ciudad Juárez nicht nur Hate, Crime und Femizide gibt, sondern auch eine gute Lebensqualität. Was ist die schöne Seite dieser Stadt, was ist das schöne Leben in Ciudad Juárez?


Ciudad Juárez ist eine sehr komplexes Stadt mit vielen Parallelwelten. Es gibt eine starke und auch schnelle Zivilgesellschaft, die gesellschaftliche Probleme in Angriff nimmt und auf ganz unterschiedlichen Ebenen agiert. Es sind einfach tolle Menschen. Ich freue mich immer wieder, was für interessante Leute ich hier kennenlerne, die ganz viel im Kopf und auch im Herzen haben und die ganz viel für die Stadt und für andere Menschen tun. Sie tragen diesen Gedanken von Recht auf Stadt in sich und kämpfen für eine lebenswerte Stadt, in der alle integriert sind und in der es den Menschen auf allen Ebenen gut gehen soll.

 

Shownotes zur Ciudad Juàrez:

Ein Blick hinter die Kulissen der ›gefährlichsten Stadt der Welt‹ im Schatten der Mauer zu den USA: Ciudad Juárez - Alltag in der gefährlichsten Stadt der Welt

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