
»Wir sprechen von enormer Straflosigkeit«
Interview über Verschwundene in Mexiko
Das Verschwindenlassen in Mexiko stellt eine systematische Praxis dar, die bis in die 1960er-Jahre zurückreicht. Menschen werden entführt, gefoltert oder ermordet – das genaue Schicksal vieler ist unbekannt, auch weil die Aufklärungsrate verschwindend gering ist. So nehmen Angehörige die Suche selbst in die Hand, wie Juan Carlos Lozada, der seit 15 Jahren seinen Vater sucht. Wir sprachen darüber mit ihm und mit María Teresa Valdés von der mexikanischen Organisation SERAPAZ.
iz3w: Señor Lozada, Ihr Vater Juan Carlos Lozada Mahuem ist seit über 15 Jahren verschwunden. Was geschah damals?
Juan Carlos Lozada: Mein Vater verschwand am 7. Februar 2009 in Tulancingo, im Bundestaat Hidalgo. An diesem Tag erhielten wir einen Anruf von ihm, in dem er uns mitteilte, dass in sein Haus eingebrochen worden war und dass er sich um unsere Mutter sorgte. Dann hörten wir nie wieder etwas von ihm. Nach seinem Verschwinden standen wir vor großen emotionalen, aber auch ökonomischen Herausforderungen. Nachdem wir rechtlich Aufklärung verlangten, wurden wir bedroht und es wurden zahlreiche zivile Klagen gegen meinen Vater angestrengt. Da es mit seinem Verschwinden aber keine juristische Person gab, die sein Eigentum schützen konnte, verloren wir unser Haus und unseren Betrieb. So führten wir Gerichtsprozesse, in denen etwa der Richter absurderweise meinen verschwundenen Vater zur Aussage bat. 2009 gab es in Mexiko weder Bestimmungen, um die Rechte meines Vaters als Verschwundener zu schützen, noch verbriefte Rechte für uns als Familienangehörige. Wir mussten also auch um Rechte kämpfen.
120.000 Menschen gelten in Mexiko als verschwunden
Wen vermuteten Sie hinter den Drohungen gegen Ihre Familie?
JCL: Wir gehen davon aus, dass der Staat involviert war, also Leute von denselben öffentlichen Behörden, bei denen wir Beschwerden einreichten. Nach dem Verschwinden meines Vaters erstattete meine Mutter Anzeige. Sie verließ gerade die Staatsanwaltschaft, als sie den ersten Drohanruf erhielt. Nach der zweiten Beschwerde bei der Generalstaatsanwaltschaft erhielt sie ebenfalls kurz nach Verlassen des Gebäudes einen Drohanruf. Das passierte immer, sobald wir die Akten einsehen wollten. Die Drohungen wurden auch konkreter: mit Schüssen vor unserem Haus und hinterlassenen Patronenhülsen.
Wie ging es rechtlich weiter?
JCL: Es war sehr kompliziert, da es wie gesagt keinen rechtlichen Rahmen für den Fall meines Vaters gab. Die Staatsanwaltschaft zögerte, den Fall zu untersuchen, da es keine spezialisierte Zuständigkeit im Kontext von gewaltsamem Verschwindenlassen gab. Wir informierten uns also über die dafür nötigen Gesetze, die es in anderen Bundesstaaten schon gab und begannen für deren Implementierung in Hidalgo zu kämpfen. Wir setzten uns auch für eine autonome Suchkommission ein, um die Suche nach meinem Vater unabhängig von Ermittlungen fortsetzen zu können.
Señora Valdés, von welcher Größenordnung sprechen wir in Bezug auf das Verschwindenlassen in Mexiko?
María Teresa Valdés: Es ist ein riesiges gesellschaftliches Problem. Das systematische Verschwindenlassen existiert schon seit den 1960er-Jahren in Mexiko. Die Akteur*innen und Kontexte haben sich verändert, doch es passiert weiterhin, in allen Regionen und Bundesstaaten. Etwa 120.000 Menschen gelten in Mexiko als verschwunden (desaparecidos). Über 70.000 menschliche Leichen wurden nicht identifiziert.
Tatsächlich gibt es seit 2017 immerhin ein allgemeines Gesetz gegen das gewaltsame Verschwindenlassen. Die Regierung von Andrés Manuel López Obrador hatte einen Fokus auf dieses Thema gelegt und es gab Fortschritte, aber auch Schwierigkeiten dabei, die entsprechenden Institutionen für die Umsetzung zu schaffen. Trotzdem nahm im vergangenen Jahr die Zahl der Verschwundenen sogar zu.
Wie erklären Sie sich, dass die Zahl der Verschwundenen 2024 anstieg?
MTV: Das ist schwer zu sagen. Ein Aspekt ist die militarisierte Sicherheitspolitik im Land, die im letzten Jahr verschärft wurde. Das erhöht die Gewalt insgesamt. Der zweite Punkt ist die Straflosigkeit. Um ein Ziel zu erreichen ist das Verschwindenlassen eine gute Strategie, da die Akteur*innen offensichtlich keine Konsequenzen fürchten müssen. Was so gut funktioniert, wird wiederholt.
Der verleumdende Diskurs wird von staatlicher Seite gefüttert
Zudem hängt der Anstieg wahrscheinlich damit zusammen, dass es im Moment sehr viele kriminelle Gruppen gibt, was nicht bedeutet, dass sie die Haupttäter sind. Hauptakteure sind nach wie vor der Staat und dessen Beamt*innen. Aber das organisierte Verbrechen schafft Bedingungen, die es vereinfachen, Menschen verschwinden zu lassen.
Abgesehen von der Straffreiheit, wo sehen Sie die sozialen und politischen Ursachen für die Systematik des Problems?
MTV: Es gibt geheime Absprachen zwischen einigen staatlichen und kriminellen Akteuren. Das verhindert Fortschritte bei der Lösung des Problems. Mit Beginn des Krieges gegen den Drogenhandel ab 2006 unter Präsident Felipe Calderón gab es eine große Welle an desapariciones. Das hat die allgemeine Vorstellung verstärkt, dass das Verschwindenlassen vom organisierten Verbrechen kommt. Aber die Organisationen von Betroffenen widersprechen diesem Narrativ vehement, denn das Problem hat viele Ursachen. Es hat zu tun mit Menschenhandel, mit Sklaverei, mit der Verwendung von Menschen als Schutzschilde in bewaffneten Auseinandersetzungen.
Eine Folge der Verknüpfung mit dem organisierten Verbrechen ist, dass die Verschwundenen selbst damit in Verbindung gebracht und stigmatisiert werden. So gibt es in vielen Teilen der Gesellschaft wenig Empathie für die Menschen, die um ihre verschwundenen Angehörigen kämpfen.
Sie sagen, dass der Staat eine große Rolle spielt. Der schiebt die Verantwortung auf das organisierte Verbrechen und auf die internationale Ebene. Funktioniert dieses Narrativ?
JCL: Ja. Obwohl ich denke, dass die Zahlen für sich selbst sprechen müssten. Bei 120.000 desaparecidos und mehr als 70.000 nicht identifizierten Leichen ist klar, dass die Regierung nicht das tut, was sie tun sollte. Wir sprechen von einer fast absoluten Straflosigkeit, bei lediglich 40 Verurteilungen für das Verbrechen des gewaltsamen Verschwindenlassens. Nur 40 Verurteilungen! Der Staat ist in der Verantwortung die Schuldigen zu finden und vor Gericht zu bringen. Angesichts dieser Straflosigkeit kann man doch nicht sagen, dass das nur ein Problem des organisierten Verbrechens sei. Die Leute, die für die Ermittlungen zuständig sind, liefern einfach keine Ergebnisse. Und das obwohl die Familien der Angehörigen selbst Mechanismen der Ermittlung und Suche organisiert haben, was die Regierung nun allerdings abschaffen und ersetzen will.
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Der Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft zum Beispiel, weigert sich an den Sitzungen des nationalen Fahndungssystems teilzunehmen und über den Stand der Ermittlungen zu berichten. Das erweckt den Eindruck, dass die Suche und Identifizierung von Vermissten für die Staatsanwaltschaft unwichtig ist.
Was ist die Position der neuen Präsidentin Claudia Sheinbaum?
MTV: Obwohl sie seit hundert Tagen im Amt ist, stand das Thema noch nicht auf der Tagesordnung. Sie äußerte lediglich, dass sie interessiert sei, sich mit Kollektiven und Familien zu treffen, um gemeinsam eine politische Agenda zu erarbeiten. Das ist bisher nicht geschehen. Die Familien haben vom ersten Tag an ihre Bereitschaft signalisiert, zusammenzuarbeiten. Und wer könnte besser in der Lage sein, eine politische Agenda mitzugestalten als die Familien, die seit Jahrzehnten wichtige politische Arbeit leisten und Fortschritte bei der Suche nach Vermissten machen?
JCL: Ja, bisher passiert wenig vonseiten der Regierung. Aber ich denke, dass es für uns als Familien der desaparecidos wichtig ist, offen zu sein für den Dialog. Diese Bewegung hat seit vielen Jahren eine politische Agenda erarbeitet. Ich denke, wir haben gezeigt, dass wir für die Aufklärung der Verbrechen ein wichtiger Teil sind. Trotzdem werden wir öffentlich diffamiert und die Regierung verbreitet Falschaussagen über uns.
Wie wirkt sich das aus?
JCL: Der verleumdende Diskurs wird von staatlicher Seite gefüttert. Wenn es immer wiederholt wird, dann glaubt es die Gesellschaft. Und so erleben wir nicht nur Stigmatisierung, sondern auch Aggressionen gegen die Angehörigen von Verschwundenen. Suchende werden umgebracht. Die Suche versetzt uns in einen Zustand der Verwundbarkeit. Wir können jeden Moment getötet werden, nur, weil wir um Gerechtigkeit für unsere verschwundenen Angehörigen kämpfen.
MTV: Es gibt eine starke Zunahme von Morden an Menschen, die ihre Angehörigen suchen. Zwischen 2018 und August 2024 wurden neun Personen als vermisst gemeldet. Was die Tötungsdelikte betrifft, so gab es zwischen Februar 2011 und August 2024 22 Morde an Angehörigen von Verschwundenen, die nach ihnen suchten; fünf dieser Ermordeten waren vor ihrer Ermordung verschwunden. Und die Dunkelziffer ist noch viel höher. Viele Menschen entscheiden sich deshalb gegen die Suche nach ihren Angehörigen. Und wenn die Regierung die Suchenden kriminalisiert oder stigmatisiert, erhöht es das Risiko von Gewaltverbrechen weiter.