
Rettung oder Zurückweisung?
Die Politik der Türkei während des Holocaust
Die Entlassung jüdischer und oppositioneller Intellektueller von ihren Arbeitsplätzen war 1933 eine der ersten Maßnahmen des NS-Regimes. Zur gleichen Zeit betrieb die Regierung der Türkei eine Modernisierung ihres Hochschulwesens und suchte so nach international renommierten Wissenschaftskräften.
Diese Überschneidung führte dazu, dass ab Herbst 1933 eine beachtliche Zahl deutsch-jüdischer Wissenschaftler*innen Anstellungen in der Türkei fanden, wo sie bei Umgestaltung und Aufbau von wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen mitwirkten. In vielen Bereichen leisteten diese Emigrant*innen Pionierarbeit. Die Tatsache, dass es sich bei vielen um hochkarätige Wissenschaftler*innen handelte, und die hohe Zahl von Publikationen zum Thema ‚Exil Türkei‘ erwecken den Eindruck, die Türkei sei ein wichtiges Exilland für verfolgte Juden gewesen. Das ist jedoch ein Mythos, den Ankara gern zu Propagandazwecken nutzt. Die Realität sah anders aus.

Nationalistische Politik der »Türkisierung«
1933 bereitete die Türkei sich auf die Feiern zum 10. Jahrestag der Republik vor. Ein vorrangiges Ziel der türkischen Politik war es, auf den Trümmern des multiethnischen Osmanischen Reiches durch eine »Türkisierung« der Wirtschaft, Gesellschaft, Sprache und Geschichte einen homogenen Nationalstaat zu errichten. Nichtmuslim*innen wurden aus zahlreichen Berufen verdrängt und unterlagen rechtlichen Einschränkungen und Einschüchterungen in einem nationalistischen Klima. Während der 1930er-Jahre nahm diese Politik teilweise rassistische Züge an. Das 1934 erlassene Ansiedlungsgesetz (iskân kanunu) ermächtigte die Regierung, die Bevölkerung ganzer Regionen zwangsweise umzusiedeln, falls sie als nicht ausreichend ‚türkisiert‘ eingestuft wurde. Hauptopfer dieser Politik waren die Kurd*innen. Doch auf Grundlage des Ansiedlungsgesetzes wurde im Sommer 1934 auch die jüdische Bevölkerung Thrakiens gewaltsam aus ihren Wohngebieten vertrieben.
In der Türkei ansässige deutsche Exilant*innen benötigten einen »Ariernachweis«
Auch Ankaras Politik gegenüber jüdischen Flüchtlingen folgte in erster Linie nationalistischen Maximen und war vor allem auf deren Abwehr ausgerichtet. Sie wurden entsprechend dem Ansiedlungsgesetz als »unerwünschtes Bevölkerungselement« betrachtet. Zahlreiche Gesetze und Dekrete sollten eine Einreise jüdischer Menschen verhindern. Ein Erlass vom August 1938 untersagte »ausländischen Juden, die in ihren Heimatländern Restriktionen unterworfen sind (…) unabhängig davon, welcher Religion sie aktuell angehören« die Einreise in die Türkei. Auch in der Türkei ansässige deutsche Exilant*innen benötigten nun tatsächlich einen »Ariernachweis«, wobei die türkische Regierung für einzelne Personen Ausnahmen beschließen konnte.
1938 – nach Ablauf der ersten Fünfjahresverträge wurden zahlreiche Emigrant*innen ausgewiesen. So wurde die Türkei nur für eine zahlenmäßig sehr kleine Gruppe jüdischer Menschen zum Exilland, ihre Gesamtzahl war so gering, dass das Land in keiner Statistik über Fluchtländer Erwähnung fand.
Ab Beginn des Krieges und während des Holocaust hatte diese Politik fatale Konsequenzen für die jüdische Bevölkerung Ost- und Südosteuropas, da die Türkei durch den Krieg zur einzigen Fluchtroute auf dem Weg nach Palästina geworden war. Zwar gestattete Ankara ab 1941 monatlich jeweils einer kleinen Zahl von Menschen unter scharfen Auflagen die Durchreise durch die Türkei, doch unendliche bürokratische Hürden machten das Land bis Mitte 1944 zum Nadelöhr.
Die jüdische Bevölkerung der Türkei
Für die jüdische Bevölkerung waren die Jahre von 1933-1945 die dunkelste Zeit ihrer Geschichte. Klassiker des Antisemitismus wie die »Protokolle der Weisen von Zion« und Schriften wie die von Hitler oder Theodor Fritsch wurden ins Türkische übersetzt. Antisemitische Stereotype fanden auch Eingang in Mainstreammedien. Auf die Vertreibung aus Thrakien im Sommer 1934 folgte 1941 die Einberufung von Juden (und Christen) zu Arbeitsbataillonen, wo sie unter Bewachung und Drohungen seitens türkisch-muslimischer Soldaten Zwangsarbeit verrichten mussten.
Im Herbst 1942 wurde unter dem Vorwand der hohen Kriegskosten eine Sondersteuer (varlık vergisi) erlassen, die vor allem dazu diente, die jüdische und christliche Bevölkerung zu enteignen. Die Steuer wurde durch eine offen antisemitische Kampagne in der Presse begleitet. Der Besitz derjenigen, die die häufig astronomisch hohen Summen nicht aufbringen konnten, wurde öffentlich versteigert. 1.200 jüdische und christliche Personen wurden zur Zwangsarbeit in Lager in Ostanatolien verschleppt. So wanderte 1948 nach Gründung des Staates Israels mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung der Türkei aus.
Türkische Staatsangehörige in Europa
Infolge der nationalistischen Politik während der 1920er- und 30er-Jahre emigrierte die jüdische Bevölkerung zu Zehntausenden nach Süd- oder Nordamerika sowie in zahlreiche Länder Europas, wo sie eigene türkisch-jüdische Gemeinden gründete. Allein in Frankreich betrug ihre Zahl etwa 20.000 (doppelt so viel wie die heutige jüdische Bevölkerung der Türkei).
Etwa 2.500 jüdische Menschen türkischer Abstammung wurden Opfer des Holocaust
Ab 1933 in Deutschland und mit der sukzessiven Besetzung der europäischen Staaten waren auch sie der nationalsozialistischen Verfolgung ausgesetzt. Außenpolitische Belange zwangen das NS-Regime dazu, für ausländische jüdische Staatsangehörige Ausnahmen zu machen. Im Falle der neutralen Türkei verschafften deren Bedeutung für die deutsche Kriegsführung und die große Zahl in der Türkei lebender ‚Reichsdeutscher‘ Ankara enorme Möglichkeiten, ihre in Europa lebenden jüdischen Bürger*innen zu schützen. Mehrere türkische Diplomaten nutzten diese Konstellation erfolgreich, um für jüdische Personen Erleichterungen zu erwirken, und setzten sich in zahlreichen Einzelfällen für die Freilassung Verhafteter ein. Allein durch die Anerkennung der türkischen Staatsbürgerschaft einer jüdischen Person konnten Diplomaten Menschenleben retten, wie das Beispiel des Konsuls Selahattin Ülkümen auf Rhodos zeigt, der etwa 40 Menschen vor der Deportation bewahrte.
Die Politik Ankaras war indes in erster Linie darauf ausgerichtet, eine Rückkehr von Jüdinnen und Juden in die Türkei zu verhindern. Schon während der 1930er-Jahre hatte die Türkei vielen im Ausland lebenden jüdischen Bürger*innen die Staatsbürgerschaft entzogen. Auch wenn diese Politik ursprünglich nicht antisemitisch begründet war, sondern im Rahmen der Nationalstaatsbildung zu verstehen ist, richtete sie sich während des Holocaust zu etwa 90 Prozent gegen jüdische Menschen. Erschwerend hinzu kam, dass den Ausgebürgerten auf Lebenszeit das Betreten türkischen Bodens verwehrt blieb. So wurden auch Vorschläge von Hilfsorganisationen, jüdischen Menschen mit ungeklärter oder ehemaliger türkischer Staatsangehörigkeit zumindest vorübergehend Aufnahme ins Land zu lassen, abgelehnt.
Im Oktober 1942 stellte die NS-Regierung den neutralen Staaten ein Ultimatum zur Repatriierung ihrer jüdischen Staatsangehörigen aus dem NS-Machtgebiet, anderenfalls würden diese »in die allgemeinen Judenmaßnahmen einbezogen«. Die türkischen Juden bildeten hierbei die größte Gruppe. Allein für Nordfrankreich gingen die deutschen Stellen von 4.000 – 5.000 Personen aus. Ankara reagierte auf dieses Ultimatum mit der Ausbürgerung weiterer Tausender in Europa lebender türkisch-jüdischer Menschen und wies ihre Konsulate an, keine Gruppenrepatriierungen durchzuführen. Maßgeblich für die Politik der Türkei war es, »eine Masseneinwanderung von Juden in die Türkei zu verhindern« wie der Vertreter der türkischen Botschaft, Kemal Koç, im September 1943 erklärte. Die Rückführung von 120 Personen aus Paris 1943 und 32 Personen aus Athen im Winter 1943/44 ist vermutlich der Eigeninitiative örtlicher Konsuln zu verdanken.
Auf die Verhaftung Hunderter jüdisch-türkischer Menschen in Belgien, Holland, Deutschland und Italien nach Ablauf des Ultimatums und ihre Deportation in Konzentrationslager reagierten zwar einige Konsuln mit Eingaben für Einzelpersonen, aber ein Protest Ankaras blieb aus. Erst nach monatelangem Druck jüdischer Hilfsorganisationen sowie von Vertretern der USA gestattete die türkische Regierung im Frühjahr 1944 die Repatriierung mehrerer Hundert jüdischer Menschen aus Frankreich.
Noch im April 1945, verweigerten die türkischen Stellen den meisten von 130 türkisch-jüdischen Überlebenden, die aus den KZ Bergen-Belsen und Ravensbrück befreit und im Rahmen eines Austausches von Zivilinternierten nach Istanbul gebracht wurden, die Einreise. Erst nach tagelangen Verhandlungen jüdischer Hilfsorganisationen und gegen Zahlung einer Kaution durften die KZ-Überlebenden an Land, wurden jedoch interniert.
Etwa 2.500 jüdische Menschen türkischer Abstammung wurden Opfer des Holocaust. Bis heute hat sich die Türkei nicht um eine Aufklärung ihrer Schicksale gekümmert, sondern ihr Leid für die eigene Propaganda funktionalisiert: Angeblich hätten türkische Diplomaten »unter Einsatz des eigenen Lebens« Juden vor der NS-Verfolgung gerettet*. Der Antisemitismus, der damals Verbreitung in der Türkei fand, gehört heute zur herrschenden Ideologie des Landes.