Grenzzaun Polen-Belarus, eine der tödlichsten EU-Außengrenzen.
Grenzzaun Polen-Belarus: 5,5 Meter Stahl und Stacheldraht gegen Asylsuchende | Foto: Kancelaria Prezesa Rady Ministrów

Notstand im Asylrecht

Polens ‚liberale‘ Regierung setzt Beantrag­ung von Asyl aus

Die polnisch-belarussische Grenze ist eine der tödlichsten EU-Außengrenzen. Zwischen dem Grenzschutz beider Länder sind Geflüchtete Pushbacks und Gewalt ausgesetzt. Ein am 27. März verabschiedetes Gesetz formalisiert diese illegalen Praktiken auf polnischem Boden und setzt das Recht auf Asyl temporär aus. Ein Tabubruch, der zum Vorbild werden könnte.

von Felix Adamczewski

14.04.2025

Kurz vor der Präsidentschaftswahl wandelt Polens ,liberale‘ Regierung in den Fußstapfen ihrer rechtsextremen Vorgänger. Als die PiS (Prawo i Sprawiedliwość, Recht und Gerechtigkeit) 2021 das Recht auf die Beantragung von Asyl an der polnisch-belarussischen Grenze aussetzte, mobilisierte die Opposition noch dagegen. An der Macht verfolgt sie jetzt dieselbe Politik: Seit dem 27. März ist in Polen ein Gesetz in Kraft, das es der Regierung im Notfall ermöglicht, das Recht auf Asyl zeitweise auszusetzen. Noch in der Nacht der Unterzeichnung machte die Regierung des pro-europäischen Wahlbündnisses des Ministerpräsidenten Donald Tusk davon Gebrauch. Damit wird es Menschen verwehrt, innerhalb eines nicht näher definierten Grenzbereiches an der polnisch-belarussischen Grenze Asyl zu beantragen.

Tusk muss keine negativen Konse­quenzen seitens der EU befürchten

Seit dem Aufkommen der Route im Sommer 2021 sind NGOs und Aktivist*innen vor Ort, um Menschen in Notlagen zu helfen und Pushbacks zu stoppen oder zumindest zu dokumentieren. Jetzt sehen sie sich mit einer unklaren Situation konfrontiert. »Wir hatten ein wenig Hoffnung, dass die Zeile ‚an der Grenze‘ bedeuten würde, dass die Direktive nur die Legalisierung einer laufenden Praxis der Grenzpolizei und des Militärs wäre, nämlich Menschen aus der direkten Nähe des Zaunes oder aus der eingerichteten No-Go-Zone abzuschieben. Aber nach allem, was ich höre, scheint die Interpretation der Grenzpolizei zu sein, dass die Grenze überall ist«, sagt Luca (Name geändert), Mitarbeiter einer NGO, die in dem Gebiet einen Stützpunkt betreibt.

Die Situation könnte ähnlich werden wie vor zwei Jahren, als die rechte PiS noch an der Macht war und versuchte, alle Geflüchteten abzuschieben, meint Luca. Der Unterschied sei, dass die Opposition da noch auf der Seite der NGOs und Aktivist*innen gestanden habe. Finanzielle Unterstützungen und auch der Rückhalt großer liberaler Medien sei jetzt aber weggefallen. Schließlich ist es mit Donald Tusk nun die ehemalige Opposition, die an der Macht ist und diese Gesetzesverschärfungen durchsetzt. Hatte Tusks Ankündigung des Gesetzes im Oktober 2024 noch für Kritik und Aufsehen gesorgt, scheint die Umsetzung nun ohne großes Interesse der europäischen Öffentlichkeit zu verlaufen. Dass das Gesetz so lange schon angekündigt war und erst jetzt in Kraft tritt, hängt wohl mit den Präsidentschaftswahlen zusammen, die für den 18. Mai angesetzt sind. Sowohl Regierungschef Tusk (PO) als auch Staatspräsident Duda (PiS) wollen Handlungsfähigkeit demonstrieren, bevor ihre Parteien in einer Wahl gegeneinander antreten, die auch als Referendum über Tusks Anti-PiS Bündnis »Platforma Obywatelska« verstanden werden kann.

Nationale Allein­gänge

Die Ankündigung des Gesetzes im letzten Jahr erschien dabei vor allem als Reaktion auf die deutsche Entscheidung im September 2024, die ‚temporären‘ Grenzkontrollen an der deutsch-polnischen Grenze zu verlängern. Tusk reagierte auf den deutschen Alleingang mit der Ankündigung, Polen stehe unter existentiellem Druck und müsse das Asylrecht gewissermaßen zum Selbstschutz aussetzen. Außerdem könne man keine Dublin-Rückkehrenden mehr aufnehmen. Wenn Deutschland sich nicht an die Regeln halte, dann könne Polen das auch nicht. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass Ende 2024 auf beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenze vermeintlich liberale Parteien regierten.

Das Gesetz deckt rassistische Schnitt­mengen zwischen dem rechten Rand und der bürger­lichen Mitte auf

Für die Menschen, die versuchen, die belarussisch-polnische Grenze zu überqueren, ändert sich durch das Gesetz auf den ersten Blick wenig: Es legalisiert lediglich eine Praxis, die schon seit 2021 weit verbreitet war. Pushbacks, also illegale Abschiebungen von Menschen, die nach Asyl fragen, sind an der belarussisch-polnischen Grenze an der Tagesordnung. Trotzdem berichten an der Grenze aktive NGOs, dass die Zahl der Pushbacks seit der Ankündigung des Gesetzes gestiegen sei. Grenzbeamte würden Migrant*innen vorwerfen, mit den belarussischen Behörden zusammenzuarbeiten. Dabei wirke das Narrativ der polnischen Regierung, Belarus würde »hybride Kriegsführung« betreiben und Geflüchtete nutzen, um Polen zu »destabilisieren«. Was auch in europäischen Medien gerne als Kooperation zwischen Migrierenden und dem Regime Lukaschenkos dargestellt wird, zeigt sich in Wirklichkeit vielschichtiger. Statt einem staatlich organisierten Netzwerk, scheinen sich Schmuggler in Belarus zwar unter Mitwissen der Behörden zu organisieren, Migrierende selbst müssen diesen aber ausweichen*.

Einmal an der Grenze angekommen, werden die Menschen unter Androhung und Anwendung von Gewalt gezwungen, die Überquerung nach Polen zu versuchen, auch wenn sie körperlich dazu gar nicht in der Lage sind. Sowohl dem belarussischen als auch dem polnischen Militär ausgesetzt, werden Asylsuchende immer wieder auf die andere Seite des Grenzstreifens geschoben oder sitzen dort fest. Die Gruppe We Are Monitoring hat seit 2021 fast 11.300 Pushbacks dokumentiert. 90 Menschen sind an der Grenze seitdem verstorben *.

Die Natur als Grenz­schützer

Sechs Monate nach dem ersten Notstand 2021, der die Beantragung von Asyl innerhalb eines Streifens entlang der Grenze aussetzte, stellte Polen seinen ersten Grenzzaun fertig. Anfangs verlief der Zaun nur lückenhaft innerhalb des polnisch-belarussischen Bialowieza-Nationalpark, mittlerweile verläuft der circa fünf Meter hohe Zaun entlang der gesamten Grenze. Die Überwachung und Befestigung ist dort am stärksten, wo ein Übertritt das geringste Risiko für Geflüchtete hätte. Das dient nicht der absoluten Unterbindung der Migrationsbewegung, sondern ihrer Lenkung. Geflüchtete werden so immer weiter in den Wald, ein riesiges Sumpfgebiet nördlich des Nationalparks, oder nach Süden gedrückt, wo der Fluss Bug verläuft. Dort ist nicht nur die Versorgungslage am schlechtesten, Geflüchtete brauchen teilweise mehrere Tage, um Wald und Sumpf zu durchqueren.

Nachdem sie in den meisten Fällen bereits auf der belarussischen Seite in Obdachlosigkeit waren und teilweise bereits mehrere Überquerungsversuche hinter sich haben, sterben immer wieder Menschen an Unterkühlung und Erschöpfung. Statt die dreckige Arbeit selbst zu erledigen, nutzt Polen den Wald als Grenzschutzmechanismus. Das folgt der Logik der Festung Europa: people on the move keinen Weg außer den in die höchsten Gefahren zu lassen, um im Nachhinein zu behaupten, sie hätten sich freiwillig oder gar unter Gefährdung Anderer dem Risiko ausgesetzt. Verweigert man den Menschen jetzt die Möglichkeit, nach dem Überqueren der Grenze Asyl zu beantragen, setzt man sie diesen Gefahren nur noch schutzloser aus. Aktivist*innen befürchten, dass Menschen in Notlagen keine Hilfe mehr anfordern werden. Auch wenn sie überlebenswichtig sein könnte. Denn jede Aufmerksamkeit bedeutet ein Abschieberisiko.

Vorbild Polen?

Obwohl die Gesetzesänderung also nur bestehende Praxis legalisiert, droht der Schritt das Recht auf Asyl auszusetzen, zum Vorbild zu werden. Dabei handelt es sich um alles andere als eine Neuheit. Die Entscheidung der ungarischen Regierung das Recht auf Asyl auszusetzen, war schließlich der Auslöser für die Öffnung der deutschen Grenze und Aufnahme der in Ungarn gestrandeten Asylsuchenden im Sommer 2015. Zwar wurde Ungarn unter anderem dafür von der Europäischen Union abgestraft, geändert hat das die Entscheidung aber nicht. Als Griechenland 2020 das Recht auf Asyl aussetzte, um auf die Entscheidung der Türkei zu reagieren, Geflüchtete nicht mehr aufzuhalten, kam es nicht einmal mehr zu Abstrafungen. Erdoğan warf man vor, Geflüchtete zu instrumentalisieren und den EU-Türkei-Deal platzen zu lassen, während Griechenland die Grenzen schloss, massiv gegen Menschenrechte verstieß und von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dafür als »Schutzschild Europas« gelobt wurde.

Tusk wähnt sich in einem »hybriden Krieg der illegalen Migration«

Wie sein damaliger griechischer Amtskollege muss Tusk keine negativen Konsequenzen seitens der EU befürchten. Schließlich beruht die temporäre Aussetzung des Rechts auf Asyl im Notstand auf dem neuen Gemeinsamen Europäischen Asylsystem. Sie liegt außerdem im Interesse aller aktuellen Regierungen in Europa, auch der angehenden deutschen. Da eine dauerhafte Aussetzung aber sowohl gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und damit gegen Internationales Recht als auch gegen die polnische Verfassung verstößt, bleibt abzuwarten, ob die Verlängerungen des Notstands Möglichkeiten für Klagen vor dem EUGH eröffnen.

Das könnte auch der Grund sein, warum die Aussetzung erst so kurz vor der Präsidentschaftswahl erfolgte: Tusks zweifelhafter Erfolg könnte von kurzer Dauer sein. Da er und der Präsidentschaftskandidat seines Bündnisses, Rafał Trzaskowski, die einzige Alternative zum von der ehemals regierenden PiS unterstützen Karol Nawrocki darstellt, scheint er im Moment von Europa aber nichts befürchten zu müssen. War die EU gegen PiS noch unter anderem wegen ähnlicher Verschärfungen in der Asylpolitik rechtlich vorgegangen, können sich Tusk und sein Wahlbündnis als bekennende Europäer*innen der Unterstützung aus Brüssel sicher sein.

Militarisierung und Humani­tarisierung

Trotzdem kristallisieren sich in der aktuellen polnischen Asyldebatte zwei relevante Verschiebungen heraus: die gleichzeitige Humanitarisierung und Militarisierung der Migrationspolitik. Beide sind alles andere als neu. Denn das Recht auf Asyl wird seit Jahren vor allem eingeschränkt, indem der Personenkreis begrenzt wird, der überhaupt Zugang hat. Das erlaubt es Europa nicht nur, bestimmte Formen der Migration (z.B. durch das Dublin-Verfahren) per se als illegal zu markieren, sondern die Verantwortung für die Abweisung den Migrierenden selbst zuzuschieben. Demgegenüber stehen die humanitären Ausnahmen, für die auch in der neuen Gesetzesänderung Platz gelassen wurde. So wurden seit dem Inkrafttreten der Aussetzung am offiziellen Grenzübergang in Terespol (dem einzigen, der noch offen ist) bereits mehreren besonders vulnerablen Menschen die Antragstellung gewährt. Ausnahmen dieser Art sind aber Ermessenssache. Sahen sich die Grenzbeamten vorher schon dazu befähigt, selbst zu entscheiden, wer einen Antrag stellen darf und wer nach Belarus abgeschoben wird, ist diese gefährliche Verschiebung von Entscheidungsbefugnissen auf die Exekutive jetzt formalisiert. Da sie für diese Art der Einschätzung und Entscheidung nicht ausgebildet sind, darf man davon ausgehen, dass solche Entscheidungen vor allem der Willkür der jeweiligen Beamt*innen obliegt.

Für Antragstellende bedeutet das vor allem Unsicherheit: Menschen in besonders prekären Lagen könnten in der Hoffnung, zu den Ausnahmefällen zu gehören, versuchen die Grenze zu überqueren. Dieser Schritt alleine bedeutet schon beachtliche Gefahren, besonders für schutzbedürftige Personen. Unsicher ist, ob sie in Polen auch als solche anerkannt werden oder mit einem Pushback rechnen müssen. Dass dieses Problem alles andere als theoretisch ist, hat sich in den letzten Tagen schon gezeigt: Zwei Tage nach der Aussetzung wurde ein Antragsteller aus einem Krankenhaus in Hajnowka abgeschoben, indem er behandelt wurde.

Die Ausnahme verschleiert aber vor allem eine neue Regel: dass nämlich all diejenigen, die zwar einen flüchtlingsschutzrelevanten Grund für die Antragstellung haben, aber nicht zu den vulnerablen Personen gehören oder nicht als solche anerkannt werden, von der Antragstellung ausgeschlossen sind. Statt politischen Gründen und dem allgemeinen Recht auf Antragstellung, rücken immer mehr humanitäre Logiken in den Fokus. Obwohl die Hilfestellung für besonders vulnerable Gruppen vor allem an den Außengrenzen in jedem Fall aufrechterhalten werden muss, stellt ein Ausschluss der Antragsstellung für alle anderen Asylsuchenden eine Aushöhlung des Rechtes auf Asyl dar. Denn die inhaltliche Prüfung, das individuelle Verfahren und die Gewährung basierend auf den vorgebrachten Gründen stellen die zentralen Lektionen aus den Verfehlungen der Geflüchtetenpolitik des Zweiten Weltkrieges dar. Das viel beschworene ‚Ende des Asyls‘ wird aller Wahrscheinlichkeit nicht durch eine ausnahmslose Aussetzung kommen, sondern durch eine immer weiter fortschreitende Humanitarisierung der Grenze, die sich irgendwann nur noch an dem Mitleid misst, das die aufnehmende Bevölkerung empfindet – oder eben nicht.

Geflüchtete als feind­liches Heer

Gegen alle anderen wird in Polen bald militärisch vorgegangen werden. Schon ein Jahr, nachdem von der Leyen Griechenland als das Schutzschild Europas bezeichnete und Erdoğan die Instrumentalisierung des Leides Asylsuchender vorwarf, sprach man in Warschau nicht von Druckmitteln, sondern von hybrider Kriegsführung. Minsk, eigentlich Moskau, würde people on the move bewusst zur Destabilisierung Polens einsetzen. Migrierende Menschen wurden so kurzerhand in ein feindliches Heer gemustert, das es sich in den Augen der damaligen PiS-Regierung zur Aufgabe gemacht hatte, Europa zu zerstören.

Dass gerade Tusk, der als vermeintlicher Kandidat der Mitte und Europäer 2023 mit seinem Bündnis die Wahl gewonnen hatte, jetzt derjenige ist, der die Politik der PiS umsetzt, deckt rassistische Schnittmengen zwischen dem rechten Rand und der bürgerlichen Mitte auf. An diesem Kurs beteiligen sich auch Tusks vorgeblich liberale Kollegen. Der britische Premierminister Starmer forderte am 31. März vierzig weitere Staatsoberhäupter auf, Schmuggler*innen wie ‚Terroristen‘ zu behandeln und zu stoppen. Ausgeblendet wird, dass Migrant*innen gerade wegen der europäischen Grenzpolitik Schmuggler*innen ausgeliefert sind, in der Vergangenheit die Verfolgung von Schmuggler*innen vor allem zu Kollateralschäden und zur Kriminalisierung von Migration selbst gedient hat und dass zu guter Letzt auch der Krieg gegen den Terror, auf den Starmer anzuspielen scheint, keine Erfolgsgeschichte war.

In Polen hat die Verschiebung von kriminalisierender zu militarisierter Migrationspolitik schon erste materielle Auswirkungen. Tarcza Wschód (»östliches Schild«), ist ein 2,4 Milliarden Euro schweres militärisches Infrastrukturprojekt, das die physischen Grenzbarrieren massiv ausbauen soll. Es dient vor allem zur Verteidigung gegen einen militärischen Überfall aus dem Osten. Zu dem bereits bestehenden Zaun, der Überwachung und dem Stacheldraht, sollen Panzersperren, Gräben, mehr Stacheldraht, mehr Soldaten und Minen kommen. Die Auswirkungen auf die Migration sind dabei kein Zufall. Schließlich wähnt sich Tusk in einem »hybriden Krieg der illegalen Migration«. Ob es Polen auch dann noch ausreichen wird, sich auf die Natur als Grenzschutzmechanismus zu verlassen – und vor allem was die Alternativen sind –, wird sich zeigen.

Felix Adamczewski ist Soziologe und schreibt zu Grenzgewalt und EU-Migrationspolitik.

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