Wandgemälde von Vanessa Moncayo Gonzalez für »Mahsa (Zhina) Amini«. women, life, freedom. Einleitung in das Dossier Islamismus
Wandgemälde der Künstlerin Vanessa Moncayo Gonzalez für »Mahsa (Zhina) Amini«, London 2022

Karrieren einer Ideologie

Anmerkungen zum neuesten Politischen Islam

Der Politische Islam verändert sich gerade immens. Während er im Nahen Osten stagniert und sich in die bestehende politische Landschaft einordnet, wächst er in anderen Weltregionen, in Europa nicht zuletzt im Zeichen der Identität.

von Oliver M. Piecha

07.04.2025
Veröffentlicht im iz3w-Heft 408
Teil des Dossiers Islamismus

Eigentlich ist das Thema ziemlich durch. Nach Jahrzehnten der Aufmerksamkeit, die der »Islam« vor allem der westlichen Welt abgenötigt hat, kann man eine gewisse Ermüdung konstatieren. Selbst die Kopftuchdebatte ist weggedämmert. Der Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober 2023 hat kurz an den Politischen Islam erinnert, doch der Komplex Israel-Palästina ist von zu vielen weiteren Aspekten durchdrungen, der Islamismus der Hamas erscheint da schnell als folkloristischer Zierrat. Mit dem Sturz des syrischen Assad-Regimes im Dezember 2024 durch eine Offensive islamistischer Kämpfer geisterte der Begriff der Dschihadisten für eine Weile in den Schlagzeilen herum. Zweifellos waren diese Kämpfer einmal richtige Dschihadisten gewesen, aber nun verhalten sie sich nicht mehr wie solche.

Ein paar unentwegte Mahner erlebten immerhin eine kleine Sternstunde mit ihrem Lieblingsthema, dass das mit der Freiheit und Demokratie im Islam nichts werden könne. Doch als schließlich eine Reihe muslimischer Männer, die als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen waren, zum Messer oder Autoschlüssel griffen, um im Namen ihrer religiösen Überzeugung wahllos zu töten, war das nur noch ein Stichwort für die ewige Abschiebungsdebatte.

Ignoranz oder Hysterie im Westen

Vor allem zwei Reaktionen gibt es in Deutschland zum Thema Politischer Islam: Ignoranz oder Hysterie. Die Ignoranz ist zweigeteilt: Einmal speist sie sich aus geistiger und alltagspraktischer Erschöpfung. Auch an einen Nikab in der Schlange an einer Drogeriekasse kann man sich also gewöhnen, zumal, wenn es hessisch gefärbt darunter hervorbabbelt. Wahrscheinlich ist das sogar ein Beispiel für »gelungene Integration« von allen Seiten. Die andere Varietät der Ignoranz kommt politisch daher und speist sich aus dem Unwillen, dass die ja offensichtlich irgendwie mit »Islam« in Verbindung stehende, verstörende Gewalt islamistischer Attentäter überhaupt Aufmerksamkeit erregt. Aus gängiger antirassistischer, postkolonialer oder antiimperialistischer Perspektive handelt es sich hier um die falschen Täter. Am besten, man ruft umgehend zu Protesten »gegen rechts« auf, das passt immer.

Die andere Fraktion, die mit der Hysterie, sieht vor lauter Kopftüchern und Minaretten keinen Horizont mehr. Dann steht der Politische Islam quasi kurz vor der Machtübernahme. Im Detail sind solche Alarmberichte oft durchaus korrekt, nur im Gesamtbild stimmt nichts mehr. So sprach am 28. Februar 2025 eine Überschrift in der Neuen Zürcher Zeitung vom »weltweiten Siegeszug des Jihadismus«. Von welchem Planeten da wohl die Rede war?

Ramponierter Iran und ein neues Syrien

In der hiesigen Welt stellt der Politische Islam mit seinen Spielarten doch eher ein ramponiertes Projekt dar. Sein Glanz als große Antwort auf die Zumutungen der Moderne ist stumpf geworden. Um sich das vor Augen zu führen, muss man nur einen Blick auf die Islamische Republik Iran werfen. Deren Gründung 1979 löste ja tatsächlich einen »weltweiten Siegeszug« des Islamismus mit aus, und praktisch alle muslimischen Gesellschaften wurden davon massiv beeinflusst. Auch den Westen hat das verändert, denn es gab Zeiten, da dachte man, man könnte über jede Religionen Witze machen.

Nur: Womit auch immer man die fürchterliche Beharrungskraft der iranischen Diktatur erklären mag, die eine Protestwelle nach der anderen niederschlägt – mit einer etwaigen ideologischen Attraktivität dieses Systems hat das nichts zu tun. Jüngst konnte man iranische Schulmädchen in Internetvideos bestaunen, die mit verächtlich heruntergezogenem Kopftuch dem Bild des greisen Revolutionsführers an der Wand den Mittelfinger entgegenstrecken: Das also ist das Ergebnis von über vier Jahrzehnten islamistischer, staatlicher Indoktrination.

Die Zeit seit der iranischen Revolution von 1979 kennzeichnet den Aufstieg – und Fall –der Ideologie des Politischen Islams als Generationenprojekt. Damals wurde der »Islam« zu jener ominösen Größe, vor der man im Westen gerne mit Schaudern erstarrt. Vorher galt er gemeinhin als abgehalftertes und pittoreskes Relikt der Vergangenheit. Der Erfolg des Politischen Islam bestand vor allem in der totalen Niederlage seines bis dato erfolgreicheren Konkurrenten, des Nationalismus. Das durch Islamisten herbeigeführte Ende der Assad-Regimes, das als syrischer Ableger der panarabischen Baath-Parteien offiziell (wenn auch schon lange nicht mehr ernsthaft) dem arabischen Nationalismus verpflichtet war, erscheint so als folgerichtiger Endpunkt einer langen Entwicklung. Doch Endpunkte lösen sich bei näherer Betrachtung gerne auf, und es zeigt sich, dass die Islamisten in Syrien auch nicht mehr die sind, die sie mal waren.

Der de facto Herrscher Ahmed Al-Schaara hat bereits vor Jahren dem universalen Anspruch des Dschihadismus offiziell entsagt. Nun präsentiert er seine – einzige – Ehefrau als adrette First Lady ohne Vollverschleierung. Sich selbst zwängt er in zunehmend besser geschnittene Anzüge inklusive Krawatte, diesem aus Sicht eines traditionellen Islamisten ultimativen imperialistischen Accessoire. Das sind hochpolitische Symboliken und für einen ehemaligen Dschihadisten ist das radikal neu. Es führt auf einem Weg weiter, den die Taliban, zumindest, was ihre Stellung in der modernen Staatenwelt angeht, ebenfalls beschritten haben: Man möchte sich als souveräne Regierung international respektiert sehen. Man möchte dazugehören. Kalifat war gestern.

Unterschied­liche Islamismen

In seiner Kernzone, dem Nahen Osten, hat der Islamismus den Zenit überschritten. Seit den 2000er-Jahren konnte er sich bei der Jugend zunehmend nicht mehr als politische Alternative empfehlen. Islamisten vermochten sich als Dschihadisten alleine in militärischen Konfliktzonen zu etablieren. Dort leben sie im Dauerkriegszustand von Beute. Es gibt kein anderes ökonomisch funktionierendes Modell dieser Form des Islamismus. Der Kalifatsstaat, wie ihn der IS hervorgebracht hat, ist zu destruktiv, um in eine Normalität überführt zu werden.

Der Glanz des Politischen Islams ist verblasst

Formen des gehobenen Politischen Islams in der Tradition der Muslimbrüder haben sich durchaus als erfolgreich erwiesen, wie etwa die Herrschaft Erdoğans in der Türkei. Aber diese Beispiele basieren auf jeweils sehr spezifischen nationalen Gegebenheiten. Erdoğan etwa kennt letztlich nur ein einziges Primat, die türkische Innenpolitik, oder vielmehr seine persönliche Herrschaftssicherung, Islam hin oder her. Auch die aktuellen Geschehnisse in Syrien weisen in diese Richtung: Die mittlerweile vorgestellte Interimsverfassung ist nicht sonderlich islamistisch, sondern zielt auf den altbekannten autoritären Präsidialmodus, der zusammen mit einer Gesetzgebung auf Grundlage der Scharia – zumal bei Personenstand und Familienrecht – auch bei vorgeblich säkularen Staatsgebilden in der Region Standard ist.

Nur wenn man zur Peripherie der islamischen Welt schaut, sieht man den Politischen Islam in jeweils spezifischen Formen an Einfluss gewinnen: Der Dschihadismus findet so einen idealen Nährboden in den staatlichen Zerfallsgebieten Afrikas. In Südwestasien, wo mit Indonesien der bevölkerungsreichste muslimische Staat liegt, reüssiert dagegen ein staatlich gelenkter Islamismus, der von den Eliten zur politischen Kontrolle eingesetzt wird. Die dritte Wachstumsregion liegt auf einem kleinen Kontinent namens Europa, wo man die ehemals so prägenden universalistischen Ideen freudestrahlend über Bord wirft, und dem Islamismus Tür und Tor im Zeichen eines unbedingten »Respekts« vor Kultur und Religion öffnet. »Islam« und seine ideologisierte Form Islamismus werden hier zu einer Identitätskategorie in einer verunsicherten Einwanderungsgesellschaft. Damit können islamistische Akteure gut: Identitätspolitik kennt man auch aus der alten Heimat.

Islamismus engt die Menschen ein

Der Politische Islam mit seinen Ablegern ist keine ahistorische Invariante. Vom auf Afghanistan fixierten Dschihadismus der 1980er-Jahre war es doch ein gewisser Weg bis zum Dschihadismus des IS, der ja auch eine globale Jugendsubkultur darstellte. Und was beides mit einem jungen Afghanen zu tun haben könnte, der in Aschaffenburg unter anderem auf einen zweijährigen Jungen marokkanischer Herkunft eingestochen hat, das wäre erst einmal herauszufinden. Wenn das jedenfalls mittlerweile »Islamismus« ist, dann hat sich dieser Begriff sehr entleert. Angesichts von Schnellradikalisierungen per Internet, für die man nur ein paar Instagram-Zitate aus dem Koran braucht, ist das aber auch kein tröstlicher Gedanke. Irgendetwas hat das alles schon mit »Islam« zu tun, da hilft auch das Stoßgebet »Islamophobie!« nicht weiter. Hier wäre auf dem Hinweis zu beharren, dass religiöse Vorstellungen in islamisch geprägten Gesellschaften Menschen brutal einengen und psychisch deformieren. Das ist natürlich kein grundsätzliches Spezifikum des Islam, und es ist auch nicht überall und immer so. Aber das Ausmaß, in dem es heutzutage geschieht, ist eben doch etwas Spezifisches. Und dafür steht der Politische Islam als Ideologie.

Oliver M. Piecha ist Historiker und hat den Einleitungsartikel im Sammelband »Gesichter des politischen Islam« (Edition Tiamat 2023) verfasst.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 408 Heft bestellen
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