Gewalt und Gedächtnis ein abstraktes weißes Cover mit Fenstern, ähnlich wie ein Hochhaus, welche von Schrift abgelöst werden.

Wie erinnern?

Rezensiert von Larissa Schober

10.12.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 406

Kapstadt, Mailand, Babyn Jar, Seoul, Montgomery, Brüssel – Mirijam Zadoff spannt in ihrem Buch Gedächtnis und Gewalt ein weltweites Netz des Erinnerns. Denn was diese Orte miteinander verbindet, sind Gedenkstätten an massenhafte, häufig genozidale Gewalt. In 13 Essays erzählt die Leiterin des NS-Dokumentationszentrum Münchens auf sehr persönliche Weise von unterschiedlichsten Orten. Darunter finden sich die ‚großen Namen‘ der Erinnerungsarbeit wie das Hiroshima Peace Museum, aber auch weniger bekannte Stätten wie das War and Women‘s Human Rights Museum in Seoul, dass sich den sogenannten Trostfrauen (iz3w 322) widmet oder das Binario 21 – ein verstecktes Gleis im Mailänder Hauptbahnhof, von dem aus die jüdische Bevölkerung der Stadt ab Ende 1943 deportiert wurde.

Ihr Fokus liegt dabei eher darauf, wie an diesen Orten erinnert wird und was die Auseinandersetzung mit den erinnerten Gewalttaten für das hier und jetzt bedeutet. So hat etwa die Gedenkstätte Binario 21 während des Sommers der Migration 2015 ihre Türen für Geflüchtete geöffnet. Und der im selben Kapitel vorgestellte Bürgermeister von Predappio kämpfte nicht nur gegen faschistische Erinnerungskultur im Geburtsort Mussolinis, sondern auch gegen das Erstarken der neofaschistischen Fratelli d’Italia.

Die Autorin dekonstruiert den Mythos Anne Frank und legt dar, warum die Erinnerung an sie auch eine allzu ‚einfache‘ sein kann.

Zadoff will mit den Beispielen aufzeigen, das die Erinnerungen verwoben sind. Das wird besonders in dem Kapitel »Anne Frank Superstar« deutlich. Sie dekonstruiert den Mythos Anne Frank und legt dar, warum die Erinnerung an sie auch eine allzu ‚einfache‘ sein kann. Gleichzeitig erzählt sie davon, wie sich Annes Geschichte weltweit verbreitet hat und je nach Kontext unterschiedlich gelesen wird. So ist Japan ein Beispiel für eine Entlastungserzählung der ‚eigenen’ Nation durch die Auseinandersetzung mit dem Tagebuch des jüdischen Mädchens. Gleichzeitig hat das Buch dort aber eine unerwartet persönliche, feministische Konnotation: Es war in den 1950/60er Jahren für viele Leser*innen die erste Berührung mit einem Text über Menstruation – und ermöglichte das Sprechen über ein bis dato tabuisiertes Thema.

Die Fülle der Beispiele im Buch führt zu einer zwangsläufigen Oberflächlichkeit, über viele Orte hätte man gerne mehr erfahren. Wer sich noch nicht viel mit den Debatten um Erinnerungskultur in einem globalen Kontext beschäftigt hat, für den mögen die Orte zudem vielleicht etwas sehr zufällig nebeneinanderstehen. Das Buch ist eine gute Einführung und sucht in Anbetracht der heftigen erinnerungspolitischen Debatten der letzten Jahre nach dem Verbindenden.

Mirjam Zadoff: Gewalt und Gedächtnis Globale Erinnerung im 21. Jahrhundert. Hanser, Berlin, München. 2023, 240 Seiten, 25 Euro.

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