
Der Kampf gegen die »Schlange Sozialescham«
Rezensiert von Sarah Wehrle
20.06.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 403
In der autofiktionalen Graphic Novel Scheiblettenkind nimmt uns Eva Müller mit auf eine Zeitreise durch die Kindheit und Jugend ihrer Protagonistin. Im Sprung durch verschiedene Zeitebenen bezieht sie drei Generationen ihrer Familie mit ein. Sie erzählt vom ganz normalen Klassismus in unserer Gesellschaft: Wie es sich anfühlt, von den privilegierten Schüler*innen als »Schmuddelkuh« und »Assitusse« gedisst zu werden und wie sich strukturelle Benachteiligung in der Schule von Generation zu Generation fortsetzt. Dabei geht sie indirekt auf die segregierende Wirkung des deutschen Bildungssystems ein, in dem die soziale Herkunft der Eltern immer noch den schulischen Erfolg der Kinder bestimmt. Wir lernen die Großmutter kennen, die als Dienstmädchen aus Armut und aufgrund von Desinteresse und dem Geiz ihrer Arbeitgeber alle Zähne verliert bevor sie volljährig ist. Die Eltern stecken in einer Tretmühle zwischen Lohnarbeit, Kindererziehung und der Fertigstellung des Hauses, die keinen Raum für Kreativität lässt. Scheiblettenkind ist auch ein Stimmungsbild der Bundesrepublik vor etwa 40 Jahren, in der noch das Lebensgefühl der Wirtschaftswunderzeit nachhallte und der Aufstieg durch harte Arbeit aus der Arbeiter*innenklasse in die untere Mittelschicht vielen, so auch den Eltern der Protagonistin, gelang.
Die Scham untergräbt permanent ihr Selbstbewusstsein
Die Graphic Novel erzählt in kraftvollen klaren Worten, dass begrenzter wirtschaftlicher Erfolg nicht automatisch mit Bildungsaufstieg gekoppelt ist und wie schwer es ist, ohne Förderung und Vorbilder den Weg dorthin zu finden. Für die Protagonistin ist dieser Weg geprägt von einer Kette mieser Aushilfsjobs, die sie aus finanzieller Not neben Schule und Studium machen muss. Kompensiert wird die Plackerei mit Punkrock und wilden Partys. Ein immer wiederkehrendes Element in der Graphic Novel ist die Schlange als Symbol der sozialen Scham, welche im Hintergrund lauert, immer bereit die Protagonistin daran zu erinnern, dass sie eine kulturelle Fremde in der akademischen Welt ist. Die soziale Scham lässt sie erstarren, erröten, untergräbt permanent ihr Selbstbewusstsein. Wird sie es schaffen, sich dauerhaft von ihr zu lösen? Die Autorin beschreibt sehr treffend die Ambivalenz vieler Bildungsaufsteiger*innen im Alltag, zwischen den Werten ihrer Herkunftsfamilie und denen des Bildungsbürgertums zu stehen.