
Die Mehrheitsgesellschaft im Muslim-Wahn
Rezensiert von Patrick Helber
12.02.2022
Veröffentlicht im iz3w-Heft 388
Ozan Keskinkılıç setzt sich in seinem zweiten Buch Muslimaniac. Die Karriere eines Feindbildes mit antimuslimischem Rassismus in der deutschen Gegenwart auseinander. Dabei unterzieht er die rechten Kampfbegriffe ‚Leitkultur‘ und ‚Integration‘ einer scharfen Kritik. Bereits das Cover des knallpinken Buchs mit einer Zeichnung der Designerin Nes Capucu macht deutlich, dass es um (Fremd-)Bilder geht: Eine Person mit Kopfbedeckung und uneindeutiger geschlechtlicher Identität sitzt neben einem verzierten Tisch samt Wasserpfeife. Ein gelber Kreis in Form eines Spotlights oder einer Lupe umgibt die Person. Beides kann als fokussierter Blick der Mehrheitsgesellschaft und des orientalistischen Voyeurismus gelesen werden. Die abgebildete Person ist dem fremdmachenden Blick aber nicht passiv ausgeliefert. Sie ruht entspannt auf dem Hocker neben der Shisha, blickt selbstbewusst zurück und macht so die Betrachtenden selbst zum Thema.
Keskinkılıç beginnt mit seinen täglichen Erfahrungen »als unbezahlter Pressesprecher der ,islamischen Welt‘« in einer weißen und mehrheitlich christlich sozialisierten Gesellschaft. Rassistische Zuschreibungen, strukturelle Diskriminierung und exotisierende Projektionen bettet er ein in die Theorien Edward Saids, Frantz Fanons und Judith Butlers. Er zeigt auf, wie das Fremd- und Feindbild ‚Muslim‘ in Deutschland historisch gewachsen ist, welche gewaltvollen und lebensbedrohlichen Konsequenzen das für die betroffenen Menschen hat, aber auch wie »die Bezeichneten selbst in den Diskurs eintreten« können um Machtverhältnisse zu konfrontieren, zu irritieren und zu demontieren.
Keskinkılıç wiederholt einige Aspekte aus seinem Buch Die Islamdebatte gehört zu Deutschland (iz3w 377) und manchmal erinnern Argumentation und Stil mit den zahlreichen Zitaten und Gedichten etwas an Kübra Gümüşays Sprache und Sein (iz3w 379). Er ist allerdings deutlich frecher und unversöhnlicher als Gümüşay, wenn er im Sinne Max Czolleks als Antwort auf den kollektiven Muslim-Wahn der Mehrheitsgesellschaft zur Desintegration aufruft. Im Kapitel »Queer Dschihad« macht er als Antwort auf die Pathologisierung von Muslim*innen als homophob und terroristisch queeres muslimisches Begehren sichtbar. Keskinkılıç schreibt an gegen Homogenisierungssehnsüchte und die »künstliche Vereinheitlichung des Korans«, bei dem es sich »um einen pluralen und multilinearen Text handelt, der verschiedene Zugänge möglich macht«. All dies macht seine postmigrantische und queer-muslimische Streitschrift zu einer bereichernden Lektüre, bei der man sich manchmal etwas weniger Sachbuch und etwas mehr von Keskinkılıçs humorvoller und widerspenstigen Twitter-Persona und deren Sprachmischung aus Deutsch, Arabisch und Türkisch gewünscht hätte. In diesem Sinne »tamam öptüm hadi çüss«.