Zeichnen um zu leben
Rezensiert von Patrick Helber
28.10.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 405
Der 1971 geborene französische Comicautor Joann Sfar ist international besonders für seine mehrbändige Reihe »Die Katze des Rabbiners« (2001) bekannt, die einer breiten Öffentlichkeit humorvoll Einblicke in das sephardische Judentum ermöglichte. In den letzten zwei Jahren hat der produktive Zeichner aus Nizza drei neue Bände vorgelegt. In Die Synagoge (2022) beschäftigt er sich mit seinem Vater André Sfar, in Der Götzendiener (2023) mit seiner Mutter und dem Zeichnen. Im diesjährig erschienenen Nous Vivrons. Enquête sur l‘avenir des juifs geht es um die Lebenssituation jüdischer Menschen in Frankreich und Israel unmittelbar nach dem Pogrom der Hamas am 7. Oktober 2023.
Die beiden ersten Bücher sind bunt illustrierte Rückblicke in die eigene und die französische Vergangenheit. Der zuletzt und bisher nur auf Französisch bei Edition Les Arènes erschienene 450 Seiten starke Band wirkt mit seinen großen Textbeiträgen dagegen wie eine impulsartige, in verängstigtem Blau und Weiß gehaltene, zeichnerische Reaktion auf einen gegenwärtigen Schock. Den hat Sfar als jüdischer Comicautor nicht nur durch das brutale Massaker der Hamas erlitten, sondern auch durch eine Empathielosigkeit vieler Menschen mit den ermordeten, entführten und traumatisierten Juden und Jüdinnen und dem zugleich global angestiegenen Antisemitismus.
»Die Synagoge« zeigt, wie Joann Sfar sich freiwillig meldet, um mit anderen Gemeindemitgliedern das Gebetshaus in Nizza gegen Angriffe von Rechtsradikalen zu verteidigen. Männlichkeitsvorstellungen vom imaginierten Dasein als heldenhafter Kämpfer bewegen ihn zu diesem Engagement. Vielleicht bewegen ihn auch das empfundene Unbehagen und die Langeweile in den Gottesdiensten, denen er schon als kleiner Junge durch das Mitbringen eines Spielzeug-Schlumpfs in die Synagoge zu entfliehen versucht. Neben den folgenden selbstironischen Anekdoten aus dem Kampfsporttraining und dem Alltag im Wachschutz besteht der Comic dann aus zahlreichen Vater-Sohn-Dialogen. Sie zeigen die Widersprüchlichkeit des Vaters als Fäuste schwingendem Draufgänger und zugleich als vom französischen Rechtsstaat begeisterten Anwalt. Die Gespräche sind aber auch ein Zeugnis der durch rechtsradikale und islamistische Terrorist*innen gestiegenen Gefahr für Juden und Jüdinnen in Frankreich. So sagt er: »Je mehr Attentate auf der Welt gegen Juden verübt wurden, desto solidarischer zeigten sich Nicht-Juden mit der palästinensischen Sache … Und desto größer war unsere Angst, wenn wir beten gingen.«
Sfars Erinnerungen an seine früh verstorbene Mutter, seine frühe Faszination für das Medium Comic, aber auch die Frage nach dem Bilderverbot im Judentum thematisiert er einfühlsam und mit Humor in »Der Götzendiener«. Seine kindlichen Interventionen mit Kugelschreiber in die Asterix-Hefte seiner Mutter stoßen bei letzterer allerdings nicht auf Begeisterung: »Ich male mit dem Kugelschreiber in ihren Asterix-Erstausgaben herum … Weil ich betört bin von Uderzos Zeichnungen«. Niemand konnte ahnen, dass ihr Sohn als Erwachsener eine ähnliche Popularität wie der Erfinder Asterix‘ erlangen sollte.
»Nous Vivrons« ist eine umfassende Reportage der Ereignisse um das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und zugleich ein Kommentar über das Jüdisch-Sein in Zeiten von omnipräsentem Israelhass und Terrorverherrlichung. Sfar beginnt seine Erzählung damit, dass er die Ereignisse in Israel in Beziehung zu anderen islamistischen Massenmorden, wie dem 11. September 2001 beim Anschlag auf das World Trade Center und beim Massaker im Pariser Konzertsaal des Bataclan am 13. November 2015 setzt. Ausgangspunkt sind die Fragen, was er an den jeweiligen Tagen zum Zeitpunkt des Mordens gerade machte. Wie die schrecklichen Nachrichten jeweils in seinen Alltag eingebrochen sind. Der Band besteht aus zahlreichen Gesprächen, die meisten davon mit andere jüdischen Menschen in Frankreich und in Israel. Die Hamas und deren Gewalt werden nicht im Comic abgebildet. Ihre Gräueltaten tauchen aber anhand der Schilderungen von Angehörigen, Zeug*innen, Überlebenden und über Nachrichten immer wieder explizit und schockierend auf. Viele der Gespräche geben Sfar das Gefühl, dass jüdische Menschen mit dem gestiegenen Antisemitismus und islamistischen Terror in Frankreich und mit dem Massaker in Israel paralysiert und nirgendwo sicher sind. Der Angst, der Verunsicherung, dem Schmerz und der Trauer setzt Sfar zugleich die Begegnungen und Gespräche mit Freund*innen, Familie und bekannten Israelis entgegen. Sie bilden für ihn eine solidarische transnationale und transkulturelle jüdische Community. Diese wird, so lässt er als Hoffnung aufschimmern, leben und sogar wieder tanzen. Das wird zumindest durch die im Comic abgebildete Tätowierung auf dem Arm der befreiten Geisel Mia Schem angedeutet.