Mauricio Rosencof
Mauricio Rosencof | Foto: Matilde López

Schreiben gegen das Ver­gessen

Mauricio Rosencof im Portrait

Mauricio Rosencof wird 1933 in Uruguay geboren. Von seinem Vater geprägt wird er jiddisch, sozialistisch erzogen. Letzlich wird er 1973 als Teil der Tupamaros inhaftiert.

von Ute Evers

28.10.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 405

Don Isaac ist auf dem Weg zu seinem Sohn. Fünf bis sechs Stunden wird die Zugfahrt zur Militärkaserne dauern, wo Moishe seit vielen Jahren einsitzt. Bemessen an der Besuchszeit von zehn Minuten ein überdimensionaler Aufwand, den der betagte Vater nie gescheut hat, seit er seinen Sohn endlich besuchen darf. Rosa hat Äpfel, warme Kleidung und ein Paar neue Schuhe in die Tasche gepackt. Bücher sind nicht erlaubt. Sie begleitet ihren Mann selten auf dieser Fahrt. Zu lange dauert die Reise, zu kurz ist die Zeit mit dem Sohn, um die Realität tatsächlich begreifen zu können, in Worte zu fassen.

Kaum setzt sich der Zug in Bewegung, beginnt die »Flut der Erinnerung«. Don Isaac fliegen »Schwärme von Kurzfilmen« durch das Fenster mit den vorbeiziehenden Landschaften entgegen. Sie führen zurück ins Osteuropa der 1930er- und 40er-Jahre, sie erzählen von der Familie Don Isaacs im polnischen Schtetl, von der Gestapo, die viele Verwandte und Freunde »mit dem Zug wegbrachten«, vom letzten Brief aus Lublin, der Flucht, den ersten Jahren in Uruguay, wo ihr Sohn Moishe geboren wird. Jahrzehnte voller Lebensgeschichten finden sich in diesen kurzen Kapiteln, selten länger als zwei Seiten, fragmentarisch, aber intensiv.

Mauricio Rosencof widmete sich zeitlebens der Verarbeitung der erlebten Traumata

Dann kommt Don Isaac endlich am Bahnhof Paso de los Toros an. Mit seinem Hut in der Hand steht er seinem Sohn gegenüber, in die Gegenwart zurückgekehrt, von der auch erzählt wird: »Die Tür, durch die sie mich hineinführten, war innen von zwei Militärs mit aufgepflanzten Bajonetten gesichert. Abgesehen von den sabbernden Hunden alle knochentrocken.« Das Buch »Das Schweigen meines Vaters«, aus der persönlichen Ich-Perspektive des erwachsenen Sohnes erzählt, ist nicht nur ein Erzählen des tatsächlich Erlebten, sondern auch ein solches, das man imaginiertes Erlebtes nennen könnte: »Das ist deine Geschichte, Vater. Du erzählst sie, du rufst sie mir ins Gedächtnis. Du bist in mir.« Denn der Vater schweigt die meiste Zeit, hat es das ganze Leben getan.

Der gerade auf Deutsch erschienene Roman ist von einer poetisch-metaphorischen Sprache geprägt, die Unvorstellbares in Worte übersetzt. »Das Lied machte ihn traurig, wütend. Die Zerstörung seiner Heimat, der Felder, es brannten die Schreie. Zeit der Pogrome. Zeit des Nationalsozialismus.« Mit diesem Roman der gelebten und imaginierten Erinnerungen schreibt Mauricio Rosencof beharrlich gegen das Vergessen an und für ein kollektives Gedächtnis. Ausgerechnet er, der als Kind stets aus dem Raum geschickt wurde, wenn der Vater seiner Mutter Briefe vorlas, die aus Osteuropa kamen. »Weil nämlich ihr Sohn […] niemals die Truhe mit den Schmerzen übernehmen sollte, die sie beide im Gepäck hatten.«

Mauricio Rosencof ist der zweite Sohn von Isaac und Rosa Rosencof, die bis Anfang der 1930er-Jahre in der polnischen Heimat lebten. Als der Antisemitismus, die Pogrome und der Hunger unerträglich wurden, wanderten sie nach Uruguay aus. 1933 wurde Mauricio in Florida, Uruguay geboren. Von seinem Vater politisch beeinflusst – der hatte eine Schneidergewerkschaft gegründet und las die linke auf Jiddisch und Spanisch erscheinende Wochenzeitung Unzer Farins –, engagierte sich Mauricio schon als Jugendlicher politisch und wurde Mitte der 1960er-Jahre als Journalist Mitglied der sozialistischen Stadtguerilla Movimiento de Liberación Nacional (MLN) – Tupamaros. 1972 wurde er mit neun weiteren Mitgliedern, darunter Pepe Mujica und Eleuterio »Ñato« Fernández Huidobro, in der damaligen Militärdiktatur inhaftiert und 1973 verurteilt. »Neun von ihnen werden von den Militärs aus den Gefängnissen entführt und in verschiedenen Kasernen des Landes als ‚Geiseln des Staates‘ in kompletter Isolation zwölf Jahre lang buchstäblich lebendig begraben.« Erklärtes Ziel: »die Gefangenen in den Wahnsinn treiben«, schreibt Theo Bruns, sein deutscher Verleger, in der aufschlussreichen Einleitung zu »Das Schweigen meines Vaters«.

Ehemaliger Tupamaro und Präsident Uruguays Pepe Mujica und Mauricio Rosencof
Mauricio Rosencof mit dem ehemaligen Tupamaro und Präsidenten Uruguays Pepe Mujica (links) | Foto: Matilde López

1985 kamen sie schließlich frei – die, die überlebt hatten

Mauricio Rosencof widmete sich zeitlebens als Dramaturg, Poet und Prosaschriftsteller der Verarbeitung der erlebten Traumata in seinem autobiographisch geprägten Werk. Bereits während der Gefangenschaft schlossen Rosencof und Huidobro den Pakt, falls sie lebend aus dem Gefängnis kämen, ihre Geschichte aufzuschreiben. Als Zellennachbarn hatten sie ein Klopfzeichen erfunden, über das sie miteinander kommunizieren konnten. Mit »Memorias del calabozo« (1993) verfassten sie eines der wohl erschütterndsten literarischen Zeugnisse über diese Zeit. Diejenigen, die über zwölf Jahre lang nicht miteinander reden konnten, taten dies nun in diesem Buch. Es ist ein langes, erschütterndes und gleichzeitig sehr menschliches Gespräch über eine Zeit, die auf Außenstehende unvorstellbar wirkt. 2018 wurde mit »La noche de 12 años« des uruguayischen Filmregisseurs Álvaro Brechner ein Film uraufgeführt, der sich von diesem Buch hat inspirieren lassen. Auf Deutsch wurden die Gespräche 2019 unter dem Titel »Kerkerjahre« bei Assoziation A neu aufgelegt.

Das international wohl bekannteste Werk ist »Las cartas que no llegaron« (2000, im Deutschen »Die Briefe, die nicht ankamen«). In diesen Erzählungen verbindet Rosencof erstmalig die Geschichte seiner polnischen Familie mit seinem eigenen, erlebten Schicksal während der uruguayischen Diktatur. Es ist in viele Sprachen übersetzt und zeige, dass »großes Leid bisweilen große Literatur herausbringt« (FAZ November 2004).

Einige seiner Werke wurden musikalisch vertont, andere wiederum auf die Bühnen gebracht. »El Bataraz« etwa, in dem ein in Isolationshaft befindlicher Gefangener Monologe mit einem imaginierten Hahn führt. Peter Lehmann, chilenischer Schauspieler, der 1974 ins deutsche Exil flüchtete, brachte das Stück Ende der 1990er-Jahre auf deutsche und internationale Bühnen.

In seinem Land vielfach ausgezeichnet, gilt »El Ruso« (dt. der Russe), wie Rosencof von seinen Freunden auch genannt wird, als Kultautor. Jeder kennt den ehemaligen Tupamaro, der mit Pepe Mujica, uruguayischer Präsident von 2010 bis 2015, oder dem späteren Schriftsteller und Politiker Eleuterio Fernandez Huidobro über zwölf Jahre in Isolationshaft saß und nicht aufhören kann, über sein Leben und das seiner Familie zu schreiben – mittlerweile hat er schon wieder zwei neue Bücher veröffentlicht.

Eduardo Galeano, bekannt für »Die offenen Adern Lateinamerikas« (1971), bezeichnete das Schreiben Rosencofs in seinem Vorwort zu den »Kerkerjahren« als »Sieg des menschlichen Wortes«. Das gilt noch bis heute für das aus Prosa, Poesie, Essays und Theaterstücken bestehende, umfangreiche Werk des 91-jährigen Autors.

 

Mauricio Rosencof: Das Schweigen meines Vaters. Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Verlag Assoziation A, Hamburg/Berlin 2024, 160 Seiten, 18 Euro.

Ute Evers ist freie Literaturkritikerin, ihr kulturelles Interesse liegt hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, in Lateinamerika und der Karibik. Sie ist Mitgründerin und Kuratorin des unabhängigen Festivals »Venezuela im Film – ¡Qué chévere!«.

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