Rinderzüchter in Ruanda
Rinderzüchter mit Ankole-Watusi-Rind | Foto: Deutsche Fotothek

Von »Deutsch-Ostafrika« nach Ruanda

Die deutsche Koloni­sierung und ihre Folgen

Das zentralafrikanische Ruanda wird selten in Bezug auf seine deutsche Kolonialgeschichte betrachtet. Es verschwindet hinter dem Großbegriff des kolonialen »Deutsch-Ostafrika« – welches heute am ehesten mit Tansania assoziiert wird (iz3w 403). Wie wirkte sich die deutsche Kolonialherrschaft auf die Gesellschaft in Ruanda aus?

von Anne D. Peiter

23.10.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 405

Von 1884 bis 1916 war Ruanda als Teil Deutsch-Ostafrikas eine deutsche Kolonie. Deutsche Abenteurer, Topographen und Anthropologen machten sich daran, das ihnen unbekannte Königreich Ruanda zu erkunden. Darunter war der Arzt Richard Kandt, der später zum ersten Kolonialresidenten (Vertreter der deutschen Kolonialverwaltung) in Ruanda werden sollte.

Kandt machte sich in den 1890er-Jahren auf die Suche nach den Quellen des Nils und traf dabei mit dem ruandischen König Mutsinga, einem Tutsi, zusammen. Kandt und andere Kolonialisten zeigten sich beeindruckt von dessen stattlicher Erscheinung. Mutsinga galt ihnen als Vertreter einer ‚rassisch‘ höhergestellten Gruppe, die in der weit verbreiteten Hamitentheorie beschrieben wurde (iz3w 319). Die Hamitentheorie besagt, dass die von Ham abstammenden Tutsi auf einer »höherentwickelten« kulturellen Stufe stünden als der Rest der ruandischen Bevölkerung. Der europäische Kolonialismus und die deutsche Afrikaforschung folgten dieser pseudowissenschaftlichen und rassistischen Erzählung, die heute eher Hamiten-Mythos genannt wird.

Der Hamiten-Mythos und die Sozial­struktur Ruandas

In dieser Denkrichtung ging es darum, die ruandische Gesellschaft zu ‚klassifizieren‘. In der Tat existierten schon in vorkolonialen Zeiten Begriffe für drei Bevölkerungsgruppen, denen sich die Ruander*innen zugehörig fühlten: die Hutu, die Tutsi und die Twa. Die erste Gruppe bildete die große Mehrheit der Bevölkerung und bestand tendenziell aus Ackerbäuer*innen. Die zweite Gruppe konzentrierte sich auf die Rinderzucht und stellte eine Minderheit von Hirtenfamilien dar. Die Twa wiederum waren eine kleine Gruppe, die im Wald der Jagd nachging, Töpferarbeiten übernahm oder Funktionen am Königshof ausübte. Sie wurden oft als ‚Pygmäen‘ oder ‚Zwerge‘ bezeichnet.

Aus Hutu konnte durchaus Tutsi werden – oder umgekehrt

Dem ruandischen Verständnis nach waren die Hirtenfamilien der Tutsi eine Oberschicht. Aber es war in dieser klar strukturierten, vorkolonialen ruandischen Gesellschaft möglich, von einer sozialen Gruppe zur anderen zu wechseln. Es handelte sich nicht um ethnisch feststehende Identitäten. Aus Hutu konnte durchaus Tutsi werden – oder umgekehrt. Außerdem waren die Grenzen zwischen den Berufssparten fließend.

Die Deutschen unterstellten jedoch, die Hutu, die Tutsi und die Twa seien strikt voneinander getrennte Ethnien. Auch Richard Kandt argumentierte in seinem Buch »Caput Nili. Eine empfindsame Reise zu den Quellen des Nils« (1904) in diese Richtung. Dem Hamiten-Mythos nach konnten nur die angeblich ‚kleinwüchsigen‘ Twa als ‚echte Urbevölkerung‘ gelten. Den ‚mittelgroßen‘ Hutu schrieb man zu, durch Wanderungsbewegungen erst später nach Ruanda gekommen zu sein. Die letzte Gruppe, die angeblich ‚riesigen‘ Tutsi, betrachteten die Deutschen als völlig ‚unafrikanisch‘. Sie könnten angeblich unmöglich von dort stammen.

Die an den Hamiten-Mythos angelehnte Afrikaforschung ging davon aus, dass die Tutsi Nachfahren der Söhne des biblischen Noah, speziell Hams, seien. Die Tutsi seien aus Abessinien oder Ägypten eingewandert. Die Hörner der Kühe der Tutsi wurden als Beweis betrachtet: Sie sähen genauso aus wie die Hörner auf ägyptischen Hieroglyphen (Foto).

Dabei verbreitete sich die Überzeugung, die Tutsi seien ‚zu intelligent‘, ‚zu schön‘, ‚zu groß‘ und ‚herrschaftlich‘, um ihren Ursprung in Afrika zu haben. Man nannte sie ‚Hamiten‘, ‚Niloliten‘ oder ‚Hamito-Semiten‘ und glaubte, in ihnen ‚weiße Neger‘ vor sich zu haben.

Deutsche Anthro­pologie und anti­semitische Elemente

Alle Ruander*innen sprachen dieselbe Sprache. Sie teilten dieselbe Kultur, Religion und Geschichte. Aber auch das löste keine Zweifel an der ethnisierenden Hamitentheorie aus. Anthropologen fotografierten und vermaßen die Körper der Ruander*innen. Im Rahmen dieser Forschung verfestigte sich die Überzeugung der europäischen Wissenschaftler*innen, dass die sozialen Hierarchien einer ‚rassischen‘ Wirklichkeit entsprächen, die von den Genen der verschiedenen Gruppen herrührten. Die These von drei Ethnien war geboren.

Eine Besonderheit des Hamiten-Mythos ist, dass er neben biologistisch-rassistischen Ideen auch antisemitisches Gedankengut enthält. Die Bewunderung der Deutschen für die Tutsi war von Beginn an mit einem Ressentiment verbunden. Das Stereotyp, die Tutsi seien ‚überdurchschnittlich intelligent‘, ging beispielsweise über in den Vorwurf, sie seien ‚arrogant‘, ‚herrschsüchtig‘ und ‚verschlagen‘. Wie im modernen Antisemitismus galt den Nasenformen ein obsessives Interesse. Der Sachverhalt, dass Tutsi und Hutu häufig durch Ehen verbunden waren, trat in den Hintergrund. Im Hamiten-Mythos erschienen die Tutsi als ‚die Semiten Ruandas‘, denen charakterliche wie physische Stereotype zugeschrieben wurden, die auch in antisemitischen Feindbildern bestehen.

Auch bezüglich der Frauen aus Tutsi-Familien wirkten antisemitische Stereotype in die Anthropologie hinein. Die Frauen wurden als sexuell besonders attraktiv beschrieben. Sie verstünden es, so die Theorie, die Herrschaft über die Männer unter Ausnutzung ihrer Reize zu verstärken. Die Ähnlichkeit zum antisemitischen Klischee der ‚schönen Jüdin‘ ist unverkennbar.

Soziale Privi­legien im Kolonial­ismus …

Die weitreichendsten Folgen hatte die These, die Tutsi seien ‚Fremde im eigenen Land‘. Dabei wurden historisch die Tutsi von den deutschen Kolonialist*innen erstmals systematisch bevorteilt. Zur Herrschaftssicherung vergaben die Deutschen, je nach ethnischer Zuschreibung, soziale Privilegien. Dabei wurden die Tutsi als die ‚geeignetste Ethnie‘ für die Kontrolle des Landes betrachtet. Konflikte, die durch die sozialen Vorrechte der Tutsi und ihres Königs schon vor der Kolonialzeit existiert hatten, verstärkten sich.

In der belgischen Kolonialepoche nach dem Ersten Weltkrieg nahm diese Tendenz weiter zu. Anfang der 1930er-Jahre führte die belgische Verwaltung ethnische Markierungen in den Pässen ein. Damit sollte auch administrativ geklärt werden, wer zu welcher Ethnie gehörte. Weiterhin bestanden staatliche und kirchliche Instanzen darauf, dass die Tutsi die ‚wertvollste Ethnie‘ seien.

… und die »Hutu-Revolution«

Als die Tutsi sich zunehmend kritisch gegenüber der belgischen Kolonialherrschaft zeigten, vollzogen die Belgier*innen eine politische Kehrtwende. Die spaltende Bevorzugung der Tutsi kehrte sich ins Gegenteil. Statt sich weiter auf die Tutsi zu stützen, vertrat die belgische Seite nun die Idee, das Land müsse endlich ‚demokratisiert‘ und der Bevölkerungsmehrheit, also den Hutu, neue Rechte eingeräumt werden. Bei der so genannten Hutu-Revolution gegen die Tutsi-Herrschaft wurden im Jahr 1959 schätzungsweise 336.000 Tutsi gewaltsam des Landes vertrieben. Es kam zu Massakern und Plünderungen. Die ethnischen Trennungen hatten Eingang in die Mentalitäten der Ruander*innen gefunden. Ruanda wurde 1962 unabhängig, aber das koloniale Erbe wirkte fort.

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Aus dem erzwungenen Exil der vertriebenen Tutsi heraus ergaben sich neue Konflikte. Weil sie sich teilweise mit Gewalt für ihr Rückkehrrecht einsetzten, sahen sich viele Hutu wiederum in der alten Überzeugung bestärkt, die Tutsi seien ‚gefährliche Fremde‘ und die Tutsi, die im Land geblieben waren, ihre ‚Spione‘.

Die soziale Diskriminierung der Tutsi nahm zu. Ihre Kinder hatten nur geringe Chancen, eine weiterführende Schule zu besuchen. Im Jahr 1973 kam es erneut zu gewaltsamen Übergriffen. Kurz darauf riss der Politiker Juvénal Habyarimana bei einem Staatsstreich dauerhaft die Macht an sich. Er sollte sich zum diktatorisch regierenden Präsidenten entwickeln.

Der Genozid 1994

Der Genozid an den Tutsi Ruandas, bei dem 1994 in nur hundert Tagen schätzungsweise eine Million Menschen umgebracht wurden, hat also eine lange Vorgeschichte. Der organisierte Aufbau der »Hutu-Power«-Bewegung und der Bürgerkrieg, welche die Jahre 1990 bis 1994 prägten, waren der Endpunkt einer Entwicklung, bei der rassistische Konzepte eine zentrale Rolle spielten. Doch es ist nicht der Kolonialismus allein, der den Genozid erklärt. Viele Faktoren kamen zusammen, um die systematische Planung für die Vernichtung der Tutsi in Gang zu setzen. Das Attentat am 6. April 1994, bei dem der ruandische Präsident Habyarimana ums Leben kam, gilt heute als Initialzündung. Die Vorbereitungen für den Genozid waren zu diesem Zeitpunkt aber längst abgeschlossen.

Es stimmt nachdenklich, dass die deutsche Regierung im Jahr 2017 in der ruandischen Hauptstadt Kigali ausgerechnet die Eröffnung des Richard-Kandt-Museums, benannt nach dem oben erwähnten Kolonialresidenten, feierte.

Es scheint so, als bleibe bei der Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte in Ruanda noch viel zu tun. Der Anspruch, Genozide zu verhindern, kann nur eingelöst werden, wenn man die Geschichte des Rassismus in all seinen Facetten kennt.

Anne D. Peiter ist Germanistikdozentin auf La Réunion (Frankreich, Indischer Ozean). Letzte Buchveröffentlichung: »Der Genozid an den Tutsi Ruandas. Von den kolonialen Ursprüngen bis in die Gegenwart«, Büchnerverlag 2024.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 405 Heft bestellen
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