Ein Mensch macht ein Foto mit einem Handy - auf einer Versammlung in Moskau
Versammlung in Moskau | Foto: Valery Tenevoy | Unsplash

Zwischen­töne sind selten

Die kritische Publi­zistik Russ­lands geht ins Internet

Unabhängiger Journalismus in Russland hat einen schweren Stand. Die ökonomischen Bedingungen sind prekär und die Repressionen hart. Dennoch bahnt sich kritische Bericht­erstattung ihren Weg.

von Varvara Korotilova

14.12.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 406
Teil des Dossiers Kritischer Journalismus

Es gibt sie noch – die klassische Printausgabe. Obwohl ihr Informationsgehalt in Russland beschränkt ist und immer mehr Themen einem staatlich verordneten Tabu unterliegen, finden sich einzeln lesbare Blätter, die zumindest keine Fake News publizieren. Doch ihre Zahl schrumpft. Erst im September stellte die seit Jahrzehnten erscheinende Wochenzeitung Sobesednik ihre Publikation bis auf Weiteres ein, weil sie als sogenannter »ausländischer Agent« eingestuft wurde. Dieser Status erschwert journalistisches Arbeiten erheblich und verbietet Werbeeinnahmen. Zwar lässt sich Sobesednik am ehesten der Regenbogenpresse zuordnen, aber die Redaktion hielt sich mit ihrer kritischen Haltung hinsichtlich der gesellschaftlichen Zustände in Russland nicht zurück und lotete lange Zeit geschickt die Grenzen des (noch) Erlaubten aus.

Als alleinige Nachrichtenquelle taugt die Presse allerdings längst nicht mehr. Schon vor Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hatte sich die kritische Berichterstattung ins Internet und zunehmend auf den Messenger Telegram verlagert. Dennoch stellt der Überfall auf die Ukraine vom Februar 2022 eine harte Zäsur dar. Innerhalb kurzer Zeit hat sich die gesetzliche Grundlage für unabhängig arbeitende Medien derart verschlechtert, dass die Durchführung und Publikation von Recherchen zu heiklen Themen nur noch mit erheblichen Einschränkungen möglich ist. Der Krieg setzte eine repressive Dynamik in Gang, die jegliche Form von Gegenrede zu unterdrücken versucht.

Steigende Risiken

Journalist*innen, die nach wie vor in Russland tätig sind, laufen Gefahr wegen Verbreitung sogenannter Fake News, der Diskreditierung der Streitkräfte und einer wachsenden Zahl an Verboten zu hohen Haftstrafen verurteilt zu werden. Die RusNews-Journalistin Maria Ponomarenko aus Barnaul muss eine Strafe von sechs Jahren verbüßen, weil sie auf ihrem Telegram-Kanal eine Nachricht über den russischen Angriff auf Mariupol veröffentlicht hatte. Andere warten in Untersuchungshaft auf ihren Gerichtsprozess.

Im Fokus der Strafverfolgungsbehörden stehen jedoch nicht nur Medienschaffende, sondern auch gewöhnliche Nutzer*innen von Social Media. Da die Definitionshoheit bei den Behörden liegt und die rechtlichen Vorgaben meist so schwammig gefasst sind, dass selbst harmlos scheinende Formulierungen als extremistische Äußerung vor Gericht Bestand haben, steigen die Risiken auch bei umsichtiger Nutzung von Kommunikationsplattformen. Egal ob beruflich oder als Privatperson: Wer potenziell strafrechtlich relevante Spuren im Internet hinterlässt, ist gefährdet.

Wer sich innerhalb des schmalen legalen Rahmens bewegen will, ist an immer strengere Regeln gebunden. So müssen sich ab Januar 2025 alle Blogger*innen mit mindestens 10.000 Followern offiziell registrieren und damit ihre wahre Identität preisgeben. Etliche kremlkritische Medien sahen sich spätestens seit Frühjahr 2022 gezwungen, ihren Sitz ins Ausland zu verlegen. Einige davon gelten in Russland inzwischen als »unerwünscht«, weshalb jegliche Form der Zusammenarbeit oder sogar ein Repost als Straftat geahndet wird.

Unab­hängige Medien in Russland …

Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg entstanden jedoch auch dutzendweise neue russischsprachige Medienprojekte, die ihr Publikum hauptsächlich per Telegram erreichen. Die kritische Berichterstattung erhielt entgegen der staatlichen Zensur nicht nur zahlenmäßig Auftrieb. Die neue Vielfalt der mit bescheidenen Ressourcen professionell betriebenen Telegram-Kanäle stellt einen qualitativen Quantensprung dar. Wo zuvor in den (größtenteils im liberalen Spektrum angesiedelten) russischen Oppositionsmedien der Meinungsjournalismus einen übergroßen Raum einnahm, hat der sorgfältige Umgang mit Fakten nun einen höheren Stellenwert erreicht. Oftmals handelt es sich um Projekte für investigative Recherche, wie beispielsweise das im April 2022 gegründete Internetprojekt Verstka. Es befasst sich schwerpunktmäßig mit den Auswirkungen des Krieges auf die russische Gesellschaft. Auf Telegram folgen Verstka über 112.000 Nutzer*innen. Im Übrigen greifen vom Ausland aus berichtende Medien auch auf in Russland verbliebene Journalist*innen zurück, die die undankbare Aufgabe übernehmen, mit teils hohem persönlichen Risiko und anonym für seriöse Recherchen Zuarbeiten zu erledigen.

An Informationsangeboten und sorgfältig recherchierten Texten zu ausgewählten Themen mangelt es also nicht, man muss sie nur finden. Gegebenenfalls muss man dafür die eigenen technischen Voraussetzungen auf den aktuellen Stand bringen, um behördlich blockierte Webseiten aufzurufen.

Presse­anfragen von »ausländischen Agenten« werden ignoriert

Mit Blick auf das gesamte Spektrum an kritischer Berichterstattung bleiben erhebliche Defizite. Ein Großteil der russischen, für unabhängige Medien tätigen Journalist*innen arbeitet unter prekären Bedingungen. Das ist allerdings ein Problem, das ebenfalls auf den Medienbetrieb in demokratisch verfassten Ländern zutrifft. Linke Projekte wie das russische Online-Portal Rabkor haben es schwer mit anderen zu konkurrieren und wenn dessen zentraler Autor wegfällt – in diesem Fall Boris Kagarlitsky, der eine fünfjährige Haftstrafe absitzt – sinkt auch die Anzahl an Leser*innen. Bei der Einschätzung der Stärken und Schwächen unabhängiger russischer Medien spielen viele weitere Faktoren eine Rolle. Sie machen deutlich, dass die äußeren Umstände wirksam sind.

… werden zahl­reicher und gefährdeter

Ein zentrales Merkmal für den derzeitigen russischen Staatsapparat ist seine Abneigung gegen Transparenz. Seit Kriegsbeginn werden zahlreiche statistische Angaben unter Verschluss gehalten, die zuvor öffentlich zugänglich waren. Presseanfragen von »ausländischen Agenten« werden schlichtweg ignoriert, anonyme Quellen gewinnen an Bedeutung. Das macht die Nachprüfbarkeit von Informationen zunehmend schwierig und führt zur Neuauflage der zu Sowjetzeiten verbreiteten »Kremlastrologie«. Es muss nicht falsch sein, was Informant*innen aus Regierungskreisen den Medien im Exil preisgeben, wenn sie inoffiziell auf Anfragen reagieren. Trotzdem ist kritische Distanz geboten.

Spätestens seit 2014, dem Jahr der Krim-Annexion und dem Beginn der militärischen Auseinandersetzungen auf ukrainischem Gebiet wurde der Dialog zwischen Personen mit unterschiedlicher Weltanschauung zu einer echten Herausforderung. Seit dem Frühjahr 2022 haben sich die Fronten dermaßen verhärtet, dass die Gesprächsbereitschaft tendenziell gen Null geht. Weil jedoch immer die Gefahr besteht, die eigene subjektive Wahrnehmung zu verallgemeinern, macht es gerade im Journalismus Sinn, den Kontakt zu Leuten zu suchen, die anders denken. Sind persönliche Beziehungen aus politischen Gründen nicht abgebrochen, können sie hilfreich sein um eine differenziertere Sichtweise zu entwickeln – jenseits der Staatspropaganda, aber auch jenseits der an Zwischentönen armen oppositionellen Exilmedien.

Bei aller Lektüre sind persönliche Beobachtungen durch nichts zu ersetzen. Aber auch dem sind Grenzen gesetzt, allein schon finanziell. Reisen durchs Land kosten Geld. Wer unter prekären Bedingungen arbeitet, ist also räumlich beschränkt und selbst in einer riesigen Stadt wie Moskau braucht es Zeit und Ressourcen (wenn man sich nicht auf Internetrecherchen beschränken will). Um beides ist es bei den noch in Russland arbeitenden Medienprojekten oft schlecht bestellt, was zur Folge hat, dass selbst kritische Journalist*innen auf kremlnahe Quellen und Telegram-Kanäle zurückgreifen oder bei aktuellen Ereignissen direkt auf sie verweisen.

Ab ins Netz

Wie schnell die schlechte Informationslage eine Kettenreaktion an Falschmeldungen in Gang setzen kann, zeigte der Fall einer Razzia an einem Treffpunkt für schwule Männer in Moskau. Ein lokales staatsnahes Portal hatte davon berichtet, dass die Polizei einen bekannten Schwulenclub aufsuchen wollte, sich an der Tür geirrt habe und fälschlicherweise in einem benachbarten Wellnesszentrum gelandet sei. In Wirklichkeit war das kein Versehen, sondern Absicht, weil sich dort Männer zum Sex verabreden. Durch die Kriminalisierung sogenannter Propaganda von Homosexualität und das Verbot der »internationalen LGBT-Bewegung« wurden bestehende Netzwerke weitgehend zerstört. Einschlägige NGOs können nicht mehr vor Ort tätig sein und es kostet Mühe, zuverlässige und kompetente Personen zu finden, die bereit sind mit unabhängigen Medien zu sprechen. Davor schrecken mehr und mehr Menschen zurück.

Manche Defizite lassen sich durch Kommunikation auf Social Media, Telegram oder WhatsApp kompensieren, aber sie können den direkten Kontakt nicht völlig ersetzen. Für die Verbreitung von Informationen, regionale Vernetzung und Proteste, die es auch in Russland im Jahr 2024 noch gibt, sind digitale Plattformen heutzutage unersetzlich. Doch die russischen Behörden scheuen nicht davor zurück, solche Kommunikationswege im Ernstfall zu blockieren, wie im Januar bei den Protesten in Baschkortostan gegen die Verurteilung des Oppositionellen Fail Alsynow. Bleibt zu hoffen, dass sich für einen ungestörten Informationsfluss letztlich immer Mittel und Wege finden lassen.

Varvara Korotilova lebt und arbeitet als Journalistin in Moskau.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 406 Heft bestellen
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