Studierende protestieren in Subotica, Serbien mit Radtouren. Foto zeigt junge Menschen, die mit ihren Rädern unter einem Bogen durchlaufen.
Radfahren für ein anderes Serbien. Proteste in Subotica | Foto: Vidak Kavedzic, gemeinfrei

Der Frühling kommt vom Balkan

Ein Kommentar

von Larissa Schober

05.06.2025

Jubel, Musik und rote Teppiche: Die Massenproteste, die Serbien seit Monaten in Atem halten, sind nun auch in Deutschland angekommen. 80 Studierende radelten im April von Novi Sad bis nach Straßburg, beinahe 1500 km in 13 Tagen. In Deutschland machten sie unter anderem in München, Stuttgart und Karlsruhe Station. Überall wurden sie begeistert empfangen, überwiegend von der serbischen Diaspora. Ihr Ziel: das EU-Parlament in Straßburg. Mit ihrer Tour de Force wollten die Studierenden auf die mangelnde Unterstützung der Protestbewegung im Ausland und besonders durch die EU aufmerksam machen. Dafür wandten sie eine ähnliche Strategie an wie jene, die in Serbien zur Ausbreitung der Proteste beigetragen hatte: In den letzten Monaten waren Studierende immer wieder über Tage zu den großen Demonstrationen in Belgrad oder Novi Sad gelaufen oder mit dem Fahrrad gefahren. Dadurch wurde die Bewegung auch in ländlichen Gegenden sichtbar. Weil die Studierenden an so vielen Orten präsent sind, hat das autoritäre Regime von Präsident Aleksandar Vučić es schwer, die Proteste zu denunzieren. Auslöser der größten Protestbewegung seit dem Sturz des Milosević-Regimes war der Einsturz des Bahnhofsvordachs in der nordserbischen Stadt Novi Sad am 1. November 2024, bei dem 16 Menschen ums Leben kamen. Nachdem die Forderung nach Aufklärung mit Repressionen beantwortet worden war, begannen Studierende, ihre Fakultäten zu besetzen. Fünf Monate später ist daraus eine milieu-übergreifende Massenbewegung geworden. Das Ziel: Ein anderes Serbien.

Während die radfahrende Gruppe am 16. April in Straßburg eintraf, gingen die Proteste in Serbien weiter: Tausende blockierten erneut die regierungsnahen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, weil diese die Proteste immer noch größtenteils ignorieren. »Der öffentlich-rechtliche Rundfunk arbeitet gegen uns alle«, schrieben die Studierenden auf Instagram. Die Büros und ein Studio von RTS in Belgrad sowie die Büros von RTV in Novi Sad waren knapp zwei Wochen belagert. Aufgelöst wurde die Blockade erst am 28. April. Ihre zentrale Forderung war erfüllt: Die Leitung der serbischen Medienregulierungsbehörde wird neu ausgeschrieben. Am selben Tag versuchte die Polizei, Besetzungen an Universitäten in Niš und Novi Sad gewaltsam aufzulösen. Trotz Verhaftungen blieben sie erfolglos, die Fakultäten sind weiter besetzt. Doch das Regime wird unruhig. Drohungen, Lügen, Repression – bisher trotzte die Bewegung allem. Auch wenn die Proteste es nicht mehr in die internationalen Medien schaffen, haben sie nicht aufgehört: Zuletzt fanden am 1. Juni dezentrale Proteste in 34 Städten im ganzen Land statt.

Ein anderes Serbien ist möglich

Die nächste Etappe war Brüssel: Ein Marathonstaffellauf führte Studierende von Novi Sad ins 2000 km entfernte Brüssel, das sie am 13. Mai erreichten. Mit ihrer Aktion wollten sie das EU-Parlament zwingen, sich mit der Lage in Serbien zu befassen, und außerdem die Proteste weiter in den internationalen Medien halten. Während die Unterstützung durch die EU den Protesten eindeutig helfen würde, ist den Studierenden klar, dass sie sich nicht auf Europa verlassen können. In einem Statement treten sie selbstbewusst auf und wollen »eine klare Mahnung an Europa senden: demokratische Werte (...) dürfen nicht nur in offiziellen Erklärungen, sondern müssen auch im öffentlichen Bewusstsein und in kollektiven Aktionen hochgehalten werden«. Viele Länder der EU, inklusive Deutschland, befinden sich gerade an einem autoritären Wendepunkt, in Ländern wie Indien und den USA sind diese Entwicklungen noch beschleunigt. Auch darauf zielt die Warnung der Studierenden. Denn sie wissen, wohin das Ganze führt: Nach über 13 Jahren an der Macht ist Vučić längst dort, wo Trump noch hinwill.

Und genau deshalb sind diese Proteste in ihrer Wirkmächtigkeit auch nicht zu überschätzen: Ja, man weiß nicht, wohin sie führen. Und ja, nicht alle Beteiligten der Proteste sind progressiv. Aber: Sie zeigen, dass Widerstand möglich ist. In Zeiten, in denen vorauseilender Gehorsam gegenüber autoritären Regierungen um sich greift, der Abbau rechtsstaatlicher Strukturen teilweise über Nacht passiert und die Fülle an Entwicklungen zu Überforderung und Schockstarre in der Zivilgesellschaft führt, kann man das gar nicht überbewerten.

Vor einem halben Jahr hätten die meisten bei der Vorstellung, dass die Hoffnung vom Balkan und dann auch noch aus Serbien kommt, schallend gelacht – berechtigterweise. Wenige Monate später ist alles anders. Ganz gleich, wie fest autoritäre Regime im Sattel sitzen, sie sind immer auch auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen. Unterordnung im Autoritarismus läuft immer zu einem gewissen Grad auch über Freiwilligkeit und darin liegt der Hebel zum Widerstand. Jahrelang hat Vučić eine Minderheit in Serbien davon überzeugt, dass er in ihrem Interesse handelt – und die Mehrheit davon, dass man eh nichts ändern kann. Und jetzt, als niemand mehr daran geglaubt hat, zeigt sich: Ein anderes Serbien ist möglich.

Es ist Zeit, dass jene, die dafür einstehen, nicht nur von der Diaspora den roten Teppich ausgerollt bekommen, sondern transnationale Solidarität erfahren. Für eine Umwälzung der Verhältnisse, in Serbien und überall.

 

Larissa Schober promoviert zum Zusammenhang von Erinnerungskultur und Nationalismus und schreibt als Freie zu den Themen Osteuropa, Feminismus und Neue Rechte.

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