Zahlreiche Menschen auf einer Demo mit Schildern im Zentrum der syrischen Hauptstadt Damaskus
Demonstrationen im Zentrum der syrischen Hauptstadt Damaskus, Menschen fordern auf Plakaten: »Weder militärisch noch religiös, ein ziviler Staat« | Foto: privat

Vom Regen in die Traufe?

Eine kurdische Perspektive auf den Sturz Baschar al-Assads in Syrien

Am 8. Dezember 2024 eroberten Rebellen in Syrien fast kampflos die Hauptstadt Damaskus, stürtzten die Regierung und beendeten damit die mehr als 50 Jahre andauernde Herrschaft der Familie Assad. Eine Diktatur mit all ihren Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Hinrichtungen, Staatsfolter und Unterdrückung von Minderheiten schienen von einem auf den anderen Tag beendet. Der Sturz Assads in Syrien hat vielfältige Reaktionen in der internationalen Gemeinschaft, bei Exilsyrer*innen und Menschenrechtsorganisationen ausgelöst. Während viele eine Rückkehr von geflüchteten Syrer*innen als so realistisch wie noch nie erachten, ist Biryar Kouti vorsichtiger. Kouti ist Journalist, Drehbuchautor und flüchtete Ende 2015 nach Deutschland. In Freiburg gründete er den kurdischen Verein DAR e.V.. Im Interview mit iz3w spricht er über seine persönlichen Gefühle zur aktuellen Lage und die Gefahren einer Machtübernahme durch radikale Islamisten.

Wie haben Sie vom Sturz Assads erfahren?

Ich habe den Sturz Assads seit den Anfängen der Ereignisse in Syrien im März 2011 erwartet – jeder Diktator hat schließlich ein Ende. Allerdings haben internationale Konflikte und das Eingreifen externer Akteur*innen die Dauer seines Falls verlängert. In der Nacht seines Sturzes, mit Beginn der Operation »Vergeltung für die Aggression«, durchgeführt von der »Haiʾat Tahrir asch-Scham«, kurz: HTS (deutsch etwa: Komitee zur Befreiung der Levante) am 27. November, fiel Aleppo. Und kurz darauf wurde die Stadt Hama ohne Widerstand der syrischen Armee eingenommen. Da wusste ich: Die Entscheidung zum Sturz des Regimes war gefallen und Russland und der Iran würden nicht länger in der Lage sein, Assad zu schützen. In der Nacht des 8. Dezember verfolgte ich, wie die HTS Damaskus kampflos einnahm und Baschar al-Assad floh. In dieser Nacht habe ich nicht geschlafen.

 

Was waren Ihre ersten Gedanken und Gefühle?

Ohne Zweifel war ich über den Sturz des Diktators erfreut. Gleichzeitig fragte ich mich jedoch, warum die Rolle der »Befreier« ausgerechnet der als Terrororganisation eingestuften HTS überlassen wurde, die aus al-Qaida- und ISIS-Strukturen hervorgegangen ist und eine radikal-islamistische Ideologie vertritt. Ich mache mir große Sorgen um die nächste Phase. Die Syrer*innen hatten von einem demokratischen System geträumt, doch ihre Hoffnungen wurden enttäuscht. Es ist tragisch, dass Syrien nach 13 Jahren Krieg, tausenden Toten und Millionen Vertriebenen von einer repressiven Diktatur zu einer radikal-islamistischen Regierung übergeht.

 

Was ist nichtsdestotrotz das Gute am Sturz Assads?

Der positive Aspekt ist, dass Syrien das Ende der Herrschaft der Baath-Partei erlebt hat, die das Land 61 Jahre lang regierte und es zu einer Erbmonarchie machte. In dieser Zeit gab es keine politische Freiheit, keine Meinungs- oder Pressefreiheit. Gefängnisse waren mit Oppositionellen und Intellektuellen überfüllt, viele starben unter Folter. Besonders betroffen war die kurdische Bevölkerung: Ihnen wurden kulturelle und politische Rechte verweigert, ihre Sprache wurde verboten, kurdische Ortsnamen wurden arabisiert und es gab eine gezielte demografische Veränderung durch die Ansiedlung arabischer Familien in kurdischen Gebieten. Viele Kurd*innen wurden ihrer Staatsbürgerschaft beraubt, was ihnen den Zugang zu Hochschulbildung, Arbeitsplätzen oder den Besitz von Eigentum verwehrte. All dies endete mit Assads Sturz, doch die Missstände und Wunden eines halben Jahrhunderts Unterdrückung bleiben tief.

 

Der Premierminister der syrischen Übergangsregierung Mohammed al-Baschir gilt als gemäßigt und strebt Stabilität und Frieden an. Er ruft Geflüchtete zur Rückkehr nach Syrien auf. Glauben Sie ihm?

Wer behauptet, Mohammed al-Baschir sei gemäßigt? Sein erster öffentlicher Auftritt war in der Umayyaden-Moschee – ein deutlicher Hinweis auf seine ideologische Zugehörigkeit zur HTS. Bereits kurz darauf verbot er unverschleierten Frauen öffentliche Auftritte und schloss sie von Regierungsämtern aus. Seine Reden sind religiös geprägt, was in einem kulturell und religiös vielfältigen Land wie Syrien alarmierend ist. Syrien braucht ein demokratisches System, das Vielfalt respektiert, und keine islamistische Regierung. Der Führer der HTS, Ahmad al-Scharaa (früher bekannt unter seinem Kampfnamen Abu Muhammad al-Dscholani), versucht, sich als Garant für Gerechtigkeit und Gleichheit darzustellen, ohne jemals das Wort »Demokratie« in den Mund zu nehmen. Seine Übergangsregierung besteht ausschließlich aus Mitgliedern der HTS, was wenig Hoffnung auf einen echten Neuanfang macht. Der Aufruf zur Rückkehr der Geflüchteten ist in meinen Augen ein Versuch, Legitimität zu erlangen und internationale Akzeptanz zu gewinnen. Ich persönlich werde nicht in ein Land zurückkehren, das unter islamistischer Herrschaft steht und sich möglicherweise zu einem zweiten Afghanistan entwickelt.

»Wer behauptet, Mohammed al-Baschir sei gemäßigt?«

Glauben Sie an einen moderaten Islam? Was bedeutet »ein Staat auf Basis des Islam« konkret?

Es gibt keinen moderaten Islam. Der Islam hat unveränderliche Gesetze und Regeln, die für alle Zeiten gelten sollen. Während einige Muslime versuchen, islamisches Recht mit zivilen Gesetzen zu verbinden, werden solche Versuche oft von Extremisten zunichtegemacht. Staaten, die auf religiöser, sektiererischer oder ethnischer Grundlage aufgebaut sind, sind oft gescheitert und leiden unter Konflikten, Unterdrückung und Gewalt. In einer Zeit technologischer Fortschritte und künstlicher Intelligenz kann man nicht ernsthaft auf mittelalterliche Gesetze bauen. Religionen basieren auf unveränderlichen Vorstellungen und Versuche, sie zu modernisieren, stoßen auf starken Widerstand. Deshalb ist eine Trennung von Religion und Staat unumgänglich.

 

Bei seiner Rede in der Moschee fiel der Satz: »Eine neue Ära für die islamische Gemeinschaft und die Welt«. Also nicht für Syrer*innen anderer Religionen?

Seit über 1400 Jahren haben Moscheen keine Wissenschaftler*innen oder Philosoph*innen hervorgebracht, sondern Extremist*innen und Fanatiker*innen, die Andersgläubige bekämpfen. Fast jede Freitagsansprache enthält eine Passage, die die Tötung von Juden und Jüdinnen oder Christ*innen rechtfertigt. Dies fördert Hass und Spaltung. Syrien ist jedoch ein multi-religiöses Land mit Christ*innen, Drus*innen, Jesid*innen, Alawit*innen, Ismailit*innen und weiteren Gruppen. Der Start der Übergangsregierung in einer Moschee signalisiert, dass die neue Führung versucht, die sunnitische Mehrheit zu mobilisieren, während andere Gruppen marginalisiert werden. Solche Schritte schaffen kein inklusives Syrien. Die internationalen Mächte haben anscheinend eine radikal-islamistische Gruppe an die Macht gebracht, um ihre eigenen geopolitischen Ziele zu verfolgen, insbesondere im Kampf gegen den Iran. Dies wird jedoch die Stabilität in Syrien und der gesamten Region weiter gefährden.

»Seit über 1400 Jahren haben Moscheen keine Wissen­schaftler*innen oder Philosoph­*innen hervorgebracht.«

Religiöse Minderheiten (Alawit*innen, Drus*innen, Christ*innen), Kurd*innen, Frauen, LGBTQ-Personen – wie sehen Sie deren Zukunft in Syrien?

Die Kurd*innen sind ein unterdrücktes Volk, das seit der Teilung Kurdistans nach dem Sykes-Picot-Abkommen vor knapp 100 Jahren für seine Rechte kämpft. Selbst in islamischen Ländern wie der Türkei, dem Iran, Irak und Syrien wurden die Rechte der Kurd*innen nie anerkannt. Für religiöse Minderheiten und andere marginalisierte Gruppen in Syrien sehe ich unter der aktuellen Führung eine düstere Zukunft. Die internationale Gemeinschaft muss eingreifen, um die Errichtung eines islamistischen Regimes zu verhindern, das die gesamte Region destabilisieren könnte.

 

Welche Rolle spielt Israel in der Übergangsphase? Ist Frieden mit Israel unter der neuen Regierung möglich?

Israel hat wahrscheinlich eine große Rolle beim Sturz Assads gespielt, insbesondere, um den Iran aus der Region zu verdrängen. Nach Assads Flucht zerstörte Israel vorsorglich große Teile der syrischen Waffenlager, um zu verhindern, dass diese in die Hände der HTS gelangen. Langfristig wird Israel nur Sicherheit und Frieden finden, wenn es demokratische, föderale Staaten in Syrien, Libanon, Irak und der Türkei unterstützt. Israel sollte aus den Fehlern Russlands und Irans lernen, die durch ihre Unterstützung für Assad die syrische Bevölkerung gegen sich aufbrachten. Stattdessen sollte Israel Partnerschaften mit den Bevölkerungen der Region aufbauen, um neue Balance zu schaffen und Demokratie und Entwicklung zu fördern. Nur durch die Demokratisierung der Region kann Israel langfristigen Frieden sichern.

Das Interview führte Eva Gutensohn. In dem dazugehörigen Audiobeitrag des südnordfunk kommt auch der Kurde Ivan Assad aus Freiburg zu Wort.

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