Postangestellte im Garment District von New York City, USA (2015)
Postangestellte im Garment District von New York City, USA (2015) | Foto: Henrik Johansson | Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0

Freitod statt Arbeitskampf

Warum Arbeiter*innen rechte Parteien wählen

Rekordergebnisse für die AfD bei den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen im September, die Wiederwahl Trumps im November 2024 – für viele waren und sind das erschreckende Ereignisse. Wie konnte es dazu kommen? Für den Aufstieg der autoritären Rechten gilt das Wahlverhalten von Arbeiter*innen als wichtiger Faktor. Etwas lassen viele Analysen dabei aber außer Acht: die Gefühle der Arbeiter*innen.

von Slave Cubela

10.02.2025
Veröffentlicht im iz3w-Heft 407

Die Frage, warum Arbeiter*innen rechte Parteien wählen, stößt inzwischen auf eine riesige Bandbreite an Texten und Argumenten. Und schaute man etwa nach der Trump-Wiederwahl in die Presse, war eine statistische Schlagseite der Diskussion kaum zu leugnen. Lohnentwicklung, Inflationsrate, gewerkschaftliche Organisationsgrade, Arbeitslosigkeit, Reichtumsverteilung – eine Reihe von Kennzahlen wird von vielen Autor*innen ins Feld geführt. Et voilà, schon scheint die Sache mit dem proletarischen Wahlverhalten klar zu sein. Diese Kennzahlen sind natürlich relevant, aber sie sind ungenügend. Denn solche statistischen Argumentationen versuchen Arbeiter*innen kaum als sinnliche, fühlende und denkende Menschen zu verstehen.

Auch kommen darin Arbeiter*innen nicht als Arbeiter*innen im eigentlichen Sinne vor – denn man nennt diese Menschen ja so, weil man realisiert, dass die Arbeitstätigkeit ihr Leben prägt. So muss die Arbeitserfahrung im Arbeitsprozess auch beim politischen Verständnis dieser sozialen Klasse eine wichtige Rolle spielen.

Digitalisiert, dis­ruptiv, dissoziierend

Wie steht es also um die Lohnarbeit im Arbeitsprozess des frühen 21. Jahrhunderts? Verkürzt könnte man sie als 3D-Arbeit begreifen, weil sie digitalisiert, disruptiv und dissoziierend ist. Digitalisierung macht den modernen Arbeitsprozess gläsern und kontrollierbarer. Bis in die Bewegungsabläufe der einzelnen Arbeiter*innen hinein können zum Beispiel digitale Brillen vorschreiben, was die Arbeitenden wie zu tun haben. Disruptiv wiederum sind Arbeitsprozesse zunehmend, weil im Sinne der ‚atmenden Fabrik‘, aber auch durch die Optimierung des Qualitätsmanagements unablässig Neuerungen und Unterbrechungen auf die Arbeiter*innen warten. Die Arbeitsstrukturen werden fortwährend aufgebrochen, Altes zerstört und Neues gesetzt. Dissoziierend ist die Arbeit des 21. Jahrhunderts, weil Belegschaften häufig genug interne Abstufungen kennen, so dass etwa am gleichen Band Arbeiter*innen die gleiche Arbeit leisten, sie aber durch einen blauen Strich in Stammbelegschaft und Leiharbeitende getrennt werden – mit höchst unterschiedlichen Arbeitslöhnen und Rechten. Die Arbeitswelt wird fortwährend über die Köpfe der Belegschaften hinweg neu zerteilt.

Im 21. Jahr­hundert leben Arbeiter*­innen in einer Welt des Wort­verlustes

Es wäre nun falsch zu behaupten, dass diese 3D-Arbeit belastender ist als die Arbeit vorgängiger Generationen. Solche Vergleiche sind nämlich kaum objektivierbar. Aber man kann festhalten: Wer Veröffentlichungen in der bürgerlichen Presse glauben will, denen zufolge die technische Entwicklung per se die Arbeit erleichtert, ist auf dem Holzweg. Schon vor Jahren hat der französische Psychoanalytiker Christophe Dejours auf das neuartige und verstörende Phänomen des Selbstmordes am Arbeitsplatz verwiesen und vermutet, »dass eine ganz Frankreich einbeziehende Erhebung zwischen 300 bis 400 Fälle im Jahr ermitteln würde.« In den USA wiederum ist der Amoklauf am Arbeitsplatz inzwischen derart verbreitet, dass er sogar sprichwörtlich geworden ist. »Going postal« meint nicht mehr den Gang zum Postamt, sondern »durchdrehen« oder »Amok laufen«. Der Begriff rührt daher, dass das Phänomen solcher Amokläufe in US-Postämtern gegen Ende des 20. Jahrhunderts seinen Anfang nahm. Diese Liste des Schreckens ließe sich leicht mit dem Blick in andere Industrieländer fortsetzen – nehmen wir dennoch ein weiteres Beispiel aus den USA. Eine Recherche des US-Nachrichtenportals The Daily Beast ergab, dass »Rettungskräfte mindestens 189 Mal wegen Selbstmordversuchen, Suizidgedanken und anderer psychischer Belastungen in die Lagerhäuser von Amazon gerufen« wurden. Das geschah zwischen Oktober 2013 und Oktober 2018 in 46 Packzentren der USA.

Wort­ergreifung, Wort­erstarrung, Wort­verlust

Doch so verstörend diese und viele andere Meldungen auch sind, es wäre zu einfach, sie lediglich als Ausdruck einer überausbeuterischen 3D-Arbeit zu verstehen. Wenn Menschen den Freitod dem kollektiven Freiheitskampf vorziehen, dann ist dies vielmehr ein sicheres Zeichen dafür, dass die aktuelle Arbeitswelt von einer »tiefgreifenden Beschädigung des Zusammenlebens und der Solidarität« geprägt sein muss. So beschreibt es wiederum Christophe Dejours in dem Aufsatz »Neue Formen von Verknechtung und Selbsttötung«, der in seinem Band »Psychopathologien der Arbeit. Klinische Fallstudien.« (2012) erschien. Oder um meine eigenen Forschungen einfließen zu lassen: Gelang es früheren Generationen noch ihre Ausbeutung qua Arbeit kollektiv und autodidaktisch zu reflektieren, so dass jene Wortergreifung im 19. Jahrhundert stattfand, an deren Ende die Selbstkonstituierung der Arbeiter*innen zur Arbeiterklasse stand, dann ist das eine vergangene Epoche.

Im 21. Jahrhundert leben Arbeiter*innen in einer Welt des Wortverlustes. Ohne die proletarischen Parallelgesellschaften früherer Zeiten mit ihrer räumlichen Nähe, ihren Treffpunkten, ihren organischen Intellektuellen und Wortführer*innen erfahren Arbeiter*innen die Arbeitswelt als eine kalte und fremde Welt. Die Folge ist das, was nicht nur Joe Bageant als »einseitigen Klassenkampf« wahrnimmt und den er metaphorisch treffend wie folgt umschreibt: »Das Problem liegt darin, dass von diesem Klassenkampf nur eine Seite überhaupt Notiz nimmt, und zwar die Seite, die der anderen in den Hintern tritt. Das Ganze lässt sich mit jemandem vergleichen, der in einen Leinensack gesteckt wurde und von innen zu erraten versucht, wer mit seinem Baseballschläger von außen auf ihn einprügelt.«

Vor diesem Hintergrund nun erklärt sich das Phänomen rechtswählender Arbeiter*innen. Erstens: Wenn Arbeiter*innen einem so bedeutsamen Teil ihres Lebens wie ihrer Arbeit kollektiv keinen Sinn mehr zusprechen können, dann werden sie für die individualistischen Narrative des Neoliberalismus empfänglicher. Die Wahl rechter Parteien durch Arbeiter*innen wurde aber nicht nur durch die neuen Einflüsterungen eines aggressiver werdenden Kapitals vorbereitet. Auch linke Parteien und Gewerkschaften spielten eine Rolle. Indem sie den Neoliberalismus nur vorsichtig kritisierten, indem sie sogar in der New-Labour-Epoche ihre Kernklientel verrieten, fielen sie als stabiler, reflexiver Ankerpunkt zugunsten der arbeitenden Klasse aus.

Zweitens: Der Verlust der kollektiven Selbstaufklärungs-Praxen wiegt für die Arbeiter*innen zusätzlich schwer, weil die Suche nach Antworten gegenüber dem harten Arbeitsleben nicht aufhört. Viele Arbeiter*innen suchen die Antworten heute im digitalen Raum. Bedenkt man jedoch, dass durch schriftferne Arbeit viele Arbeiter*innen ihre Lese- und Schreibfähigkeiten einbüßen und als funktionale Analphabet*innen zu gelten haben, dann ahnt man, dass sie im Informationsdschungel des Internets eine Gruppe sind, die für einfache und verquere Antworten anfällig ist. Dabei muss man der Rechten eins zugestehen: Ihre Videos und ihre oftmals in einfacher Sprache gehaltenen Texte sind professionell und zielgruppenorientiert gemacht.

Drittens: Je länger der Wortverlust andauert, umso mehr muss der Mangel an kollektiven Ressourcen eine Sehnsucht nach ebendiesen hervorrufen. Insofern ist es für Arbeiter*innen ungemein verführerisch, auf die oft einzig verbliebene, kollektive Ressource zurückzugreifen, die ihnen geblieben ist: die eigene Herkunft und Sprache. Rechtspopulist*innen wie Trump wittern das und betonen deshalb in Wahlveranstaltungen geschickt die harte und ehrliche Arbeit »echter« Amerikaner*innen. Manche Arbeiter*innen erfahren so jene Anerkennung, nach der sie in ihrem Leben sonst vergeblich suchen.

Die Nicht­wählerpartei

Doch es gibt noch einen wichtigen Aspekt, der der Vollständigkeit halber erwähnt werden muss: Wenn auch der Anteil rechter Arbeiter*innen nicht kleingeredet werden darf, so wäre es gegenwärtig doch übertrieben, von rechten Arbeiterschaften zu reden. Bei fast allen Wahlen in der letzten Zeit ist die Partei der Nichtwählenden die stärkste der Parteien im ehemaligen Proletariat. Und dass Menschen, die Tag für Tag in einer Arbeitswelt schuften, in der sie einsam sind, die diese Welt nicht mehr verstehen und die von einer Medienwelt voller rechter Parolen und Versuchungen umgeben sind, immer noch eine Distanz gegenüber der sie umwerbenden politischen Rechten einnehmen, ist durchaus eine beachtliche politische Leistung.

 

Literatur

Marc Ames: Going Postal. Rage, Murder and Rebellion: From Reagan’s Workplaces to Clinton Columbine and beyond. New York 2005

Joe Bageant: Auf Rehwildjagd mit Jesus. Meldungen aus dem amerikanischen Klassenkampf. Mainz 2012

Slave Cubela: Wortergreifung, Worterstarrung, Wortverlust. Industrielle Leidarbeit und die Geschichte der modernen Arbeiterklassen. Münster 2023

 

Slave Cubela arbeitet für eine deutsche Gewerkschaft und schreibt u.a. regelmäßig für linksgewerkschaftliche Publikationen wie den Express.

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