
»3000 türkische Juden wurden in KZs ermordet«
Das letzte Interview mit Doğan Akhanlı
Als politisch engagierter Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist musste der 1957 geborene Doğan Akhanlı die Türkei nach Kerkerhaft und Folter 1991 verlassen. Seitdem lebte er die meiste Zeit in Köln im Exil. Noch Jahrzehnte später sah er sich der Willkür des Erdoğan-Regimes ausgesetzt. Denn er thematisierte in seinen Romanen Tabus der türkischen Geschichte wie den Völkermord an den Armenier*innen. Deshalb wurde er 2010, als er seinen kranken Vater besuchen wollte, in Istanbul verhaftet (iz3w 365). 2017 landete er im spanischen Granada aufgrund eines von der Türkei bei Interpol lancierten Fahndungsaufrufs in Abschiebehaft (iz3w 370). Dank internationaler Solidaritätskampagnen kam er wieder frei. Kurz vor seinem Tod im Oktober 2021 arbeitete er mit dem Kölner Theater im Bauturm an der Bühnenfassung seines Hauptwerks »Madonnas letzter Traum«. Die Premiere erlebte er nicht mehr. Sein letztes Interview erschien im September 2021 in der Kölner Kulturzeitschrift choices.
H.-C. Zimmermann: Herr Akhanlı, Sie haben mit »Madonnas letzter Traum« einen Roman über Sabahattin Alis Romanklassiker »Die Madonna im Pelzmantel« geschrieben. Was war der Ausgangspunkt der Idee?
Doğan Akhanlı: Ich habe mich Ende der 1990er-Jahre sehr intensiv mit den NS-Verbrechen in der deutschen Geschichte und ihrer Aufarbeitung beschäftigt. Ausgelöst wurde das auch durch meine Emigration aus der Türkei nach Deutschland. Zeitgleich habe ich Sabahattin Alis Roman gelesen. Dabei habe ich mir die Frage gestellt, warum er 1943 eine Geschichte schreibt, in deren Zentrum die deutsche Jüdin Maria Puder steht, die an der Geburt ihres Kindes stirbt. Und ob eine Jüdin in einem Roman aus der damaligen Zeit an einer Geburt sterben kann und darf.
Deshalb beginnt Ihre Überschreibung in »Die Madonna im Pelzmantel« mit dem Satz »Maria Puder ist nicht so gestorben«?
Damit begann meine Spurensuche: Wenn Maria Puder nicht im Kindbett gestorben ist, wie ist sie dann ums Leben gekommen? Diese Suche hat sich mit der Frage nach der Mitschuld der sogenannten neutralen Länder am Holocaust verbunden. Welche Politik hat zum Beispiel die Türkei gegenüber den jüdischen Minderheiten im eigenen Land oder den Geflüchteten verfolgt?

Der Kölner Erzähler stößt im Laufe des Romans auf eine Figur namens Alma, die angeblich die Tochter von Maria Puder ist. Ist das noch eine fiktive oder eine reale Figur?
Ob Alma fiktiv oder real ist, spielt keine Rolle, ihre Funktion im Roman ist das Entscheidende. Ich konnte den Ich-Erzähler aus Köln nicht allein durch die Hölle schicken. Ich brauchte eine zusätzliche Perspektive, die mit dem Geschehen enger verbunden ist und mehr über die Geschichte weiß. Alma ist für mich die Erinnerungsarbeiterin im Buch und damit das Gesicht des neuen Deutschlands, das sich mit den Verbrechen auseinandersetzt. Auch deshalb verliebt sich der Kölner Autor in Alma, weil für ihn das alte Deutschland unerträglich ist. Er ist selbst ein Entwurzelter, der eine neue Identität und eine neue Heimat sucht. Alma ist eine Möglichkeit für ihn, sich selbst neu zu entdecken.
Ihr Roman folgt weniger einem kausalen Erzählen als einer Architektur der Anspielungen, bei dem zum Beispiel der Genozid an den Armeniern, Maria Puder, Sabahattin Ali und andere miteinander in Beziehung treten. Ist der Roman – so wie die Geschichte – gar nicht kausal zu erzählen?
Ich habe eine Neigung dazu, Geschichten und Ereignisse nicht isoliert zu erklären. Für mich ist der Holocaust zum Beispiel nicht allein ein Kapitel der deutsch-jüdischen Geschichte. Ich stelle die Frage, ob es Verbindungen zwischen der Vernichtung der Armenier und der Vernichtung der Juden gibt, ohne beide deswegen gleichsetzen zu wollen. Welche Parallelen, aber auch Unterschiede gibt es zwischen diesen genozidalen Erfahrungen?
Inwieweit hat sich das in der türkischen Gesellschaft niedergeschlagen?
Es hat keine offizielle Aufarbeitung des Genozids an den Armeniern oder der Haltung der Türkei gegenüber den Juden gegebenen. Die türkischen Narrative lauten, dass wir die Guten waren und Tausende Juden gerettet haben. Die Forschung bestätigt das nicht. Es gab zwar vereinzelt Solidarität mit den europäischen Juden, aber die antizionistische Haltung war in der Türkei stark verbreitet und mehr als 3.000 türkische Juden wurden in Konzentrationslagern umgebracht. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben 80 Prozent der rund 200.000 türkischen Juden das Land verlassen. Und der Genozid an den Armeniern ist bis heute nicht aufgearbeitet.
Die deutsche Übersetzung desselben Romans ist 2019 im Sujet-Verlag erschienen. Dieser veröffentlichte im Oktober 2024 auch den letzten Roman SANKOFA von Doğan Akhanlı. Er erzählt von Liebe und Freundschaft, Widerstand und Repression in der Türkei und vom deutschen Staats-Skandal um die NSU-Morde.