Der gescheiterte »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«

Interview mit Tobias Lambert über die politische Lage in Venezuela

Audiobeitrag von David Graaff

07.11.2024

Vor mehr als 25 Jahren kam in Venezuela der linke Militär Hugo Chávez an die Macht. Kurz darauf startete er das Projekt eines »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«. Unter seinem Nachfolger, Nicolás Maduro, ist heute allerdings nicht mehr viel von den einst emanzipatorischen Ansätzen übrig. Die Regierung ist in eine anti-demokratische, korrupte und teils autoritäre Herrschaft gekippt. Bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Juli gewann Maduro erneut – zumindest laut Angaben des Nationalen Wahlrats. Die rechte Opposition spricht von Wahlbetrug.

Der Journalist Tobias Lambert beobachtet die Entwicklungen in Venezuela seit vielen Jahren und hat nun ein Buch dazu veröffentlicht: »Gescheiterte Utopie. Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chavez.« Unser Kollege David Graaff hat mit dem Autor gesprochen.


Skript zum Interview mit Tobias Lambert

Erstausstrahlung am 5. November 2022 im südnordfunk #126 auf Radio Dreyeckland

David Graaff: Steht einer weiteren Amtszeit von Nicolás Maduro nun nichts mehr im Wege?

Tobias Lambert: Nach jetzigem Stand würde ich sagen: Maduro wird seine Amtszeit am 10. Januar antreten. Ich wüsste nicht, wer oder was das jetzt verhindern soll. Daraus resultiert aber nicht, dass er eine legitime Amtszeit antritt, denn die Wahl ist sehr umstritten. Es gibt nach allen Indizien, die vorliegen, begründete Zweifel daran, dass das Ergebnis, was der Nationale Wahlrat verkündet hat, der Wahrheit entspricht. Es spricht sehr viel dafür, dass die Regierung Maduro diese Wahl nicht gewonnen hat. Sie hat keinerlei Beleg dafür vorgelegt, dass das verkündete Ergebnis stimmt. Es basiert lediglich auf einem vorgelesenen Zettel im Fernsehen. Es sind noch nicht einmal offizielle Ergebnisse veröffentlicht worden - völlig unüblich für venezolanische Wahlen. Doch das heißt nicht, dass die Opposition für sich eine besonders demokratische Haltung in Anspruch nehmen kann, aber dieses Mal lag wahrscheinlich der Oppositionskandidat vorne.

Zu deinem Buch, das vor wenigen Tagen erschienen ist. Es heißt »Gescheiterte Utopie. Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez«. Worin bestand denn das Utopische dieses Projekts?

Das Utopische im chavistischen Projekt bestand vor allem erstmal in ganz grundlegenden Dingen, wie: »Wir wollen ein Land, in dem es soziale Gerechtigkeit gibt. Wir wollen ein Land, das demokratischer ist, als es bisher war, in dem die Menschen, vor allem aus den Unterschichten, sehr stark teilhaben, partizipieren. Wir wollen ein Land, in dem das Wirtschaftssystem gerechter gestaltet ist, in dem alternative Wirtschaftsformen gefördert werden, in dem die Armut überwunden wird.«

Das sind die grundlegenden utopischen Prämissen, die das chavistische Projekt in der Frühzeit charakterisiert hat und an denen es sich auch in den ersten Jahren oder während Chávez' Lebzeiten orientiert hat.

Und warum oder woran ist dieses linke, utopische, emanzipatorische Projekt dann letztlich gescheitert?

Da gibt es mehrere Gründe. Zu Chávez' Lebzeiten konnte man noch nicht davon sprechen, dass das chavistische oder bolivarianische Projekt gescheitert war. Doch es gab natürlich einige Dinge, die auch damals schon kritisch zu betrachten sind. Dazu zählt etwa, dass Chávez während dieser Phase ab 2003, als die Erdölpreise sehr hoch waren, die gesamte Politik darauf ausgerichtet hat, dass die Erdölpreise hoch bleiben würden. Das heißt, die Ausgaben wurden immer weiter gesteigert. Es wurde sehr viel Geld für Experimente ausgegeben, was per se nicht schlecht ist. Da wurde dann mal das Eine gefördert, im nächsten Jahr war es dann wieder überholt, dann wurde etwas anderes gefördert und so weiter. Dabei ist sehr viel Geld versickert. Die Korruption spielte auch eine große Rolle.

Mit dem Einbruch der Erdöl­preise ab 2014 konnten viele von Chávez' Politiken nicht mehr finan­ziert werden.

Vor allem aber war eines der Hauptprobleme, dass einfach die offene Diskussionskultur nur sehr begrenzt stattfand, die nötig gewesen wäre, um einen, wie Chávez es ab 2005, 2006 ausdrückte, Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu entwerfen. Das lag zum Teil daran, dass eine permanente Bedrohung von außen und durch die rechte Opposition tatsächlich gegeben war. Dies führte dann aber dazu, dass allzu kritische Stimmen immer abgewürgt oder unterdrückt wurden, obwohl der Chavismo sehr fest im Sattel saß. Es wurde argumentiert: »Wenn wir das jetzt so offen besprechen, dann spielt das doch dem Feind in die Hände« und »Das besprechen wir lieber später nach der Wahl« etc. Da aber ein ständiger Prozess von Wahlen, Abstimmungen und Referenten in diesen Jahren stattfand, kam es selten zu tiefgreifenden Diskussionen.

Auf wirtschaftlicher Ebene wurde dann mit dem Einbruch der Erdölpreise ab 2014 deutlich, dass viele der Politiken, die vorher vollzogen wurden, Verstaatlichungen, Entschädigungen, Sozialpolitiken und so weiter, gar nicht mehr finanzierbar waren. Das war schon unter Chávez' Nachfolger Maduro. Dann hat der Staat sehr viele Importe und Sozialpolitiken zurückgefahren. Das lag weniger an Maduro, sondern daran, dass er von Chávez bestimmte systemische Elemente geerbt hatte, die nur funktioniert haben, weil die Erdölpreise hoch gewesen sind.

Es gab jahrelange Hyperinflation und teilweise Versorgungsprobleme der Bevölkerung bei Mitteln des täglichen Bedarfs. In den letzten zehn Jahren haben laut der Vereinten Nationen 7,7 Millionen Menschen das Land verlassen. Zugleich hat Nicolás Maduro auch einen Großteil der westlichen Staaten gegen sich, auch die Europäische Union oder Deutschland. Warum gelingt es Maduro trotzdem an der Macht zu bleiben?

Das wirkt von außen erst einmal tatsächlich sehr paradox. Denn man sollte meinen, in jedem anderen Land, das sich in einer solch tiefgreifenden Krise befindet, wäre so eine Regierung längst weggefegt worden, oder die Opposition würde bei Wahlen gewinnen. Dass es in Venezuela nicht so ist, hat mehrere Gründe. Zum einen würde ich die jahrelange Schwäche der Opposition selbst nennen. Über die letzten 20 Jahre bewegte sich diese rechte Opposition, die vor allem die alte Elite verkörpert, ständig zwischen der Teilnahme an Wahlen und Straßenprotesten, um die Regierung zu stürzen. Das ging einmal in die eine Richtung, einmal in die andere, aber sie hat niemals eine kohärente Strategie entworfen, die die Leute davon überzeugt hätte, dass es irgendwie Sinn macht, auf diese Opposition zu setzen.

Das Zweite ist, dass die jetzige Regierung zwar einen Großteil der chavistischen Errungenschaften und Überzeugungen über Bord geworfen hat, aber ideell und ideologisch immer noch einen guten Teil der chavistischen Bevölkerung anspricht, indem sie den chavistischen Diskurs weiterhin betreibt - also weiterhin sozialistische Versatzstücke mit einbezieht. Und in ihren Diskurs weiterhin sehr stark gegen die USA und gegen die rechte Opposition agitiert, wo sich sehr viele Leute auch wiedererkennen, im Gegensatz zur rechten Opposition, wo sie überhaupt keinen Anhaltspunkt für sich sehen. Denn wer in Venezuela nicht zur Mittel- und Oberschicht gehört, verspricht sich nichts von der rechten Opposition. Die haben gar kein Angebot für diese Leute.

Der dritte Punkt ist sicherlich auch die Rolle des Militärs heutzutage. Besonders unter Maduro, der [im Gegensatz zu Chávez, a.d.R.] nicht aus dem Militär stammt, haben die Militärs deutlich mehr Einfluss bekommen. Sie haben sehr viele Staatsunternehmen übernommen, haben große wirtschaftliche und politische Interessen, und sind ein klarer Stabilitätsanker für die jetzige Regierung. Es ist kein Zufall, dass die rechte Opposition seit vielen Jahren an das Militär appelliert, die Seiten zu wechseln. Sie wissen, wenn das tatsächlich passieren würde, dann hätten sie gute Chancen an die Regierung zu kommen. Das wäre dann zwar nicht sonderlich legitim, aber es wäre zumindest eine de facto Möglichkeit für die Opposition.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Kontrolle der Institutionen. Unter Maduro werden diese Institutionen völlig offen und schamlos dafür verwendet, den Machterhalt der Regierung abzusichern. Formal, laut Verfassung, sind es natürlich unabhängige Institutionen, die nicht der Regierung dienen. De facto tun sie das aber. Ein Beispiel ist das oberste Gericht. Das ist neben dem Militär jetzt die wichtigste Institution und vor allem die wichtigste politische Gewalt in Venezuela zur Absicherung der Macht der Regierung Maduro. Mir ist keine einzige Entscheidung bekannt, wo das oberste Gericht während der Regierungszeit von Maduro gegen die Interessen der Regierung geurteilt hätte. Und das geht so weit, dass sie jetzt nach der umstrittenen Wahl diese einfach absegnet, ohne dass irgendein Beleg dafür vorgelegt wird, dass die Regierung die Wahl tatsächlich gewonnen hat. Über die Institutionen hat die Opposition im Prinzip keine Chance, die Macht in Venezuela zu übernehmen, solange die Institutionen sich derart offen in den Dienst der Regierung stellen und sich den Machterhalt der Regierung auf die Fahnen schreiben.

Könnte es im Fall eines erneuten Wahlsiegs der Republikaner in den USA in der neuen Amtszeit Maduro zu erneuten Versuchen kommen, auch mit Unterstützung oder in Zusammenarbeit mit der Opposition Maduro dann notfalls auch mit Gewalt aus dem Amt zu putschen?

Da ein demo­kratischer Regierungs­wechsel unwahr­scheinlich ist, sind gewalttätige Umsturz­versuche nicht ausge­schlossen.

Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass es in den nächsten Monaten oder auch Jahren zu Gewalt und neuen Umsturzversuchen in Venezuela kommt. Als sich Juan Guaidó kurzzeitig zum Interimspräsidenten erklärt hatte, mit Unterstützung der USA, gab es mehrfache Versuche, die Regierung zu stürzen. Die sind alle fehlgeschlagen. Mittlerweile wirft die Regierung der Opposition vor, permanent einen Putsch zu planen. Es wird auch über Versuche gemunkelt, die Regierung mit irgendwelchen Söldnertruppen zu stürzen. Was da dran ist, kann man im Moment nicht sagen. Aber da offensichtlich die Möglichkeit, die Regierung demokratisch abzulösen, nicht mehr gegeben ist, muss natürlich damit gerechnet werden, dass die Opposition sich früher oder später wieder auf eine gewalttätige Strategie einlässt.

Bei der Rolle der USA gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine wäre tatsächlich, dass sie vielleicht über verdeckte Operationen versuchen, Regierungswechsel herbeizuführen. Die andere zielt auf Stabilität in Venezuela ab. Das ist das Hauptinteresse nicht nur der USA, sondern auch der Nachbarländer wie Brasilien und Kolumbien. Niemand will, dass in Venezuela wieder monatelange Unruhen stattfinden, dass die Migrationszahlen wieder hochschnellen, dass die Erdölversorgung in Gefahr gerät. Momentan gibt es ja noch oder wieder Sanktionen: Es darf nur ein kleiner Teil des Erdöls in die USA exportiert werden. Aufgrund der Weltlage sind die USA aber daran interessiert, eine stabile Erdölversorgung kurz- und mittelfristig aus Venezuela wiederherzustellen. Wie sie das hinbekommen, das ist im Moment ein bisschen fraglich. Es gibt auch Stimmen, die sich dafür aussprechen, dass man doch mit der Regierung Maduro eine stabilere Situation vorfindet in den nächsten Jahren, und dann doch wieder mit der Regierung mehr Geschäfte machen könnte.

Shownotes

Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez.

Politische Krise in Venezuela. Nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl geht der Machtkampf in eine neue Runde.

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