Zwei Soldaten in einer Zeichnung
Zeichnung von Amado Alfadni (Ägypten/Sudan) | Foto: recherche international e.V.

Vier Jahrzehnte Erinnerungs­arbeit

Das Projekt »Die Dritte Welt im Zweiten Welt­krieg«

Vor Jahrzehnten stellten Mitarbeiter*innen des Rheinischen Journalistenbüros fest, dass der antifaschistische Kampf, den Millionen Menschen aus dem ‚globalen Süden‘ während des Zweiten Weltkriegs gegen die faschistischen Achsenmächte geführt haben, kaum bekannt war. Seitdem versucht das Kölner Medien-Kollektiv, dies zu ändern.

von Karl Rössel

11.02.2025
Veröffentlicht im iz3w-Heft 407
Teil des Dossiers Vergessene Befreier

Der Ausgangspunkt des Projekts »Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg« liegt vier Jahrzehnte zurück. Es war Mitte der 1980er-Jahre, als wir im damaligen Rheinischen Journalistenbüro an einem Buch über die Dritte-Welt-Bewegung in der Bundesrepublik arbeiteten*. Dabei fiel uns auf, dass es während des Zweiten Weltkriegs eine breite Solidarität in umgekehrter Richtung gab: von Ländern und Befreiungsbewegungen in der (damals allgemein so genannten) Dritten Welt, die den antifaschistischen Widerstand in Deutschland und Europa unterstützten. Dazu gehörten auch Einsätze unzähliger Soldaten aus Afrika, Asien, Ozeanien und Lateinamerika auf Seiten der Alliierten. Doch in der hiesigen Literatur fanden wir darüber keine zuverlässigen Informationen.

Selbst die Opfer aus der Dritten Welt kamen in den Statistiken über den Zweiten Weltkrieg nicht vor. Darin waren stets die mehr als 20 Millionen Opfer in der Sowjetunion aufgelistet, die sechs Millionen Ermordeten des Holocausts und die etwa 5,5 Millionen Toten in Deutschland – sie oft an erster Stelle. Dann folgten Zahlen aus Frankreich, Großbritannien, Italien, den USA und Japan bis hin zu den zirka 1.400 Kriegstoten in Dänemark. Aber über Kriegsopfer in der Dritten Welt fand sich nichts, was sich im Übrigen bis heute wenig geändert hat. Diese Ausblendung weiter Teile der Welt aus der Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg empfanden wir als so ungeheuerlich, dass wir fortan versuchten, daran etwas zu ändern.

Ab Mitte der 1990er-Jahre haben wir die Recherchen intensiviert und bei journalistischen Reisen durch Länder Afrikas, Asiens und Ozeaniens auch Interviews mit Zeitzeug*innen und Historiker*innen zum Zweiten Weltkrieg geführt. Wir sammelten Biografien von Veteranen, Dokumentar- und Spielfilme, Romane und Sachbücher, Fotos, Archivmaterialien und historische Dokumente. Dabei zeigte sich schnell, dass die Folgen des Zweiten Weltkriegs in den betroffenen Ländern selbst sehr präsent und teilweise schon systematisch aufgearbeitet waren. Überall fanden sich Zeitzeug*innen, die sofort bereit waren, von ihren Kriegserlebnissen zu erzählen. Denn sie wollten, dass ihr Beitrag zur Befreiung der Welt vom Faschismus endlich anerkannt wird.

Zehn Jahre Recherchen in 30 Ländern

So gibt es in nahezu jeder größeren afrikanischen Stadt ein Haus, in dem sich Veteranen aus den Kolonialarmeen treffen. In den ehemals französischen Kolonien heißen diese Zentren »Maison d’anciens combattants«, ihre britischen Pendants nennen sich »Veterans-Clubs«. Auch auf der Pazifikinsel Tahiti gab es einen solchen Treffpunkt und in der philippinischen Hauptstadt Manila einen weiteren für ehemalige Partisan*innen der antijapanischen Guerilla.

Bei den Recherchen haben wir so weit möglich einheimische Historiker*innen zu Rate gezogen, denn wir wollten keine Geschichtsschreibung aus »weißer«, europäischer Perspektive. So haben wir Joseph Ki-Zerbo in Burkina Faso interviewt, der die erste Geschichte Afrikas aus afrikanischer Sicht geschrieben hatte. Bei einem Interview in Ouagadougou bezeichnete er den Zweiten Weltkrieg als »größten historischen Einschnitt für Afrika seit dem Sklavenhandel und der Zerstückelung des afrikanischen Kontinents bei der Berliner Kongo-Konferenz im Jahre 1884«.

In Manila unterstützte uns Ricardo Trota José von der Universität der Philippinen. Er hat zu den Folgen der japanischen Besatzungszeit in dem Inselstaat geforscht und teilte uns mit, dass in seinem Land jede*r Sechzehnte im Zweiten Weltkrieg umgekommen ist – insgesamt 1,1 Millionen Menschen.

In Hongkong führte der chinesische Historiker Tim Ko durch ein Museum zu den Folgen des japanischen Besatzungsregimes in der damals britischen Kolonie. Und aus Nanking lieferte uns eine Sinologin Augenzeugenberichte von Überlebenden des Massakers, bei dem die japanischen Truppen 1937/38 in der damaligen chinesischen Hauptstadt innerhalb weniger Wochen über 300.000 Menschen ermordeten.

Ein Buch, Unterrichtsmaterialien, eine Ausstellung


Im Jahr 2005 konnten wir die Ergebnisse der Recherchen als »recherche international e.V.« im Buch »Unsere Opfer zählen nicht – Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg« zusammenfassen. Es erschien im Verlag Assoziation A in vier Hardcover-Auflagen und ist seit 2014 als Paperback-Ausgabe bei der Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich. Im Juni 2020 stellte es die Neue Zürcher Zeitung – neben Klassikern von Primo Levi, Raul Hilberg, Daniel Goldhagen und Hannah Arendt – als »eines von fünfzehn Werken über den Zweiten Weltkrieg« vor, »die in den letzten 75 Jahren Debatten auslösten und Reflexionen anstießen«.

Damit außereuropäische Perspektiven zu den Kriegsfolgen auch in Schulen und Hochschulen mehr berücksichtigt werden, haben wir 2008 Unterrichtsmaterialien herausgegeben. Diese gingen auch an mehr als 20 Schulbuchverlage, verbunden mit der Bitte, die darin enthaltenen Fakten zu Kriegsfolgen in der Dritten Welt in zukünftigen Ausgaben ihrer Geschichtsbücher zu berücksichtigen. Aber nur der Klett-Verlag und der Cornelsen-Verlag haben seitdem Zeitzeugnisse aus Afrika und Asien aus den Materialien von recherche international in Neuauflagen ihrer Schulbücher übernommen.

Um dem Thema in der breiteren Öffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, haben wir 2009 zudem eine Wander-Ausstellung in verschiedenen Formaten produziert, die seitdem in mehr als 60 Orten hierzulande und in der Schweiz zu sehen war und Zehntausende Besucher*innen erreichte. Eine englische Ausstellungsfassung tourt seit 2017 durch Südafrika. Für Bildungseinrichtungen in Mosambik wurde 2020 eine portugiesische Version erstellt, wenn auch – wegen der Covid-Pandemie – nur in Form eines Booklets.

Zum Abschluss des Langzeitprojekts wird die große Ausstellung rund um den 80. Jahrestag des Kriegsendes in Europa (am 8. Mai 2025) noch einmal in einer aktualisierten und erweiterten Fassung im Kölner NS-Dokumentationszentrum gezeigt (8. März bis 1. Juni 2025), eine kleinere Fassung tourt durch Hamm, Münster, Wuppertal, Göttingen und Darmstadt.

Auf der Webseite finden sich ausführliche Informationen über das Projekt, darunter das Buch und die Unterrichtsmaterialien zum kostenlosen Download und ab März die Online-Versionen der Ausstellung in Deutsch, Englisch, Französisch und Portugiesisch. Das Archiv für alternatives Schrifttum (afas) in Duisburg übernimmt Mitte 2025 die von recherche international e.V. gesammelten historischen Materialien, die damit ebenfalls für alle Interessierten dauerhaft nutzbar bleiben.

Karl Rössel ist Mitbegründer von recherche international e.V.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 407 Heft bestellen
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