Buchcover von Corry Guttstadt: Antisemitismus in und aus der Türkei

An allem ist das »Mastermind« schuld

Rezensiert von Udo Wolter

29.04.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 402

Nach dem Hamas-Terror vom 7. Oktober brach sich auch in der Türkei antisemitischer Furor gegen Israel Bahn, im Schaufenster eines Instanbuler Geschäfts wurde sogar ein Schild mit der Aufschrift »Zutritt für Juden verboten« gesichtet. Angestachelt wurde dies auch von Präsident Erdoğan, der die Hamas als »Befreiungsorganisation« pries und Israel als »Terrorstaat« verdammte, Premier Netanjahu mit Hitler gleichsetzte. Über die DITIB-Moscheen und türkische Medien erreicht dieser staatlich geförderte Antisemitismus auch hierzulande die türkisch-deutsche Bevölkerung, gut sichtbar an der Präsenz türkischer Fahnen auf antiisraelischen Demonstrationen.

Somit kommt der von Corry Guttstadt und Sonja Geller herausgegebene Sammelband Antisemitismus in und aus der Türkei genau zum richtigen Zeitpunkt. Der Band verfolgt die Entwicklung des Antisemitismus in der Türkei von der Endphase des osmanischen Reiches bis zur Gegenwart, beleuchtet ihre kulturelle Verbreitung und widmet sich deren Auswirkungen in den deutsch-türkischen Communities sowie den Möglichkeiten einer zivilgesellschaftlichen Bekämpfung des Antisemitismus.

Auch den linken Antisemitismus spart das Buch nicht aus.

Der Sammelband vernetzt die Beiträge einiger für die Entwicklung antisemitischer Diskurse in der Türkei wichtiger Personen und Topoi, durch zahlreiche Verweise. Mehrfach begegnet einem etwa der Dichter, Aktivist und Theoretiker Necip Fazıl Kısakürek, auf dessen eliminatorisch antisemitisches Gedankengut sich sowohl türkische Islamisten, wie auch Recep Tayyip Erdoğan, als auch rechtsnationalistische Kreise beziehen. Er gilt auch als Vordenker der spätestens unter Erdoğan als Doktrin hegemonial gewordenen »türkisch-islamischen Synthese«. Die antisemitischen Diskurse in der Türkei beruhen meist auf Verschwörungserzählungen, die sich sowohl auf bekannte europäische antisemitische Quellen beziehen als auch eigene Entwicklungen umfassen. Dazu gehören etwa die Mythen um die verschwörerischen Machenschaften der »Dönme« genannten Nachfahren konvertierter Juden, die angeblich heimlich weiter ihre alten Rituale praktizieren. In der Spätphase des Osmanischen Reichs entstanden, ranken sich diese Mythen vor allem um dessen Niedergang und die Republikgründung.

Ebenfalls mit dem Ende des Osmanischen Reiches verbunden ist die Verschwörungserzählung, nach der Theodor Herzl von Sultan Abdülhamid II Land in Palästina habe kaufen wollen. Da dieser ablehnte, hätten die Zionisten aus Rache die Zerstörung des Osmanischen Reiches betrieben. Diese Legende spielt nicht nur eine wichtige Rolle in der Ideologie des Gründers der islamistischen Milli-Görüs-Bewegung Necmettin Erbakan, dem geistigen Ziehvater von Erdoğan, sondern wurde und wird auch auf der säkularen Seite aufgegriffen. In jüngster Zeit wurde dieser antisemitische Verschwörungsmythos in epischer Breite von der äußerst populären, in zahlreiche Länder exportierten Fernsehserie »Payitaht Abdülhamid« ausgemalt, die Gegenstand eines der Buchbeiträge ist.

Solche antisemitischen Verschwörungsmythen werden oft auch in verklausulierte Begriffe wie Erdoğan Rede von einer die Türkei sabotierenden »Zinslobby« gekleidet - und vor allem eines hinter allen angeblich türkeifeindlichen Machenschaften steckenden ominösen »Mastermind« (türkisch: Üst Akıl). Dieser verberge sich ebenso hinter dem Erdoğans früherem Verbündeten Fethullah Gülen und seinen Anhänger*innen zugeschriebenen Putschversuch von 2016, wie auch hinter den Gezi-Protesten von 2013. Diese wurden angeblich im Auftrag des durch den ungarisch-jüdischen Finanzinvestor George Soros repräsentierten »Üst Akıl« von dem Kulturmäzen Osman Kavala angezettelt, der aufgrund solch hanebüchener Vorwürfe seit mittlerweile sechs Jahren inhaftiert ist.

Die Vielfalt der ausländischen und inländischen Einflüsse des türkischen Antisemitismus zeigt, dass dieser als zusammenhängender Komplex begriffen werden muss, und wie kurz die beliebte Rede hierzulande vom »importierten Antisemitismus« greift, wenn es um antiisraelische Proteste geht. Auch den linken Antisemitismus spart das Buch nicht aus. Zu nennen ist hier neben einem Beitrag zur kurdischen Bewegung, der den Antisemitismus des PKK-Gründers Abdullah Öcalan dokumentiert, auch der Aufsatz über die Entführung und Ermordung des israelischen Generalkonsuls Efraim Hofstaedter Elrom im Jahr 1971 durch die THKP-C. Deren Kader wurden zuvor zusammen mit der deutschen RAF, der italienischen Brigate Rosse und der japanischen RAF (die noch auf der letztjährigen documenta15 völlig unkritisch rezipiert wurde, iz3w 393) von der PLO für den Kampf als Stadtguerilla ausgebildet und geschult. Mit seiner Mischung aus eher überblicksartigen Beiträgen und etwas spezielleren Einzelthemen eignet sich der Band sowohl zur Einführung als auch zur vertiefenden Lektüre. Dem Buch ist daher eine breite Rezeption als grundlegende Textsammlung zum Thema zu wünschen.

Corry Guttstadt, Sonja Galler (Hrsg.): Antisemitismus in und aus der Türkei, Hamburg 2023, bestellbar über andeszentrale für Politische Bildung, Hamburg 2023. 547 Seiten. Das Buch ist für eine Schutzgebühr von 5 Euro erhältlich im Infoladen der Landeszentrale sowie bestellbar bei gegen-antisemitismus@ikw-hamburg.de

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