Zwei Männer sitzen vor einer bunten Moschee in Herat, Afghanistan
Die große Moschee in Herat im Jahr 2019: vor der Talibanherrschaft und dem Erdbeben | Foto: Thomas Ruttig

Erdbeben in Herat

Die Naturkatastrophe in West-Afghanistan trifft die Schwächsten

Schwere Beben richteten in Afghanistan im Oktober verheerende Schäden an. Am härtesten betroffen sind Frauen und Kinder. Die Beben trafen ein Land, das sich bereits in einer humanitären Krise befand. Hilfsgüter kommen von internationalen Organisationen und den herrschenden Taliban, die bei der Verteilung die Kontrolle ausüben wollen.

von Thomas Ruttig

11.12.2023
Veröffentlicht im iz3w-Heft 400

Eine schwere Erdbebenserie traf ab dem 7. Oktober den Nordwesten Afghanistans. Innerhalb einer Woche gab es insgesamt 29 Erdstöße, davon vier jeweils mit einer Stärke von 6,3 und sechs weitere mit über 4,0 auf der Richterskala. Ende Oktober kam es zu drei weiteren Nachbeben mit Stärken bis 5,0. Die Epizentren lagen in einem Umkreis von etwa vierzig Kilometern um die Provinzhauptstadt Herat. Am 12. Oktober zerstörte ein ganztägiger Sandsturm aus Zelten errichtete Notaufnahmelager für Bebenopfer.

Betroffen war laut der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) ein Gebiet mit 1,6 Millionen Einwohner*innen in der Provinz Herat sowie peripher die Provinzen Badghis und Ghor. 154.000 Menschen in 289 Dörfern kamen direkt zu Schaden. Nach letzten vorliegenden UN-Angaben von Anfang November kamen 1.480 Menschen um, weitere 1.950 wurden schwer verletzt. Darunter sind viele Binnenvertriebene und 7.500 Schwangere. Zudem seien 10.000 Häuser völlig zerstört und über 20.000 schwer beschädigt worden. Die Großstadt Herat, die der Romanautor Salman Rushdie aufgrund ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung »Florenz des Ostens« nannte, kam relativ glimpflich davon. Doch wurden auch dort viele Wohn- und historische Gebäude beschädigt. Laut Tedros Adhanom Ghebreyesus, dem Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), habe sich Herat in eine »Stadt kleiner Zelte« verwandelt.

Erzwungene Hilfskürzungen

Von den 201 Gesundheitseinrichtungen in der Provinz Herat, darunter vier Distrikthospitäler und 24 Gesundheitszentren, wurden laut WHO vierzig zerstört. Sie hatten etwa 580.000 Menschen versorgt. Dazu gehört auch die Geburtsklinik von Herat-Stadt. Schwangere mussten in Zelten untergebracht werden. 21 Schulen verzeichnen ebenfalls schwere Schäden.

Die frauenfeindliche Politik der Taliban behindert Hilfe

Laut UNO seien von dem Beben Gemeinschaften getroffen worden, »die bereits mit den Folgen von jahrzehntelangem Konflikt und Unterentwicklung zu kämpfen haben und deshalb nur noch über wenig Widerstandskraft verfügen, mit den simultanen Schocks umzugehen«. 114.000 Menschen benötigen humanitäre Unterstützung. Die UNO hat vorerst einen Bedarf an 93,6 Millionen US-Dollar Nothilfe für die nächsten sechs Monate angemeldet.

Die Erdbebenkatastrophe von Herat kommt zu der schon herrschenden, tiefen humanitären Dauerkrise hinzu, deren Ursache in verschärften periodischen Dürren und dem Zusammenbruch der Wirtschaft nach der Machtübernahme der Taliban 2021 liegt. Laut UN waren bereits vorher 15 Millionen Afghan*innen von Hungersnot bedroht. Nun gehen den Hilfsorganisationen aufgrund der faktischen westlichen Wirtschaftssanktionen gegen die Taliban die Mittel aus. Seit Jahresbeginn war die UNO deshalb gezwungen, zehn Millionen Afghan*innen aus der Nahrungsmittelnothilfe herauszunehmen und Rationen zu kürzen. Sie erreicht derzeit monatlich nur noch drei Millionen Personen.

Von den Beben besonders betroffen sind Frauen und Kinder. Nach Angaben der UNO und von »Ärzte ohne Grenzen« stellen sie neunzig Prozent der Todesopfer. Dass vor allem Frauen mit ihren Kindern unter Trümmern begraben wurden, liegt daran, dass sie sich wegen der Taliban-Politik, aber auch konservativer örtlicher Traditionen nicht allein außerhalb der Häuser bewegen dürfen. Zum Zeitpunkt des ersten Bebens kurz vor Mittag waren viele Frauen mit Essensvorbereitungen beschäftigt, bei denen die Kinder zur Hand gehen müssen, während die Männer im Freien auf den Feldern arbeiteten und deshalb größere Überlebenschancen hatten. Viele Schulkinder waren zu diesem Zeitpunkt gerade nach Hause gekommen.

An den Rettungs- und Hilfsmaßnahmen beteiligen sich die Taliban-Behörden, der Afghanische Rote Halbmond, UN-Hilfswerke und lokale wie internationale Nichtregierungsorganisationen, darunter Ärzte ohne Grenzen und Care. Sie schickten zunächst Trinkwasser, Nahrungsmittel, Bekleidung, Hygienepäckchen und Zelte als Notunterkünfte für die Überlebenden sowie Rettungs- und mobile Behandlungsteams. UN-Agenturen richteten örtliche Notaufnahmen ein. Auch Militär wurde in das Katastrophengebiet beordert. Laut der im Exil herausgegebenen oppositionellen Online-Zeitung Hascht-e Sobh ordnete die Taliban-Behörde für Katastrophenmanagement ANDMA an, dass niemand ohne Koordination mit ihr im Bebengebiet Hilfe verteilen dürfe. ANDMA soll anderen Organisationen auch untersagt haben, eigene Opfer- und Schadenszahlen herauszugeben. Aber auch unter ihrer Aufsicht arbeiten Frauen und Männer an der Beseitigung der Bebenfolgen.

Pragmatisches Engagement

Die Taliban erklärten am 18. Oktober, Ingenieure hätten im Bebengebiet bereits damit begonnen, neue Häuser zu errichten. Insgesamt sollen es mehr als 2.000 Gebäude in zwanzig betroffenen Dörfern werden. Sie hofften, dass die Häuser zu Winteranfang fertig sein werden. Wenn ihnen das gelingt, können sich die De-facto-Autoritäten (wie die UNO sie nennt) als effektive Helfer darstellen. Am Wiederaufbau wird auch die Bevölkerung die Taliban messen.

Ende Oktober berichtete die in Abu Dhabi ansässige Tageszeitung The National, die Taliban hätten über eine Million US-Dollar für den Wiederaufbau bereitgestellt. Weitere drei Millionen seien über private Quellen in Afghanistan zusammengekommen. Die Bevölkerung quer durch Afghanistan sammelt Spenden, unter anderem im Südosten des Landes, der im Juni 2022 selbst von einem schweren Beben getroffen wurde. Die EU, Japan, die Arabischen Emirate und andere Länder schickten Nothilfe. Deutschland stellte fünf Millionen Euro bereit.

Die Erdbeben­katastrophe von Herat kommt zu der schon herrschenden, tiefen humani­tären Dauer­krise hinzu

Die Hilfswerke vor Ort hätten »die Kapazität, auf den unmittelbaren Bedarf der Heratis zu reagieren und Ressourcen für die Wintervorbereitung zu mobilisieren«, so der langjährige UN- und EU-Mitarbeiter in Afghanistan, Michael Semple, der heute an der Queens University in Belfast tätig ist. »Die Tatsache, dass Taliban-Anführer UN-Sanktionen unterworfen sind, verhindert pragmatisches Engagement und die Koordination vor Ort nicht.«

Es kommt aber auch zu Behinderungen durch die Taliban. Hascht-e Sobh berichtete unter Berufung auf Einwohner*innen vor Ort auch, dass die Taliban zusammen mit Dorfältesten die Verteilung von Hilfe zugunsten »ihrer eigenen Anhänger und Familienmitglieder« manipulierten, »selbst solche, die nicht [vom Beben] betroffen« seien. Zudem hätten sie Sicherheitsagenten in den Dörfern stationiert, die Einheimische bedrohten. Nach Vorort-Recherchen des Afghanistan Analysts Network handelt es sich nur um Einzelfälle.

Einschränkungen für Helferinnen

Auch die frauenfeindliche Politik der Taliban behindert Hilfe. Nach dem ersten Beben konnten Frauen im größten Krankenhaus von Herat zunächst nicht von Ärzten behandelt werden, weil Taliban-Aufpasser auf strikte Geschlechtertrennung bestanden hätten, so Hascht-e Sobh unter Bezug auf lokale Quellen. Diese Maßnahmen seien aber schnell aufgehoben worden. Laut dem afghanischen Online-Portal Nimroch ließen Taliban Helferinnen und Journalistinnen nicht in das Katastrophengebiet reisen. Eine Frauenrechtlerin aus Herat, die mit Mitstreiterinnen Hilfspakete ins Bebengebiet bringen wollte, sei an einem Taliban-Posten zurückgewiesen worden. Einer Journalistin habe man gesagt, sie solle ihre »männlichen Kollegen schicken«.

Orzala Nemat, frühere Leiterin des Forschungsinstituts AREU in Kabul und jetzt ebenfalls im Exil, schrieb in sozialen Medien, ihr lägen Berichte aus der Region Herat vor, dass es dort an weiblichen Nothelferinnen mangele. Umgekommene Frauen blieben entgegen der islamischen Tradition, die eine Beerdigung noch am Todestag vorsieht, bis zu drei Tage unbestattet.

Insgesamt wird in Herat ebenfalls deutlich, dass die Taliban auch bei der Verteilung von Hilfsgütern die Kontrolle übernehmen wollen. Das wäre unter jeglicher Regierung legitim, wenn es Hilfe nicht behindert. Allerdings wird das Taliban-Regime von keinem Land offiziell anerkannt. Auch in der Bevölkerung misstraut man ihnen oft. Das unterscheidet sich allerdings nicht grundsätzlich von der Situation unter der Vorgängerregierung. Die britische Afghanistan-Forscherin Ashley Jackson kommt in einer Studie zu dem Schluss, dass das Ausmaß von Betrug und Korruption bei Hilfsleistungen »unter der Republik [bis 2021] viel größer als unter der derzeitigen Regierung war.« Unter der Vorgängerregierung der Taliban »war Korruption der Status quo«.

The National zitierte Mitarbeiter*innen internationaler Hilfswerke, wonach die Taliban aus dem Erdbeben im Juni gelernt und langwierige Genehmigungsprozeduren außer Kraft gesetzt hätten. Die Kooperation mit ihnen sei jetzt einfacher. Das größte Problem bestünde darin, dass Mitarbeiterinnen weiterhin nicht ohne Begleitung männlicher Familienangehöriger arbeiten dürften.

 

In Deutschland bittet unter anderen der Afghanische Frauenverein e.V. (www.afghanischer-frauenverein.de) mit Sitz in Hamburg um Spenden.

Thomas Ruttig ist Sozialwissenschaftler. 22 Jahre leitete er das Lateinamerika- und Karibik-Referat der Kindernothilfe und arbeitete nach dem Erdbeben 2010 in Port-au-Prince.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 400 Heft bestellen
Unsere Inhalte sind werbefrei!

Wir machen seit Jahrzehnten unabhängigen Journalismus, kollektiv und kritisch. Unsere Autor*innen schreiben ohne Honorar. Hauptamtliche Redaktion, Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit halten den Laden am Laufen.

iz3w unterstützen