Die EU unterstützt den autoritären Präsidenten Kais Saied in Tunesien
Proteste in Tunis gegen die autoritäre Wende unter Präsident Kais Saied, Oktober 2021 | Foto: Dodos photography CC BY-SA 4.0 DEED

Austerität und Autoritaris­mus

Tunesien bekämpft die Schulden mit Schuld­zuweisungen

Gegen die Wirtschaftskrise hat Tunesiens Präsident Kais Saied kein Rezept und agiert autoritär. Trotzdem steht die EU Saied zur Seite, weil Tunesien in Sachen Migrationsabwehr kooperiert. Auch die Gewerkschaften lassen sich teilweise ins Boot holen.

von Franz Gräfe

29.04.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 402
Teil des Dossiers Die Vielfach­krise

Die EU unterstützt Tunesien: Anfang März hat sie eine Budgethilfe in Höhe von 150 Millionen Euro angekündigt. Hierbei handelt es sich um eine Beihilfe als direkter Finanztransfer und nicht um ein Darlehen. Dieser Vorgang ist für die EU recht ungewöhnlich. Die Zahlung erfolgt im Rahmen des Programms zur Unterstützung makroökonomischer Reformen in Tunesien (Programme d’appui aux réformes macro-économiques de la Tunisie, PARME).

Dieses Programm wurde im Dezember 2023 vereinbart, ist aber in einen größeren Rahmen eingebettet, nämlich in das »Memorandum of Understanding on a Strategic and Comprehensive Partnership«. Die EU und Tunesien unterzeichneten diese Vereinbarung am 16. Juli 2023 in Tunis. Anwesend waren neben Ursula von der Leyen auch die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni und ihr holländischer Amtskollege Mark Rutte. Die Absichtserklärung besteht aus fünf Säulen: Makroökonomische Stabilität, Wirtschaft und Handel, grüne Energiewende, zwischenmenschliche Beziehungen, Migration und Mobilität. Die bisherige Berichterstattung konzentrierte sich auf die Aktivitäten zur Verhinderung von Migration, ein Ansatz, der viel Kritik erfuhr. Die EU bot Tunesien 105 Millionen Euro für den ‚Grenzschutz‘ – euphemistisch als »Grenzmanagement« bezeichnet – und fast eine Milliarde Euro an zusätzlichen Krediten und finanzieller Unterstützung inmitten einer schweren Wirtschaftskrise des Landes. Diese Summe von 898 Millionen Euro – so analysierte eine tunesische Wirtschaftswissenschaftlerin, die angesichts des anwachsenden Autoritarismus namentlich nicht genannt werden will, gegenüber dem Autor – ist recht nah an der Summe, welche Tunesien im Februar 2024 an den europäischen Anleihemarkt zurückzahlen musste.

Präsi­dent Saied hat Tunesien schlei­chend in eine Auto­kratie verwandelt

Hohe Schulden­quote

Lange war die Schuldenquote Tunesiens im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) sehr niedrig. Im Jahr 2002 lag sie bei 48 Prozent des BIP. 2010 waren es 20 Milliarden Tunesische Dinar, bis 2020 stieg die Auslandsverschuldung auf 120 Milliarden Dinar an. Im Jahr 2022 lag die Schuldenquote schließlich bei 90 Prozent. Der Anstieg ist auf globale Krisen wie steigende Lebensmittelpreise und auf die Covid-19-Pandemie sowie auf innenpolitische Gründe zurückzuführen. Die tunesische Verschuldung setzt sich im Moment zu etwa 40 Prozent aus internen und zu 60 Prozent aus externen Schulden zusammen. Da Erstere in Dinar aufgenommen werden, sind sie weniger problematisch, weil sie jederzeit etwa durch neu ausgegebene Staatsanleihen bedient werden können.

Die externen Schulden hingegen bestehen in ausländischer Währung. Im Zuge von Verschuldung und Umschuldung kommt hier unweigerlich der Internationale Währungsfonds (IWF) ins Spiel. Der IWF hat Tunesien in den letzten Jahren bereits zwei Kredite gewährt: 1,74 Milliarden Dollar im Jahr 2013 und 2,9 Milliarden Dollar 2016. Die Wirkungen waren minimal: Dem Schuldendienst standen nur geringe wirtschaftliche Anreize gegenüber, die neue Investitionen nach sich gezogen hätten. Stattdessen wiederholte der IWF über die Jahre seine Empfehlungen immer wieder: Haushaltskürzungen in Form von Kürzungen der öffentlichen Löhne und Gehälter und der schrittweisen Abschaffung von Treibstoff-, Energie- und Lebensmittelsubventionen oder einer regressiven Steuerpolitik. Die tunesische NGO Albawsala kommentiert treffend: »Ein paar Jahrzehnte nach den Strukturanpassungsprogrammen und nach einer Revolution, die soziale Gerechtigkeit zu einem ihrer Hauptpfeiler machte, könnte man erwarten, dass der IWF seine Empfehlungen für Tunesien radikal ändern würde. Doch der IWF hielt an seinem Sparmaßnahmen-Rezept fest.«

Über ein weiteres IWF-Darlehen in Höhe von zwei Milliarden Euro, das für politische Spannungen sorgt, wird derzeit verhandelt. Der mächtige Gewerkschaftsdachverband UGTT lehnt den Kredit ab. Er befürchtet, dass der Kredit zu einem Abbau von Subventionen führt und es zu Kürzungen von Gehältern von Angestellten im öffentlichen Sektor kommt. Hier ist sich die UGTT mit Präsident Saied einig, der den Kredit unter diesen Bedingungen ebenfalls ablehnt. Allerdings aus anderen Gründen: Aus einem Diskurs der Neo-Souveränität heraus bezeichnet er ihn als »ausländisches Diktat«, auch weil europäische Länder mal mehr, mal weniger offensiv eine Unterzeichnung fordern.

Laut des aktuellen Schuldenreports des Bündnisses »Erlassjahr« machen die tunesischen Schulden beim IWF derzeit 55 Prozent der externen Schulden aus. Private Gläubiger und bilaterale Geber machen ein Viertel aus. Entsprechend kann die Verschuldung nicht losgelöst von der globalen Dynamik und dem Einfluss der Rating-Agenturen betrachtet werden. Insbesondere die großen Drei – Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch – sind dabei relevant. Sie nutzen die bisherige Ablehnung der Unterzeichnung des IWF-Abkommens als einen Grund für ihre Abstufung Tunesiens auf die niedrigsten Niveaus. Auch die EU übt Druck aus und knüpft ihren Kredit an den Abschluss des IWF-Abkommens.

Rhetorik statt Pro­gramm

Der Autoritarismus im Land wird dabei von IWF und EU ignoriert: Präsident Saied hat Tunesien schleichend in eine Autokratie verwandelt und sein Amt massiv gestärkt. Er argumentiert mit einem vorgefundenen dysfunktionalen politischen System, welches er umkrempelt. Sein Vorgehen wird von vielen Aktivist*innen und Journalist*innen kritisiert. Trotz des drängenden Themas, wie mit der Wirtschaftskrise und einer ansteigenden Arbeitslosigkeit – die Ende 2023 bei 16,4 Prozent lag – umzugehen ist, wird Saieds wirtschafts- und sozialpolitischem Kurs weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Das liegt auch daran, dass er keine Konzepte hat oder diese nicht kommuniziert. Bisher beschränken sich seine Ansätze auf Steuerreformen, dem Widererlangen veruntreuter Gelder sowie der Ablehnung von Privatisierungen. Jedoch bleibt ersteres auf halber Strecke stehen, denn eine progressive Besteuerung hoher Einkommen ist nicht vorgesehen; ebenso keine zusätzliche Belastung von Unternehmen. In den Jahren zwischen 2010 und 2018 sank der Beitrag der Unternehmen zum Gesamtsteueraufkommen um 37 Prozent, während der Beitrag der Haushalte im gleichen Zeitraum um zehn Prozent anstieg. Die Staatsschulden werden aus Steuern, die auf der Mittelklasse und auf den vom Mindestlohn abhängigen Arbeiter*innen lasten, bedient.

Mit der Ver­schuldung kommt der Inter­nationale Währungs­fonds ins Spiel

Saieds Schweigen über seinen Kurs ist strategisch: So kann er auf die problematische Rolle anderer verweisen. Neben seiner Anti-IWF-Rhetorik baut er dabei auf den schlechten Ruf der ehemals mitregierenden Ennahda-Partei. Die wirtschaftliche Stagnation, auf die immer wieder verwiesen wird, begann während ihrer Regierungszeit. Damit sind für Saied die Hauptschuldigen gefunden.

Als Gegenleistung für ein Stillhalten gegenüber der Regierung gibt der Präsident dem mächtigen Gewerkschaftsdachverband UGTT die Möglichkeit, gegen niedrige Löhne oder hohe Inflation zu demonstrieren. Allerdings scheint die UGTT etwas an Kraft zu verlieren und mobilisierte Anfang März weniger Menschen zur Demonstration als in früheren Zeiten. Ferner eint Regierung und UGTT ihre Ablehnung der IWF-Auflagen. Auf der Demonstration im März sagte der UGTT-Generalsekretär Noureddine Taboubi, die Fähigkeit des Staates, seine Auslandsschulden im Jahr 2023 zu bedienen, sei »zum Nachteil der Bevölkerung gewesen und habe zu Engpässen bei grundlegenden Produkten geführt«. Er kritisierte die Umsetzung von »Diktaten des Internationalen Währungsfonds« auf Kosten der einfachen Bevölkerung. Trotz Differenzen in der Sozial- und Wirtschaftspolitik ist das ein vereinigender Punkt zwischen der Gewerkschaft und dem Präsidenten.

Schließlich kann Saied auf den pragmatischen Kurs der EU bauen, die nur rhetorische Kritik übt. Diese wirkt sich nicht praktisch aus: Es werden weiter Abkommen geschlossen und es fließt weiter Geld an die Tunesische Republik. Der EU gilt das Land – ähnlich wie Ägypten – als notwendiger nordafrikanischer Stabilitätsanker. Daher wird in der Migrationsabwehr mit Saied kooperiert und Tunesien bleibt ein Zielort von EU-Programmen wie dem Global Gateway oder der deutschen »Compact with Africa«-Initiative.

Tunesische zivilgesellschaftliche Organisationen wie das Observatory for Tunisian Economy fordern einen Schuldenschnitt des IWFs und des Globalen Nordens. Das greift allerdings zu kurz: Denn weder Saied noch der IWF sprechen mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, es sei denn, die zivilgesellschaftlichen Anliegen lassen sich gerade zugunsten der eigenen Agenda benutzen. Damit wird die Gratwanderung deutlich, welche auch die UGTT in ihrem Verhältnis zum Präsidenten vollzieht. Kleinere Organisationen fordern eindeutig eine progressive Steuerpolitik oder staatliche Investitionen. Aber es macht sich angesichts der Übermächtigkeit von Inflation, Knappheiten an Versorgungsgütern und Arbeitslosigkeit auch Resignation breit. In einem Bericht der erwähnten NGO Albawsala heißt es am Ende: »Leider ist es heute schwierig, irgendeine Form von Empfehlung auszusprechen«.

Franz Gräfe ist Mitarbeiter einer NGO und schreibt aufgrund zunehmender Repression und Einschränkung der Meinungsfreiheit in Tunesien unter Pseudonym.

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