Proteste gegen die Kürzungspolitik in Argentinien beim Generalstreik am 24. Januar
Klares Zeichen gegen Kürzungspolitik: Generalstreik am 24. Januar vor dem Kongress. | Foto: Dan Agostini, Mídia NINJA CC BY-NC 2.0 DEED

Alles oder Nichts

Die liberal-autoritäre Flucht aus der Krise in Argentinien

Der Wahlsieg des rechten ultraliberalen Präsidenten Javier Milei in Argentinien hat seine Vorgeschichte in einem jahrzehntelangen Krisenprozess, in dem vielen Argentinier*innen die Hoffnung auf staatliche und nicht-individualistische Lösungen abhandengekommen ist.

von Mariano Féliz

29.04.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 402
Teil des Dossiers Die Vielfach­krise

Argentinien geriet ab 2012 in eine Phase allmählicher wirtschaftlicher Stagnation, die letztendlich zum Zusammenbruch führte – im Jahr 2023 zu einer Jahresinflation von über 200 Prozent. Infolge der Wirtschaftskrise von 2001 hatte der links der Mitte zu verortende Kirchnerismus während der Amtszeiten von Néstor Kirchner (2003–2007) und Cristina Fernández de Kirchner (2007–2015) eine sogenannte neodesarollistische Strategie verfolgt. Diese setzte in einer Phase günstiger weltwirtschaftlicher Bedingungen und angesichts vorteilhafter internationaler Preise auf eine staatlich gelenkte wirtschaftliche Entwicklung. Dabei fand durchaus eine Umverteilung von Einkommen zugunsten der Arbeitnehmer*innen und ärmeren Bevölkerungsschichten statt. Die wirtschaftliche Stagnation ab dem Jahr 2012 untergrub jedoch zunehmend die politischen Grundlagen dieser Politik.

Ein Teil der Be­völkerung be­trachtete den Staat zu­nehmend als Hinder­nis

Die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, die in den frühen 2000er-Jahren eine wichtige gesellschaftliche Kraft darstellten, wurden im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte zunehmend in das politische System integriert. Im Verlauf der Krise kam es zu einer Zersplitterung der sozialen Organisationen, die dabei ihre hohe Mobilisierungskraft einbüßten. Einige von ihnen schlossen sich dem kirchneristischen Lager an.

Im Zuge der sich verschärfenden Krise sanken die Einkommen der Bevölkerung, die Inflation stieg an und unsichere Arbeitsverhältnisse wurden zur Norm. Angesichts wachsender Unzufriedenheit erwiesen sich die staatlichen Maßnahmen zur Umverteilung zunehmend als unzureichend. Im Jahr 2015 verlor das neodesarollistische Bündnis die Wahlen und wurde von einer Mitte-Rechts-Koalition abgelöst. Diese verfolgte ein wirtschaftsliberales Reformprogramm, konnte jedoch noch keine einschneidenden Strukturanpassungen durchsetzen. Das Eingreifen des Internationalen Währungsfonds im Jahr 2018 stärkte diesen wirtschaftsliberalen Kurs und beschleunigte den wirtschaftlichen und sozialen Niedergang. Obwohl die neodesarollistische Koalition im Jahr 2019 die Wahlen erneut gewann, fand sie keinen Ausweg aus dem Zyklus wirtschaftlichen Verfalls und steigender Inflation.

Krisen­lösungs­strategie Individual­ismus

Zwei Jahrzehnte lang versuchten Regierungen erfolglos, wieder ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum herzustellen und die Inflation zu reduzieren. Ihre Rhetorik, die die Bedeutung staatlicher Intervention betonte, stand zunehmend im Gegensatz zu ihrer politischen Praxis. In breiten Teilen der Bevölkerung entstand dadurch der Eindruck, dass der Staat nicht in der Lage sei, die gesamtgesellschaftlichen Probleme zu lösen. In einem sich immer schwieriger gestaltenden Alltag und angesichts einer unzureichenden Daseinsfürsorge breitete sich soziale und politische Angst aus. Darüber hinaus verstärkte die Covid-19-Pandemie die Vorstellung, dass jeder auf sich allein gestellt sei. Insbesondere in der jüngeren arbeitenden Bevölkerung setzten sich Vorstellungen durch, in denen der Ausweg aus prekären Lebensverhältnissen rein individuell gedacht wird.

Die politische Linke versuchte vergeblich, dem mit Massenmobilisierungen gegenzusteuern und die kollektive Angst in Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit zu übertragen. Dennoch nahm ein wachsender Teil der Bevölkerung den Staat zunehmend als Hindernis für das Überleben oder als einen Akteur der Unterdrückung wahr.

In diesem Kontext wurde Javier Milei, ein bis dato unbekannter Ökonom, 2021 in den Nationalkongress gewählt und gründete das politische Bündnis La Libertad Avanza, mit dem er Ende 2023 die Präsidentschaftswahlen gewann. Trotz des Sieges hat die neue Regierung nur 15 Prozent der Sitze im Abgeordnetenhaus und Senat inne, was Verhandlungen mit anderen politischen Kräften unerlässlich machte, um ihr Regierungsprogramm umzusetzen.

Milei begreift den Staat als eine korrupte Institution, die die Freiheit der Einzelnen einschränkt. Er bezeichnet sich nicht einfach nur als liberal, sondern sieht sich selbst als anarchokapitalistisch. Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos wies er darauf hin, dass »die akzeptierten Ideen im Westen kollektivistische Varianten sind. Im Grunde genommen gibt es keine wesentlichen Unterschiede, alle vertreten die Ansicht, dass der Staat das Leben der Individuen lenken sollte«. Er befürwortet die Idee, alle Regelungen abzuschaffen, die den Markt einschränken, und schlägt vor, die Zentralbank zu schließen und den Staat auf ein Minimum zu reduzieren.

Mit der Ketten­säge

Angesichts dieses brutalen Spar­programms regt sich Wider­stand.

Diesem Kurs folgend hat Milei umgehend ein Programm zur Liberalisierung der Wirtschaft und zur Reduzierung der öffentlichen Ausgaben vorangetrieben. Zu diesem Zweck erließ er ein Notstands- und Eildekret (DNU), das die festgelegten Treibstoffpreise, Mieten und das Gesundheitssystem dereguliert und sich gegen Arbeitsrechte und insbesondere gegen das Streikrecht richtet. Gleichzeitig brachte er im Nationalkongress einen Gesetzesentwurf ein, der darauf abzielte, mehr als 600 Gesetze gleichzeitig aufzuheben und zu ändern. Mit diesen Reformen soll der Staat umstrukturiert, das Recht auf Protest eingeschränkt und öffentliche Unternehmen privatisiert werden.

Zudem beschloss die Regierung, den Peso abzuwerten, indem sie den Wert des Dollars an einem einzigen Tag um 118 Prozent erhöhte. Gleichzeitig begann eine drastische Kürzung der öffentlichen Ausgaben. Im Januar 2024 fielen die Ausgaben für Renten und Gehälter im öffentlichen Sektor um mehr als 30 Prozent, die Investitionen in öffentliche Bauvorhaben kamen praktisch zum Erliegen. Zusammengefasst führten die unmittelbaren Auswirkungen der Politik von Milei zum monatlichen Anstieg der Inflationsrate auf 25 Prozent im Dezember 2023 und 20 Prozent im Januar 2024. Gleichzeitig brachen die Löhne um über 25 Prozent ein.

Angesichts dieses brutalen Sparprogramms regt sich Widerstand. Am 24. Januar 2024 fand ein erster Generalstreik statt, zu dem die Confederación General del Trabajo (CGT) und andere Gewerkschaften aufriefen. Pablo Moyano, einer der führenden Geschwerkschafter der CGT und Mitglied der Gewerkschaft der LKW-Fahrer, meinte dazu, dass »wir es mit einer Regierung zu tun haben, die Maßnahmen gegen die Menschen ergreift und die Gewinne zugunsten der Konzerne umverteilt«. Mehr als 1,5 Millionen Menschen beteiligten sich an den Demonstrationen. Einige Tage zuvor hatte die CGT rechtliche Schritte eingeleitet, die die Umsetzung von Mileis Eildekret im Bereich der Arbeits- und Gewerkschaftsrechte verhinderte. Nach zwei Wochen, die von Protesten und polizeilicher Repression begleitet waren, gelang es am 6. Februar der Opposition, im Kongress die Verabschiedung des Pakets von über 600 Gesetzesreformen zu blockieren.

Wieder­aufbau der Gegen­macht

Obwohl sie über keine Mehrheiten im Parlament verfügt, versucht die Regierung Milei, ihr Programm voranzutreiben ohne mit den anderen politischen Kräften zu verhandeln. Ihre Strategie lautet »Alles oder nichts«. Laut Eduardo Belliboni, dem Sprecher der Arbeitslosenbewegung der Piqueteros (iz3w 336), will die Regierung die Bevölkerung »entmutigen«. Zum Scheitern von Mileis ‚Reformen‘ im Parlament kam es dabei allein, weil Milei sich weigerte, mit den anderen politischen Kräften zu verhandeln. Es gibt durchaus eine Parlamentsmehrheit, die bereit wäre, das Regierungsprogramm weitgehend zu unterstützen, wenn die Abgeordneten die Einzelheiten diskutieren könnten.

Milei ist nach wie vor zuversichtlich, dass er mit seinen Kürzungs- und Deregulierungsmaßnahmen die Inflation in wenigen Monaten senken kann. Er hofft, seinen gesellschaftlichen Rückhalt bis dahin aufrechterhalten zu können. Trotz der tiefgreifenden Einschnitte zeigen Meinungsumfragen, dass er immer noch erhebliche Unterstützung genießt, auch wenn sie allmählich schwindet. Die Opposition befindet sich noch in der Phase der Reorganisation. Einerseits führen die politischen Kräfte links der Mitte Debatten darüber, ob sie schwerpunktmäßig ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten einleiten oder ob sie sich auf die bevorstehenden Parlamentswahlen 2025 vorbereiten sollten. Andererseits bemühen sich radikale, lokal verankerte soziale Bewegungen darum, eine gesellschaftliche Kraft wiederaufzubauen, die in der Lage ist, die Regierung zu stürzen.

Mileis Hauptproblem war bisher vor allem sein Unwille zur Verhandlung und sein scharfes und beleidigendes rhetorisches Auftreten sogar gegenüber potenziellen Verbündeten. Einen weiteren Rückschlag musste er nun am 14. März einstecken, als eine Mehrheit im Senat den DNU ablehnte. Lehnt die Abgeordnetenkammer das Dekret ebenfalls ab, wäre es endgültig gescheitert. Allerdings zeigte sich Milei am 1. März in einer Rede im Kongress erstmals offen für Verhandlungen mit oppositionellen Kräften, die seinen Vorstellungen am nächsten stehen. Es liegt damit allein am Widerstand der sozialen Bewegungen, ob die Bevölkerung sich in das Schicksal der Verarmung fügt oder sich ihre Zukunft zurückerobert.

Mariano Féliz ist Dozent für Ökonomie an der Universidad Nacional de La Plata. Er ist Teil der IRGAC-Forschungsgruppe der Rosa-Luxemburg-Stiftung über Autoritarismus.

Übersetzung aus dem Spanischen von Nikolas Grimm.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 402 Heft bestellen
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