Buchcover zur Graphic-Novel-Biographie über Annemarie Schwarzenbach
Buchcover Annemarie | lenos

»Ich laufe vor schwarzen Löchern davon«

Rezensiert von Rosaly Magg

14.12.2022
Veröffentlicht im iz3w-Heft 394

Sie war Reporterin und Reisende, Fotografin und Süchtige, Revolutionärin und Getriebene. Annemarie Schwarzenbach prägt das Genre Reisebericht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ist bis heute ein Role Model für Lesben und widerständige Frauen. Mitte der 1930er-Jahre begibt sie sich auf immer neue Reisen in den sogenannten Nahen Osten, um ihrer konservativen Familie und der aufkommenden Naziideologie zu entfliehen. Zwischen Odyssee und Horrortrip bewegen sich ihre reisenden Suchbewegungen, denn Annemarie steht für das Ambivalente, das Extreme: Süchtig, labil, aber auch unerschrocken bricht sie 1939 zusammen mit Ella Maillart zu ihrer wohl bekanntesten Reise auf: In ihrem 18 PS starken Ford Roadster fahren die beiden durch den Balkan, die Türkei, Iran und Afghanistan. In ihrem Buch »Alle Wege sind offen« erzählt sie von dieser gemeinsamen Unternehmung. Ella Maillart legt mit »Der bittere Weg« einen schonungslosen Gegenentwurf vor. Spätestens da ist ein Mythos geboren.

Wie kommt es, dass ein spanisches feministisches Autorinnenduo der Schweizer Reisejournalistin Annemarie Schwarzenbach (1908 - 1942) eine Graphic Novel widmet? Die Philologin Maria Castrejón und die Illustratorin Susanna Martín sind wohl selbst Getriebene und ,verrückt‘ genug, sich der unheilbar Reisenden sowohl künstlerisch als auch politisch in einer außergewöhnlichen Comic-Biographie zu nähern. Extraordinär ist allein schon das Vorwort der Journalistin Berta Jiménez Luesma: Bei Annemarie handle es sich um »puren gezeichneten Zündstoff« und einen revolutionären Akt im Sinne von Monique Wittigs Aussage »Lesben sind keine Frauen«. Diese Graphic Novel sei Widerstand und Annemarie »immer noch hedonistisch, depressiv, nachtaktiv, unangenehm, verletzend und starrköpfig. Aber sie ist auch promiskuitiv, sapphisch, ehrgeizig und eine großartige internationale Journalistin«. Das sind große Worte, die erst einmal auf der Bild- und Textebene eingelöst werden müssen.

Doch schnell entwickelt sich der Sog dieser multidimensionalen Erzählung. Sie beginnt mit einem schwarzen Loch, einem Schuss und einem toten Elefanten. Um kurz darauf dahin zurückzukehren, wo alles begann: 1908 am Zürichsee bei der blutigen Geburt Annemaries. Sie wird als sensibles Kind mit Albträumen über eine Fabrik unter dem elterlichen Haus am Zürichsee vorgestellt und gleichzeitig als politisch wache, aber auch immer kränkliche Person gezeichnet.

Der große Anspruch der Graphic Novel wird nicht nur auf der Bildebene eingelöst. Alles wird gegen den Strich gebürstet, dekonstruiert und schlussendlich neu zusammengesetzt. Historisches wird in Collagen in den Erzählstrang eingeflochten – zu groß ist das Weltgeschehen, dem die junge, sensible Annemarie ausgesetzt ist: Der Erste Weltkrieg, das Erstarken des Nationalsozialismus oder der Börsencrash an der Wallstreet 1929. Ab und an sind Annemaries Fotografien als zeitgeschichtliche Dokumente in den Bildfluss verwoben. Ein gelungener Kunstgriff, denn ihre direkte Bildsprache wirkt somit noch signifikanter. Überhaupt zeichnet Susanna Martín ihre Annemarie vielfältig: meist rotzfrech; ihre butchige Art – gepaart mit einer Portion Sexappeal – bringt sie mit leichten Strichen aufs Papier. Die immer heftiger werdenden Abstürze der Protagonistin sind in dunkles Rot getaucht und das Verschwinden des Selbst in zahlreichen Klinikaufenthalten hält Martín in immer kleiner werdenden, und schließlich sich selbst auflösenden, Bildelementen fest.

Auf der Textebene gelingt es Maria Castrejón in nur wenigen Szenen, Annemarie Schwarzenbachs sozialkritischen Reportagen Raum zu geben: In den USA dokumentiert sie den allgegenwärtigen Rassismus, aber auch das Zusammenspiel von Rassismus und Klassismus, sowie ‚White Trash‘: »Sie sind arm, unselbstständig, ungebildet und verseucht. Sie verüben die Lynchmorde, angeführt von Sherrifs, geschützt vom ,System‘ und von der Polizei. Sie werden ausgespielt gegen den N****, der N**** gegen sie, in diesem ,Rassenkampf‘, der in Wahrheit längst ein Kampf der Klassen geworden ist.«

Beeindruckend ist auch Annemaries klare Gegenwartsanalyse, die im Buch aufgegriffen wird: 1941 beschreibt sie beispielsweise ihre Reise von Amerika nach Europa: »In früheren Zeiten war man aus dem sicheren Frieden der europäischen Heimat aufgebrochen nach dem wilden, rauen, gefährlichen Amerika. Jetzt kam man nach Amerika, um den Frieden, die Zivilisation, die Sicherheit der Zukunft zu finden.«

Aber es geht nicht gut aus für Annemarie. Am Ende wird sie von ihrer Mutter verstoßen und gerät in einen Teufelskreis aus Drogen, Affären, Zusammenbrüchen, Reisen und Entziehungskuren: »Ich laufe vor schwarzen Löchern davon«. Durchs Alleinreisen will sie endlich ihr Glück finden. Auf der letzten Fahrt in den Kongo 1941 wird sie dann als Nazispionin diffamiert. Denn eine Frau, die alleine reist, hat nach patriarchaler Logik etwas zu verbergen. Schließlich kehrt Annemarie 1942 zurück in die Schweiz nach Sils. Dort stirbt sie mit 34 Jahren an den Folgen eines Fahrradunfalls. Aber der Mythos lebt weiter ...

María Castrejón und Susanna Martín: Annemarie. Lenos Verlag, Basel 2022. 164 Seiten, 29,80 Euro.

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