
»Wir finden den Weg im Gehen«
Interview über Fortschritt und Regression mit Rahel Jaeggi
Die Begriffe Fortschritt und Regression haben ihre Zeitkonjunkturen. So waren die 1950er- und 1960er-Jahre ein Fortschrittszeitalter. Für den Globalen Süden bedeutete dies das Abschütteln kolonialer Machtregime. Die Gegenwart stellt eher ein regressives Zeitalter dar. Es ist von Transformationskrisen und weltweit erstarkenden reaktionären Kräften geprägt. Die Professorin für praktische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, Rahel Jaeggi, diskutiert dies in ihrem Buch »Fortschritt und Regression«.
iz3w: Gab es zentrale Momente, die Sie zu diesem Buch veranlasst haben?
Rahel Jaeggi: Ende der letzten Dekade bekam der Begriff Regression gesellschaftlich und wissenschaftlich Oberwasser. Neo-autoritäre Tendenzen und prä-faschistische Momente zeigten sich ja auf der ganzen Welt.
Das waren beispielsweise die erste Wahl von Donald Trump in den USA, Jair Bolsonaro in Brasilien, Viktor Orbán in Ungarn oder Narendra Modi in Indien.
Umgekehrt erlebte der Fortschrittsbegriff, der ja für die Modernisierungstheorie und den politischen Liberalismus zentral ist und seit über drei Jahrzehnten hegemonial war, einen schleichenden Niedergang. Das galt übrigens auch für große Teile der Linken, die sich Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts selbst als fortschrittliche Kräfte bezeichneten und auf der richtigen Seite der Geschichte gegen das Überholte wähnten. Seit einigen Jahren ist der Fortschritt der Moderne out of fashion. Zentral war für mich die Frage, wie können wir diese Prozesse analytisch besser fassen?
»Seit einigen Jahren ist der Fortschritt der Moderne out of fashion.«
Und so kam die Frankfurter Schule ins Spiel?
Ja, die Frankfurter Schule mit Theodor W. Adorno und Max Horkheimer als zentralen Akteuren. Für sie war der Faschismus der 1930er-Jahre nicht nur ein Übel, über das man sich moralisch empörte. In ihrem Verständnis war er eben nicht der pure Rückfall in eine Barbarei, die die Moderne der Aufklärung hinter sich lässt, sondern ein Regressionsphänomen.
Das ist die zentrale These in dem Hauptwerk »Dialektik der Aufklärung« von Adorno und Horkheimer.
Genau. Es macht einen interessanten Unterschied, ob man die sozialen Formationen des Faschismus mit dem Begriff der modernen Regression deutet, oder sie schlicht normativ oder politisch ablehnt.
Wie kommt nun das widersprüchliche Begriffspaar Fortschritt und Regression zusammen?
Die Begriffe Fortschritt und Regression beruhen im Grunde beide – mit unterschiedlicher Ausrichtung – auf der Annahme, dass die Geschichte so etwas wie ein krisengetriebener Transformationsprozess ist, der einer bestimmten Logik folgt. Diesen Begriff der Geschichte will ich zunächst zu fassen bekommen.
Dabei sind Sie bei Walter Benjamins Buchfragment »Über den Begriff der Geschichte« von 1940 gelandet. Er staunt darüber, dass die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ‚noch‘ möglich sind. Er entwickelt daraus mit dem Bild »Der Engel der Geschichte« des Malers Paul Klee einen pessimistischen Fortschrittsbegriff.
So weit sind wir zum Glück noch nicht. Ich bin weder fortschrittsoptimistisch noch fortschrittspessimistisch. Mich interessiert das Begriffspaar zunächst in analytisch-kritischer Hinsicht. Also die Frage: Lässt sich sozialer Wandel überhaupt als Fortschritt oder Regression auffassen und wenn ja, in Bezug auf welche Kriterien? Mit welchen Kriterien kann man folglich Wandel als solchen überhaupt unterscheiden vom Wandel zum Besseren, wie der Fortschritt manchmal verstanden wird?
Können Sie an einem Beispiel verdeutlichen, auf welche unterschiedlichen Weisen der Fortschrittsbegriff heute gebraucht wird?
Der Fortschrittsbegriff ist ja selbst bei denen, die ihn früher positiv verwendet haben, unter die Räder gekommen. Die postkoloniale Diskussion ist ein Beispiel. Zunächst haben die antikolonialen und nationalen Befreiungsakteur*innen selbst positiv mit dem Fortschrittsbegriff gearbeitet. In postkolonialen Arbeiten wird der Fortschrittsbegriff dann aber als Teil einer Gewaltgeschichte verstanden. Die Diskrepanz zwischen der Anrufung von Normen der Aufklärung wie Freiheit und Gleichheit und der realen Gewalt- und Machtpraxis wird hier fortschrittskritisch herausgearbeitet. Demgegenüber haben Modernisierungstheorien immer den Fortschritt gelobt. Der würde am Ende des Tages allen Menschen zugutekommen.
Etwa als Trickle-Down-Effekt. Der Einkommenszuwachs der Reichen sickere sukzessive zu den Ärmeren in der Gesellschaft durch. Bis heute hat diese Vorstellung eine politische und mediale Strahlkraft.
Politsprüche und ihre Geschichte

Ein Spiel für junge und alte Linke – und eine Zeitreise in die Geschichte linker Parolen und Demosprüche
Zum ShopUnd das iz3w hat dazu in den letzten Jahrzehnten immer wieder kritische Beiträge verfasst.
Machen wir einen Merkpunkt. Positive Aufbrüche und katastrophale Erfahrungen gehören beide zur Moderne. Fortschrittlich im klassischen Sinn ist das fordistische Akkumulationsregime mit seiner Hochphase in den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Mitte der Siebzigerjahre stieß dieses Modell an seine Grenzen und wurde flexibilisiert und von einem angebotsorientierten Liberalismus abgelöst. Diese Form der Globalisierung hat seit der Finanzkrise 2008 an Kraft verloren. Wir befinden uns heute in einem Übergang. Antonio Gramsci hat dies in den 1930ern so auf den Punkt gebracht: »Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann«. Wo stehen wir?
Da können wir mit Gramsci weiter argumentieren. Für ihn beginnt die Zeit der Monster. Das verspricht nichts Gutes. Es gibt aber widersprüchliche Tendenzen. Nehmen Sie nur die rasante Technologieentwicklung einerseits und die Renaissance der nationalen Räume, oligopolistischen Strukturen oder der imperialen Geopolitik andererseits. Wie sich das gesellschaftspolitisch rüttelt ist für mich noch ein offener und umkämpfter Prozess, der aber offensichtlich sehr dynamisch und dialektisch ist.
Der Fortschrittsstrom des sozialdemokratischen Zeitalters scheint wieder zur Neige zu gehen. Gibt es, auf die Individuen heruntergebrochen, nicht vor allem drohende Verlusterfahrungen in der Moderne? Wo bleibt da der Fortschritt?
Im Bereich der Bürger*innenrechte gibt es viel Fortschritt. Nehmen wir nur das Thema Gewalt in der Ehe/Familie und Schule und die Stellung der Frau in der Gesellschaft. In den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts war die Prügelstrafe in Schulen Normalität. Frauen durften nur mit Zustimmung des Ehemanns ein Konto eröffnen und Lesben und Schwule wurden kriminalisiert. Schritt für Schritt wurden und werden hier positive Veränderungen erkämpft, auch wenn es immer wieder Rückschritte gibt und es weiterer Kämpfe bedarf.
Nicht so in der Wirtschaftspolitik. Die Vermögenskonzentration nimmt zu und die Einkommensschere öffnet sich immer weiter. Sozialwissenschaftler*innen wie Nancy Fraser sprechen daher von einer »halben Demokratisierung«.
Die wachsende Ungleichheit und zunehmenden Tendenzen in Richtung Refeudalisierung kann man weltweit beobachten. Das dementiert die Vorstellung des späten 20. Jahrhunderts als Phase einer Einhegung von Klassenkonflikten. Aber Vorsicht! Innerhalb der Linken besteht nicht selten eine nostalgische Sichtweise auf die angeblich glücklicheren Jahre des Fordismus. Auch diese Denkweise geht für mich in Richtung Regression.
Die politische Rechte spielt ebenfalls auf der Klaviatur der Rückkehr in die heile Welt der »sozialen Marktwirtschaft«.
Das ‚goldene Zeitalter des Fordismus‘ als Bezugspunkt – das ist aus linker Sicht keine progressive Option. Die Kritik an einem Wohlfahrtsstaatsregime gab es ja sowohl von links als auch von rechts. Der Ausweg aus der heutigen Situation kann nicht durch die Tür der Vergangenheit mit der heilen Familienwelt Mutter, Vater, Kind und dem Vollerwerbsmodell gehen.
Fortschritt ist für Sie ein anreichender Prozess, Regression ein blockierender Problemlösungs- und Erfahrungsprozess. Was folgt daraus?
Das ist ein philosophischer Entwurf mit politischen Konsequenzen. Es handelt sich um einen Gegenentwurf von mir zu dem Modell des Fortschritts bei dem es um die Erreichung und Verwirklichung von vorher klar bestimmten Zielen und Normen mit einem klar bestimmten Zeitpfeil geht. Es geht um einen offenen Erfahrungs- und Problemlösungsprozess. So können wir in der Folge Fortschritt besser fassen. Die Kriterien, um gesellschaftlichen Wandel analysieren und bewerten zu können, sind dann entweder analytisch erfasste blockierende Regressionsprozesse oder Erfahrungen, die sich progressiv anreichern und sich dann zu Fortschrittsprozessen entwickeln.
An dieser Stelle fällt mir das Zitat des Subcomandante Marcos der Zapatisten in Mexiko ein. Er hat dazu gesagt: »Fragend schreiten wir voran«. Passt das?
»Wir finden den Weg im Gehen. Was nicht heißt, dass man keine Vorstellungen von einer besseren Zukunft im Kopf hat.«
Ja, das passt. Wir finden den Weg im Gehen. Was nicht heißt, dass man keine Vorstellungen von einer besseren Zukunft im Kopf hat. Es gilt, dass die Verhältnisse, wie sie sind, nicht so sein müssen. Ich werde dann immer gefragt, ob der Wert der Freiheit nicht eine Orientierung ist. Natürlich kann man das sagen. Aber spannend wird es erst beim Ausbuchstabieren der Inhalte und Strategien. Es geht darum, sich auf konkrete Praktiken und Institutionen zu beziehen. Erst dann kann man emanzipative Prozesse identifizieren. Problemlösungs- und Erfahrungsprozesse beziehen sich immer wieder neu aufeinander. Gesellschaften müssen ihre Kooperationsverhältnisse organisieren und geraten dabei in Krisen, die sie bewältigen, entweder progressiv oder regressiv, herrschaftsförmig oder weniger vermachtet. Das hebt sich ab von einem Fortschrittsdiskurs, der auf die Verwirklichung von bereits bestehenden Ideen, Normen und Zielen abzielt.
In der jüngeren Geschichte der Linken gibt es zwei gegensätzliche Analysestränge. In der ersten Sichtweise ist Geschichte ein teleologischer Prozess, der auf Gewissheiten und Wahrheiten ausgerichtet ist. Er hat Zweck und Ziel. Er braucht Subjekte, um diesen Wahrheiten eine Form zu geben. Das ist ein spezieller postmarxistischer Ansatz, der einige katastrophale Irrtümer enthält. Dagegen steht der Poststrukturalismus. Geschichte besteht hier aus kontingenten Verlaufsformen. Die Linke nimmt dabei die Minoritäten in den Fokus. Die sozialen Bewegungen der letzten Dekaden sind hier das Beispiel. Wie positionieren Sie sich dabei?
Große Teile der postmarxistischen Ansätze sind selbst schon durch eine Kritik der teleologischen Geschichtsprozesse gegangen und haben sie bearbeitet. Ja, es gibt sie noch, die roten Fahnen mit den Fortschrittslokomotiven. Aber das sind lautstarke Nischenphänomene. Mit der Darstellung der zweiten Kategorie des Poststrukturalismus, die sich von vorbestimmten Geschichtsprozessen verabschiedet hat, stimme ich überein. Das ist eine Gegenbewegung zu der mit G.W.F. Hegel beginnenden Geschichtsphilosophie, die dann Marx und seine Nachfolge bestimmt hat.
Aber man sollte das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Die Vorstellung, dass Geschichte einfach nur kontingent ist und uns mit Ereignissen zurücklässt, ist schwierig. Man kann sehen, dass Situationen sich verändern, diese analysieren und Verläufe herstellen. Wir müssen aber zusätzlich zwischen dem Wandel in eine positive Richtung und dem Wandel in eine negative Richtung unterscheiden. Das können (und wollen) die meisten poststrukturalistischen Ansätze nicht leisten. Es gibt in diesen Ansätzen eine klare Schwäche der ökonomischen und sozialtheoretischen Analyse. Karl Marx würde hier sagen, diesen Positionen fehlt die Einsicht in die wirkliche Bewegung der Geschichte. Das klingt so wie eine realsozialistische Floskel. Wir sollten Marx aber von diesen Versteinerungen befreien. Fortschritt ist eben nicht nur ein Ideal, er ist auch nicht nur empirisch vorfindbar, sondern es geht um das Erkennen einer wirklichen Bewegung. Es gilt, die Potenziale der Veränderung zu entdecken, die soziale und politische Entwicklungen in sich bergen, aber nicht verwirklicht werden.
Können uns feministische Analysen, gerade aus dem globalen Süden, weiterhelfen? Für die argentinische Anthropologin Rita Segato ist ein antikapitalistischer Konsens eine Basis, aber nicht ausreichend. Patriarchale, rassistische und (neo-)koloniale Strukturen gilt es zu erkennen und dann eröffnen sich positive Handlungsräume.
Ja, ganz bestimmt, da viele Themen, die gesellschaftspolitisch wichtig waren und sind, im Schatten stehen. Das betrifft sowohl die Linke, die sich dem Fortschritt verpflichtet sieht, als auch diejenigen, die poststrukturalistisch soziale und ökonomische Fragen verdrängt haben. Es gibt jedoch positive Lernprozesse. Nehmen wir nur die schwarzen Feministinnen in den USA, oder dem globalen Süden, wie Rita Laura Segato, die sich im klassischen Feminismus nicht wiederfinden. Daraus hat sich auch in linken Bewegungen ein Bewusstsein entwickelt. Die Lernprozesse nehmen Gestalt an.
Springen wir nochmals zum Beginn des Interviews. Warum sollten wir heute die Dialektik der Aufklärung einer Relektüre unterziehen?
Die Dialektik der Aufklärung ist auf eine gute Art und Weise gealtert.
Das ist mehr als eine Zeitgeistmode im Zeichen von Trump 1.0 und 2.0?
Eindeutig. Das erkennt man auch daran, dass ein Standardwerk des Fordismus wie die »Theorie des kommunikativen Handelns« von Jürgen Habermas eben nicht so gut gealtert ist. Das Buch hat die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts auf den Begriff gebracht, hat aber mit dem Niedergang des Fordismus an analytischer Bedeutung verloren. Die fortschreitende neoliberale Wirkungsmächtigkeit taucht hier nur unzureichend auf. Der Tiger der Ökonomie wird da im demokratischen Käfig gebändigt. Die Bändigung des Tigers ist aber gescheitert. Die Vorstellungen von Habermas haben uns sozusagen lange gehindert, diesen Tiger genauer anzuschauen.
Der Tiger agiert aber auch vor einem Hintergrund der Natur auf diesem Planeten, in der auch wir als Subjekte unseren Platz finden müssen.
Die Dialektik der Aufklärung kann auf eine intelligente Weise zwei Positionen kritisieren. Es gibt die Vorstellung des Naturverhältnisses, laut der die Natur eine rein zur Verfügung stehende Masse ist. Diese Vorstellung gab es ja auch lange bei den Linken. Es ging dann nur um die richtige Verteilung. In der zweiten Vorstellungswelt wird die Natur verzaubert. Dort brauchen wir eine ganz neue Ontologie und müssen uns als Menschen in die Natur wieder einordnen. Der Romantisierung ist Tür und Tor geöffnet. Die Dialektik der Aufklärung hat sowohl die instrumentelle Variante kritisiert als auch alles getan, um nicht in Mythen und Romantiken zu versinken. Das ist eine aktuell wichtige Intervention.
Und die Frage des Subjekts?
Die Dialektik der Aufklärung kann am Beispiel der Odysseus-Figur den Findungsprozess bürgerlicher Subjekte nachvollziehen. Odysseus war der erste Bürger. Wir sehen, welche Gewalt sich dieser Bürger antun muss, um ein selbstbestimmtes Individuum zu werden. Es ist nicht ganz zufällig, dass dies ein männliches Subjekt ist. Es geht um die Autonomie der Männlichkeit, die Gewaltgeschichte, die damit verbunden ist und die Grenzen, die sich hier auftun. Das steht aber gleichzeitig unter der Prämisse, dass Autonomie grundsätzlich etwas Erstrebenswertes ist.