Keine Angst
Die 73. Berlinale zeigte einen bewegenden Iran-Schwerpunkt
Auf der diesjährigen Berlinale war der Kampf der iranischen Frauen- und Demokratiebewegung in der Filmauswahl und in Sonderveranstaltungen sehr präsent. Bekannte iranische Filmemacher und Goldene Bären-Preisträger wie Jafar Panahi und Mohammad Rasoulof fehlten allerdings. Beide – seit Jahren von den Mullahs mit Berufsverbot belegt – saßen bis zu Beginn der Berlinale im Gefängnis.
»Der Strick hängt vor meinen Augen, aber ich habe keine Angst.« Reyhaneh Jabbaris Stimme klingt entschlossen, als sie zum letzten Mal mit ihrer Mutter telefoniert. Sieben Jahre sitzt die 26-jährige Iranerin da schon im Gefängnis. 2007 hatte sie in Notwehr einen ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter getötet, als er versuchte, sie zu vergewaltigen. Noch am selben Tag wird sie wegen Mordes verhaftet und später zum Tode verurteilt.
Der Dokumentarfilm »Sieben Winter in Teheran«, zugleich der Eröffnungsfilm der Berlinale-Reihe »Perspektive Deutsches Kino«, rekonstruiert den Prozess und die Inhaftierung der Informatikstudentin und zeichnet ihren Kampf für Frauenrechte im Gefängnis nach. Mit Hilfe von Telefonmitschnitten und Briefen, Interviews mit Familienangehörigen und Mitgefangenen, Familienfotos und heimlich gedrehten Aufnahmen aus dem Gefängnis portraitiert Regisseurin Steffi Niederzoll die mutige junge Frau, die sich trotz drohender Todesstrafe weigert, ihre Aussagen gegen den Täter zurückzunehmen.
Die iranische Protestbewegung stellt das Regime infrage
WetterwechselDie Regisseurin hat Reyhanehs Familie 2016 über ihren damaligen iranischen Freund kennengelernt. Sie sichtet und übersetzt das von der Familie zur Verfügung gestellte heimlich gedrehte Filmmaterial, schließt Freundschaften und entscheidet sich für das Filmprojekt. »Viele Menschen haben große Risiken auf sich genommen, damit Reyhanehs Geschichte nicht in Vergessenheit gerät«, sagt die 41-Jährige. In ihrem ersten langen Dokumentarfilm erzählt Steffi Niederzoll auch vom unermüdlichen Kampf der ganzen Familie gegen das im Iran geltende »Recht auf Blutrache«.
Wie viel Böses steckt in jedem von uns?
In einer Videosequenz sitzt die Mutter Shole Pakaravan in einem Auto vor dem Gefängnis und wartet darauf, ob ihre Tochter doch noch begnadigt wird. Hoffnung, Erschöpfung, Verzweiflung – die oft mit Handykameras aufgezeichneten Aufnahmen schaffen eine große Nähe zu den Protagonist*innen, bieten Einblicke in bewegende Momente und verschlossene Orte.
Auch nach Reyhanehs Hinrichtung im Oktober 2014 kämpft die Mutter weiter gegen die Todesstrafe im Iran. Inzwischen lebt sie mit den beiden anderen Töchtern im deutschen Exil. »Ich habe viel von Reyhanehs Mut gelernt«, sagt die frühere Schauspielerin. »Sieben Winter in Teheran« ist ein erschütternder, aber auch Mut machender Appell zum Widerstand.
Kriegserinnerung und Zensur
Auch in den anderen Reihen der Berlinale waren starke Filme mit Bezug zum Iran vertreten. Der Animationsfilm »La Sirène« von Sepideh Farsi eröffnete das Panorama-Programm. Darin erzählt die in Teheran geborene und in Frankreich lebende Regisseurin vom Ausbruch des Iran-Irak-Krieges 1980 in der iranischen Ölmetropole Abadan. Mit vielen historischen Details, einem minimalistischen Animationsstil und einem starken Soundtrack zeigt Farsi das Kriegsgeschehen aus der Perspektive von Teenagern. Der 14-jährige Omid versorgt als Essenskurier eine Gruppe Zurückgebliebener und organisiert mit seiner Freundin Pari die Flucht aus der belagerten Stadt in einem traditionellen Boot. »Der Krieg ist ein wichtiges Ereignis in der iranischen Geschichte, über das es nie eine freie Berichterstattung gegeben hat«, sagt die 57-jährige Regisseurin, die seit 2009 nicht mehr in den Iran reisen darf. Es sei ihr wichtig gewesen, ihre Version der Fakten zu erzählen – aus der Perspektive der Zivilgesellschaft, die sich der Belagerung widersetzte. »Das Medium Animation hat mir dafür den notwendigen Freiraum gegeben.«
Ebenfalls im Panorama lief der Dokumentarfilm »And, Towards Happy Alleys« der indischen Regisseurin Sreemoyee Singh. Fasziniert von Irans Filmkultur und der Lyrik der feministischen Dichterin Forugh Farrokhzad reiste Singh als Doktorandin und Filmemacherin über einen Zeitraum von sechs Jahren mehrmals nach Teheran. In ihrem Debütfilm verwebt sie sehr persönliche Gespräche mit den Filmemachern Jafar Panahi (vor seiner letzten Inhaftierung) und Mohammad Shirvani sowie der Menschenrechtsaktivistin Nasrin Sotudeh über die allgegenwärtige Zensur und das Verhältnis von Politik und Kunst mit Alltagsbeobachtungen. Hier zeigt sie Frauen im öffentlichen Leben – in Bussen und Schulen, auf Straßen oder beim Public Viewing der Fußball-WM 2018. Als Persisch sprechende, indische Forscherin mit großer Leidenschaft für iranische Kunst sei es ihr leichtgefallen, das Vertrauen der Filmemacher*innen und Menschen auf der Straße zu gewinnen, erzählt sie. Vor allem die Musik erweist sich bei ihren Begegnungen und Gesprächen als Türöffner. Als Singh beim Besuch einer Mädchenschule ein Lied mit Farrokhzads Versen anstimmt, singen die jungen Frauen begeistert mit – obwohl ihnen das Singen in der Öffentlichkeit eigentlich verboten ist.
Der schlimmste Feind
»My worst enemy«, ein dokumentarisches Experiment des Exil-Filmemachers Mehran Tamadon, lief in der Berlinale-Reihe »Encounters«. Darin bittet er Freund*innen, die im Iran verhaftet und verhört wurden, mit ihm vor laufender Kamera ein Verhör zu simulieren. Sein Plan: Er will über den Film mit den Agenten des iranischen Regimes in einen Dialog treten, an ihr Gewissen appellieren. Die 2008 nach Frankreich geflohene Schauspielerin Zar Amir Ebrahim, 2022 in Cannes für »Holy Spider« mit dem Darstellerinnenpreis ausgezeichnet, erklärt sich bereit, die Verhörerin zu spielen. In kahlen Räumen eines extra angemieteten Hauses quält sie Tamodon, so wie sie selbst nach Veröffentlichung eines intimen Videos ein ganzes Jahr in täglichen Verhören gequält wurde. Sie zwingt den Filmemacher, sich auszuziehen, spritzt ihn mit Eiswasser ab, jagt ihn mit Unterhose bekleidet auf die Straße, bezichtigt ihn der Spionage.
Und sie geht noch weiter. Im letzten Teil des Films stellt sie auch Tamodons Motivation für den Film in Frage: Er würde sie retraumatisieren und in Gefahr bringen, nur um sich selbst als Filmemacher zu profilieren. Was ist Skript, was Improvisation in diesem unheimlichen Rollenspiel? »My worst enemy« ist ein eindrucksvoller, ein beklemmender Film, der die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation verwischt und existentielle Fragen verhandelt: Wie verlieren Folterer ihre Menschlichkeit? Wie viel Böses steckt in jedem von uns? Was darf Film?
Der neue Mut
Auch mit »Frau-Leben-Freiheit«-Demonstrationen auf dem roten Teppich und mit Unterstützungsaktionen beim parallel stattfindenden Europäischen Filmmarkt setzte die Berlinale Zeichen der Solidarität. Auf dem Filmmarkt wurde der Iran erstmals durch einen neu gegründeten Verband unabhängiger iranischer Filmemacher*innen vertreten. In Podiumsdiskussionen im Hebbel am Ufer diskutierten Filmschaffende aus dem Iran, Afghanistan und Kurdistan über die Rolle von Film und Kunst in der iranischen Revolution.
Der inzwischen in Hamburg lebende Farzad Pak, Produzent des Goldenen Bären-Gewinners 2020 »Doch das Böse gibt es nicht« von Mohammad Rasoulof, sprach dabei von einer neuen Ära in der iranischen Filmgeschichte. Seine Generation hätte sich noch selbst zensiert und auf Reformen gehofft, die unter dem autoritären Regime nicht möglich gewesen wären. Jetzt würden immer mehr Filmschaffende im Iran ihre Filme im Untergrund machen. Auch »Holy Spider«-Darstellerin Zar Amir Ebrahimi schilderte eindrücklich den neuen Mut der jungen Generation, obwohl viele von Repression und Arbeitsverbot betroffen seien. Bisher käme die Förderung für Filmschaffende noch von den Revolutionsgarden und regierungsnahen Instituten. Das müsse sich dringend ändern. »Wir müssen unsere Kolleg*innen im Land ganz praktisch unterstützen.«