»Viele glaubten, dass wir Monster wären.«

Ehemalige FARC Kämpfer­innen schaffen im Haus des Friedens einen Ort der Begenung

Audiobeitrag von Julia Duffner

03.04.2023

Ende November 2022 jährte sich der Friedensvertrag zwischen der kolumbi­anischen Regierung und der Guerilla Gruppe FARC zum sechsten Mal. Anlässlich dieses Jahres­tages gab es in Bogotá an vier Kulturorten Panel­diskussionen zum Friedensprozess - eine Veranstaltung fand in der Casa de la Paz, dem Haus des Friedens. Julia Duffner traf dort eine ehemalige FARC-Kämpfer*in und ein Opfer des Konfliktes.

Shownotes

Audiobeitrag von Julia Duffner

03.04.2023

Skript zum Hörbeitrag - sechs Jahre Friedens­vertrag in Kolumbien

Erstausstrahlung im südnordfunk im März 2023

Doris Suárez Guzmán: Mein Name ist Doris Suárez Guzmán, ich bin eine ehemalige FARC-Kämpferin und politische Gefangene. Dank des Friedens­abkommens bin ich freigekommen und jetzt befinde ich mich hier im Haus des Friedens, der Casa de la Paz.

Sprecherin: Ende November 2022 jährte sich der Friedens­vertrag zwischen der kolumbianischen Regierung und der Guerilla Gruppe FARC zum sechsten Mal. Anlässlich dieses Jahrestages gab es in Bogotá, der Hauptstadt Kolumbiens, an vier Kulturorten Panel­diskussionen zum Friedensprozess – und zur Umsetzung des Vertrages. Unter anderem wurde über die Rolle von Frauen in Konflikten diskutiert. Eine der Veranstaltungen fand in der Casa de la Paz statt, die von Doris Suárez Guzmán, ehemalige FARC Kämpferin mitgegründet wurde. Sie brauen dort ihr eigenes Bier und schaffen einen Ort der Begenung und Aushandlung des Friedens.

Doris Suárez Guzmán: In der Casa de la Paz versuchen wir nicht, jemanden zu überzeugen, sondern einfach, eine andere Sichtweise aufzuzeigen, die so viele Jahre lang zum Schweigen gebracht wurde, die über mehrere Generationen hinweg verzerrt wurde.

Sprecherin: Einige Strassen weiter in der Casa Roja - dem Roten Haus - ergriff Carmensa López in einer Paneldiskussion das Wort und berichtete von ihren Erfahrungen als Aktivistin und Opfer des bewaffneten Konflikts.

Carmensa López: Viele Jahre lang mussten wir schweigen. Es war etwas, das wir nicht einmal selbst ausdrücken konnten.

Sprecherin: Carmensa López hat durch den Konflikt ihren Mann verloren und wurde aus ihrem Heimatort vertrieben. Einige Jahre später kehrte sie dorthin zurück, um sich gemeinsam mit anderen Opfern des Konfliktes einer Aufarbeitung der persönlichen Erlebnisse anzunähern.

Carmensa López: Mit der Unterzeichnung des Friedensprozesses hatte ich das Gefühl, dass wir mit der Arbeit beginnen können. Wir haben hier als Runder Tisch den Slogan »Sumapaz-Territorium - Beispiel für den Frieden«. Doch wir suchen nicht nur nach Frieden in unserem Gebiet. Wir ergreifen selbst die Initiative, denn hier gibt es keine Anerkennung der Opfer, weder kollektiv noch individuell. Wir fühlen uns von den Behörden und der ganzen Regierung mit der Aufarbeitung im Stich gelassen.

Hier gibt es keine Anerkennung der Opfer, weder kollektiv noch individuell.

Sprecherin: Frauen sind besonders verwundbar in Konflikt­situationen, sie sind Betroffene und nennen sich selbst Überlebende, um somit so die Passivität des Wortes Opfer zu vermeiden. Und: Sie sind Firmantes de Paz, Unterzeichnerinnen des Friedens. Unterzeichnerinnen sind aber auch ehemalige bewaffnete Kämpferinnen der FARC. Der Konflikt ist vielschichtig und so auch die Rolle von Frauen. Frauen sind intersektional betroffen, als Schwarze Frauen, indigene Frauen oder Frauen, die in ländlichen Gebieten wohnen, sogenannte Campesinas.

Sprecherin: Welche persönlichen Erfahrungen haben Sie in dem bewaffneten Konflikt besonders als Frau gemacht, und warum waren Sie Teil des bewaffneten Kampfes?

Doris Suárez Guzmán: Nun, wir Frauen und Männer hier in Kolumbien träumen von einem anderen Land, denn es ist eines der ungerechtesten auf dem Planeten, es ist nach dem Gini-Index * fast vergleichbar mit Haiti. Also versuchten viele von uns mit friedlichen Mitteln, diese Lebensbedingungen unseres Volkes für politische Ideale zu ändern. Doch der kolumbianische Staat ist ein sehr repressiver Staat. Er reagierte zum Beispiel mit einem Völkermord an der Partei Unión Patriótica, die das Ergebnis eines ersten Friedens­abkommens war, dass die Regierung mit der FARC 1986 geschlossen hatte. Daraufhin sah ich wie viele keinen anderen Weg, als zu den Waffen zu greifen, um unser Leben zu retten und um weiter für das kämpfen zu können, was wir als gerecht ansehen. Nicht, dass der Krieg angenehm ist. Er ist sehr brutal, er ist sehr grausam, aber manchmal ist man im Leben mit Dilemmata konfrontiert, in denen man keine Wahl hat.

Foto einer Friedensaktivistin mit Flügeln und der Aufschrift PAZ in einer Ausstellung
Foto in einer Ausstellung in Bogotá - Frau mit weißen Flügeln | Foto: Julia Duffner (all rights reserved)

Sprecherin: In den 50 Jahren des Konfliktes führte die FARC mehrmals Friedensgespräche mit der Kolumbianischen Regierung, so auch 1984. In diesem Zuge stellte die FARC eine eigene Partei mit einer Präsidentschaftskandidatin auf. Diese wurde von Paramilitärs ermordet sowie tausende Mitglieder*innen der Partei.

Doris Suárez Guzmán: Auf dem Land zum Beispiel sind die meisten Frauen Bäuerinnen. Ich habe in der Stadt gelebt, aber ich habe bäuerliche Wurzeln. Bei uns auf dem Land haben die meisten Frauen keine Möglichkeit, eine Ausbildung zu machen, keinen Zugang zu sozialer Sicherheit, zu keiner Universität, nicht zu guter Gesundheit und nicht einmal zu gutem Essen, weil die Bedingungen sehr prekär sind. Also sahen viele unserer Kamerad*innen die FARC-Guerilla als eine Möglichkeit, würdige Menschen zu sein, von dieser Organisation gut behandelt und respektiert zu werden. Andere schlossen sich der FARC an, weil ihre Familien von den Paramilitärs getötet worden waren. Es gab mehrere Ursachen, die uns Frauen dazu brachten, sich in diesem Krieg zu engagieren.

Sprecherin: In den Reihen der FARC kämpften Schätzungen aus dem Jahr 2009 zufolge zirka 9.000 bis 11.000 Frauen. Weitere Schätzungen gehen davon aus, dass Frauen rund ein Drittel bis zur Hälfte der Kämpfenden in Guerilla-Gruppen ausmachen. Doch sind Frauen in den bewaffneten Gruppen gleichberechtigt?

Doris Suárez Guzmán: In der FARC hatten wir nicht dieses Konzept der Gender-Ideologie. Das war ein Anliegen, dass viele Frauen bei den Friedensgesprächen in Havanna mitbrachten.

Sprecherin: 2012 nahm die kolumbianische Regierung in Havanna Friedensverhandlungen mit Vertreter*innen der FARC auf. 2016 kam ein Friedensvertrag zustande. Er wurde im ersten Schritt abgelehnt, wegen zahlreicher Vorbehalte, und Ende November 2016 schließlich von der kolumbianischen Bevölkerung angenommen.

Doris Suárez Guzmán: In der FARC haben Männer und Frauen die gleichen Rollen übernommen, die gleichen Arbeiten. Auch wenn sie manchmal sehr schwer sind, wie das Tragen von Brennholz oder das Ausheben von Gräben. Wir haben alle Arbeiten gemacht, die normalerweise Männer übernehmen. Es gab Frauen von sehr kleiner Statur, die gigantische Aufgaben erledigten. Und die Männer akzeptierten, eine Frau als Kommandantin, wenn sie im militärischen Bereich gut war. Sie machten keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen, sondern erkannten gute Persönlichkeiten und Käpferinnen an. Hier in der Casa de la Paz versuchen wir, der Philosophie der FARC zu folgen, Respekt für die Person aufzubringen. Ob du ein Mann, eine Frau oder eine Transfrau bist, du bist eine Person und für uns ist das das Wertvollste. Es sollte ein Ideal der Menschheit sein, dass es keine Rolle spielt, was deine sexuelle Orientierung oder dein Geschlecht ist.

Sprecherin: Was hat sich in den sechs Jahren seit Abschluss des Friedensvertrages geändert?

Doris Suárez Guzmán: Nun, es war nicht einfach. Mit der Regierung von Iván Duque haben wir fast vier Jahre  verloren, in denen das Abkommen nicht umgesetzt wurde. Die Regierungsmitglieder*innen stahlen einen Teil des Geldes, das die internationale Gemeinschaft ihnen gegeben hatte, und sie versuchten, dem Abkommen das Gewicht zu nehmen. Eines ist für uns sehr wichtig: Die Wahrheit nicht zu leugnen. Wir glauben, dass wir darüber sprechen müssen was passiert ist, um alle Wunden zu heilen. So schmerzhaft es auch sein mag, das ist der Beitrag, den wir leisten können, um die Wahrheit anzuerkennen. Um den jungen Menschen zu zeigen, wie komplex der Krieg war.

Sprecherin: Der Konflikt entstand in den 1960er Jahren. Bäuerliche Guerillagruppen hatten sich gegen die extrem ungleiche Verteilung von Landbesitz gewehrt. Sie setzten sich gegen Landraub und die sich mehrenden Übergriffe der kolumbianischen Armee und der paramilitärischen Kommandos der Großgrundbersitzer*innen kämpferisch entgegen. 1966 entstanden daraus die FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia). Sie wurde zur größten Guerillabewegung Kolumbiens. Der jahrelange Konflikt forderte zahlreiche Menschenleben und führte zu einem enormen Ausmaß an Gewalt, gerade in ländlichen Regionen.

Es fehlt noch einiges für den ,paz total’, den vollkommenen Frieden.

Doris Suárez Guzmán: Dieses Abkommen ist sehr wichtig und einzigartig in der Welt. Es hat es geschafft, nicht nur zu versuchen, die Ursachen zu behandeln, die zu dem Konflikt geführt haben, sondern auch dessen Folgen. Es zielt sehr darauf ab, die Opfer zu würdigen, damit sie die Wahrheit über das, was passiert ist, erfahren. Um ihnen den Wert zu geben, den sie verdienen, und um sie teilweise für alle Schäden zu entschädigen, die während so vieler Jahre verursacht wurden. Wir befinden uns im siebten Jahr nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens und Sie sehen, dass die Morde an sozialen Führungspersonen weitergehen - ebenso die Morde an uns als Kämpfer*innen.

Sprecherin: In den Paneldiskussionen wird klar: Es fehlt noch einiges für den ,paz total’, den vollkommenen Frieden. Sie fordern Umstrukturierungen von Polizei und Militär, und es wird deutlich, dass der Friedensprozess nicht nur in den Städten und insbesondere Bogotá ausgehandelt werden kann. Vor allem die Landbevölkerung war und ist immernoch von dem Konflikt betroffen. Auch sechs Jahre nach dem Friedensabkommen gibt es viele Konfliktherde über das Land verteilt, in denen oft die Zivilbevölkerung betroffen ist.

Carmensa López: Sumapaz ist ein völlig ländliches Gebiet. Es ist ein sehr großes Gebiet, in dem viele Menschen Gewalterfahrungen gemacht haben, doch wir haben hier keine Polizei. Zum Beispiel ist vor 15 Tagen ein Femizid begangen worden und es hat sich herausgestellt, dass es keine Richter*innen oder ein anderes Ordnungsorgan gab. Es gab niemanden, um uns zu unterstützen oder uns zu helfen. Deshalb sagen die Frauen oft nichts oder äußern sich aus diesem Grund nicht. Es gibt keine Unterstützung für sie, obwohl das Frauensekretariat im Büro des Bürgermeisters angesiedelt ist.

zwei Bilderrahmen mit Fotos von FARC Kämpfer*innen in einer Ausstellung in Bogotá
Fotos in einer Ausstellung in Bogotá zu den Friedensverhandlungen | Foto: Julia Duffner

Sprecherin: In der Casa de la Paz hängen viele gebastelte Schmetterlinge von der Decke. Am Tresen kann man sich zwischen vier Sorten selbstgebrauten Bieres entscheiden. Die Wände sind mit vielen bunten Plakaten beklebt. Neben anderen Veranstaltungen sind Karaokeabende hier sehr beliebt.

Doris Suárez Guzmán: In der Casa de la Paz versuchen wir nicht, jemanden zu überzeugen, sondern einfach, unsere Version der Geschichte zu erzählen. Wir haben in den Mainstream-Medien die Dämonisierung der Guerilla erlebt und viele glauben, dass wir Monster wären. Am Anfang fühlte es sich an wie ein krankhaftes Verlangen vieler Menschen, Guerillakämpfer*innen hier im Haus zu sehen. Inzwischen haben sie sich daran gewöhnt, dass wir genauso sind wie sie, dass wir versuchen, besser zu sein.

Leider hat die Form des Kampfes, in der wir leben mussten, viele Menschen beeinträchtigt, weshalb ich denke, dass wir den Idealismus der Guerilla­kämpfer*innen rechtfertigen müssen. Wir haben nie Geld erhalten, weil wir es nicht zum persönlichen Vorteil taten, sondern weil wir diese Welt verändern wollten, die uns falsch erschien. Es ist nicht fair, dass auf einem Planeten, auf dem es genug gibt, um alle zu ernähren, Menschen leben, die jeden Tag an Hunger, Unterernährung und mangelnder medizinischer Versorgung sterben. Das gefällt mir nicht und ich denke nicht, dass wir es verdient haben, erschossen zu werden, weil wir so denken. Wir müssen lernen, uns gegenseitig zu respektieren und gemeinsam den Weg in die Zukunft zu beschreiten, auch wenn wir nicht auf die gleiche Weise denken.

Carmensa López: Es gab kein Wissen über die Aufarbeitung der Erlebnisse und für uns war es sehr schwer, einen guten Weg damit zu finden. Wir haben uns als Delegierte des Sumapaz-Tisches und als Distrikt-Friedensrat überlegt, mit welchen Aktionen wir bei den Gedenkfeiern die ganze Gemeinschaft miteinbeziehen können. Zum Beispiel haben wir eine Aktion veranstaltet, bei der jede*r einen Baum oder einen Setzling pflanzen konnte, den er oder sie mochte, als Zeichen, dass daraus Leben hervorgeht. Dann hat jede Person offengelegt, was sie in dem Moment fühlte. Wir wollen die Gemeinschaft unterstützen, die Angst und das Unbehagen zu verlieren, um nach Heilung zu suchen. Denn die Wahrheit ist, dass immer noch viel geschwiegen wird und viele Angst haben, sich auszudrücken. Wir müssen uns überlegen, wie wir Frieden schaffen können. Es reicht nicht aus, dass wir uns zusammen­setzen und glücklich sind. Zuerst wollen wir als Opfer die Wahrheit erfahren.

Im Museum Casa de la Memoria (Museum der Erinnerung) in Medellin steht das Zitat: »Die Spuren des Schadens verschwinden nie, aber Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung machen es möglich, den Schmerz mit größerer Würde zu ertragen.«

Erstausstrahlung südnordfunk 2023 | Radio Dreyeckland

Julia Duffner studiert Ethnologie in Freiburg. Im Rahmen eines ASA Projektes war sie Ende 2022 für ein halbes Jahr in Kolumbien.

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