schwarz-weiß Illustration uniformierter Polizei im Einsatz mit Schlagstöcken in den USA
Rassistisch motivierte Polizeigewalt ist tödlich für People of Color | Illustration: Crista Cassano - im Rahmen von Artists against Police Brutality - Kunstaktion nach dem »Mord« a Eric Garner | all rights reserved

Von tödlicher Wahr­schein­lichkeit

Rassismus und Polizeigewalt in den USA

Historisch gewachsen und bis heute weitgehend ungeahndet trifft rassistisches Verhalten von Polizist*innen in den USA auf eine Legislative, die nicht selten auf die Ein­schätzungen der mächtigen Polizei­gewerk­schaften hört. Die allgemein hohe Präsenz von Schuss­waffen erleichtert die Eskalation tödlicher Gewalt.

von Ulrike Rainer

06.03.2021
Veröffentlicht im iz3w-Heft 383

Merkwürdigerweise fiel mir zum Thema der tödlichen Polizeigewalt in den USA zuallererst der Charlie Chaplin-Film Modern Times von 1936 ein. Im Film prügeln die Polizisten zwar »nur« mit Knüppeln chaotisch auf die Bürger*innen ein und geben eher eine lächerliche Figur ab, doch die Bereitwilligkeit zur Gewalt ist deutlich zu sehen. Ein Jahr zuvor war nach Unruhen in Harlem 1935 eine staatlich eingesetzte Kommission zu dem Schluss gekommen, dass willkürliche Polizeigewalt – neben Diskriminierung in Beruf, Bildung und der Wohnungsbeschaffung – einer der Gründe für den Zorn der Schwarzen Bevölkerung war.

Nach schweren Ausschreitungen in mehreren Großstädten Mitte der 1960er-Jahre folgerte die Kerner Kommission (1968) das gleiche. Sie musste noch darum kämpfen, das Kind beim Namen zu nennen, also das Wort Rassismus in den Bericht aufnehmen zu dürfen. Die schwersten Aufstände fanden zwischen dem 11. und 16. August 1965 in Los Angeles statt. Auch hier war der Auslöser die Reaktion der Polizei, die in keinem Verhältnis zum »Verbrechen« stand. Ein 21-jähriger Schwarzer wurde betrunken am Steuer erwischt. Seine herbeigeeilte Mutter, die ihm kräftig den Kopf wusch, wurde sofort selbst bedroht. Innerhalb von sechs Tagen kamen 34 Menschen ums Leben.

Dabei hatte ein Jahr zuvor Präsident Lyndon Johnson den Civil Rights Act unterschrieben, ein Gesetz, das Diskriminierung an öffentlichen Plätzen und im Beruf strafbar machte, und die obligatorische Öffnung von Schulen und anderen allen zugänglichen Einrichtungen auch für Schwarze verordnete. Letzteres war vor allem für die Südstaaten von Bedeutung. Doch ein Gesetz zu verabschieden heißt noch lange nicht, dass es respektiert wird. Zudem ist zu erwähnen, dass es regionale Unterschiede und oft eine Kluft zwischen Stadt und Land gibt. Hier wird hauptsächlich von Großstädten gesprochen.

Tradition von Loyalitäten

Bei den Watts Riots in Los Angeles 1965 schoss die Polizei in die Menge und knüppelte nieder, was ihr im Weg stand. Im Jahr 2020 fuhr die Polizei mit Übermacht vor, als es um einen angeblich gefälschten Zwanzig-Dollar-Schein ging.* George Floyd wurde unter anderem auch Opfer einer sich immer militaristischer gebärdenden Zivilmacht. Er hatte sich richtig verhalten. Er blieb bei der polizeilichen Maßnahme höflich, nannte den Polizisten bis ans Ende »Sir«, auch als er schon nicht mehr atmen konnte. Sicherlich hatten seine Eltern auch mit ihm THE TALK (das Gespräch) geführt: Wenn Du von der Polizei angehalten wirst, sofort Deine Hände zeigen; im Auto auf das Armaturenbrett legen; bloß keinen Griff zum Handschuhfach; keine schnellen Bewegungen und nicht versuchen davonzulaufen; respektvoll bleiben, auch wenn du beleidigt oder provoziert wirst. Schwarze Eltern üben das mit ihren Kindern, insbesondere mit Jungen, die als Teenager und junge Männer die am meisten von Polizeigewalt betroffene Gruppe sind.

Wie kam es zu dieser Eskalation der Mittel? Das Militär verteilt seit Jahren sein überschüssiges oder ausrangiertes Material, also Waffen und Ausrüstung, großzügig an die zivilen Truppen. Schwere Helme, Kevlarwesten und das Gefühl, in einem kriegstauglichen Fahrzeug unterwegs zu sein, verwandeln selbst den freundlichsten Polizisten in einen Soldaten. Kleider machen eben Leute. Man befindet sich sozusagen im Kriegszustand. Und im Krieg schließt man keine Kompromisse. Ein/e Polizist*in hat deshalb auch a priori ein antagonistisches Verhältnis zu denjenigen, die sie oder er eigentlich, wie vom Staat vorgeschrieben, schützen sollte. Die Mitbürger*innen werden zum Feind, umso mehr, wenn das Gegenüber ein Mensch ist, auf dem seit Jahrhunderten Vorurteile lasten.

Dass Rassismus jedes Segment der amerikanischen Gesellschaft durchdringt, muss hier nicht extra betont werden. Es gibt ganze Bibliotheken, die sich damit befassen. Die aus Zeiten der Sklaverei stammenden Verbrechen gegen die verschleppten und versklavten Afrikaner*innen sind noch lange nicht gesühnt oder verarbeitet. Im Rassismus der Polizei manifestieren sie sich nur am sichtbarsten. Es bleibt im Privaten verborgen, wenn mir niemand eine ordentliche Wohnung vermieten will, und es ist schwer zu beweisen, dass eine Jobabsage aus Rassismus geschieht.

Bei den Watts Riots in Los Angeles schoss die Polizei in die Menge

Dazu kommt, dass es Traditionen in der Berufswahl gibt. In Großstädten wie New York oder Boston waren es Immigranten aus Irland und anderen westeuropäischen Ländern, die für Jahrzehnte den Großteil der Polizei ausmachten. Noch in den 1930er-Jahren identifizierten sich zwischen 30 und 40 Prozent aller Polizisten als Irisch. Auch heute sind landesweit immer noch zwei Drittel aller Polizist*innen Weiße. Ursprünglich also trafen alle nichtweißen nur weiße Menschen in Uniform an, die sich außerdem zunehmend ihre eigenen Verhaltensregeln gaben. Es entwickelte sich eine Tradition von Loyalitäten, ein berufsverhafteter Ehrenkodex, zu dem Außenseiter*innen keinen Zugang haben. Solche geschlossene Systeme sind nicht selten auch ein Nährboden für Vertuschung und Korruption. Und wenn auch nicht jede/r Polizist*in unbedingt Vorurteile und gegenüber den Kolleg*innen mit anderer Hautfarbe ein gutes und kollegiales Verhältnis hat, so bleiben die Grundstrukturen doch intakt.

Gewerkschafts­schutz und alte Garden

Zu dieser Grundstruktur gehört zum einen der 1915 gegründete, einflussreiche Fraternal Order of Police, der 355.000 Mitglieder zählt. Der Verband vereinigt Lobby- und Gewerkschaftsarbeit, agiert aber auch als Treffpunkt oder Sozialkasse. Mit seinen 2.100 lokalen Gruppen, die das Land überziehen, übt er einen gehörigen Einfluss aus und kann schon mal an einen Geheimbund mit seinen Logen erinnern. Die lokalen Gruppen des Berufsverbands verteilen Fragebögen an Präsidenten und Parlamentarier*innen, in denen diese ihre Einstellung zur Polizei offenlegen müssen. Zum anderen gibt es die mächtigen Polizeigewerkschaften, die bei Gerichtsverhandlungen immer wieder durchsetzen, dass – vom willkürlichen Fehlverhalten bis hin zum Mord – nur hinter verschlossenen Türen verhandelt wird. Meistens gibt es dann einen Freispruch oder eine nominelle Suspendierung.*

Falls ein/e Bürgermeister*in oder Abgeordnete diese Geheimnistuerei gesetzlich ändern wollen, bereuen sie es bald. In ihrer Nachbarschaft kommt dann plötzlich auf einen Notruf nur eine verspätete oder unzureichende Reaktion. Politiker*innen, die sich wohlwollend zur Polizei äußern, werden von den Gewerkschaften mit hohen Summen im Wahlkampf unterstützt. Ihren Gegner*innen begegnet man mit Schmutzkampagnen. Man muss diese Machenschaften beim richtigen Namen nennen: Es ist Erpressung und Einmischung in die Politik.

Wenn zu dieser gruppenegoistischen Praxis auch noch der Rassismus kommt, entsteht jenes tödliche Gebräu, das nicht nur George Floyd das Leben kostete, sondern auch Amadou Diallo (1999), Eric Gardner*, Breonna Taylor und vielen anderen davor. Die Dunkelziffer ist unbekannt, doch über die Jahrhunderte gerechnet sicher erschreckend hoch. Seit Zeug*innen mit ihren Handys filmen und damit die ungeheure Brutalität dokumentieren, erfährt die breitere Öffentlichkeit etwas mehr von dem Ausmaß der Gewalt.

Es ist traurig, dass in Minneapolis keiner der Filmenden eingegriffen hat. Aber die Furcht dabei, Bewaffneten gegenüberzustehen und sich selbst in Gefahr zu bringen ist dann eben doch zu groß.

Hilfe gerufen aber Polizei erhalten

Die Bewegung Black Lives Matter gibt es seit 2013. Wenn man im sinnlosen Tod George Floyds irgendeinen Sinn erkennen wollte, dann ist es dieser: Endlich wurde auch für viele Weiße drastisch sichtbar, wie man mit ihren Mitbürger*innen mit dunkler Hautfarbe umgeht, und dass es längst überfällig ist, solidarisch zu handeln. Viele nahmen sich diese Aufforderung zu Herzen, wie man an den Demonstrationen sehen kann, die meistens friedlich abliefen. Die Ausschreitungen, die es dann wie zu erwarten gab, deutete schon Martin Luther King so: »A riot ist the language oft the unheard« (Ein Aufstand ist die Sprache derer, die man sonst nicht hört).

Es ist ironisch und tragisch zugleich, dass die Afro-Amerikaner*innen der Großstädte selbst nach mehr Polizei verlangten, als zwischen den 1960er- und 1990er-Jahren in ihren Vierteln die Dinge aus dem Ruder liefen. Drogendealer und rivalisierende Banden dominierten das öffentliche Leben. Frauen und Kinder gerieten ins Kreuzfeuer. Viele trauten sich nach Dunkelheit nicht mehr aus dem Haus. Es ist kein Geheimnis, dass Schwarze oft Opfer von Verbrechen sind, die von Schwarzen begangen werden. Die Polizei glänzte durch Abwesenheit. Die Menschen fühlten sich vom Staat im Stich gelassen. Aktivist*innen sahen in dieser Situation eine absichtliche, rassistisch grundierte Vernachlässigung. Mehr Polizeigegenwart erschien wünschenswert. Die Menschen forderten strengere Strafen für den Drogenhandel und ein schärferes Vorgehen gegen den allgegenwärtigen Vandalismus. Zunächst begrüßten viele die Gegenwart von mehr Streifenwagen.

»Respektvoll bleiben, auch wenn du beleidigt oder provoziert wirst.«

Es sollte sich bald herausstellen, dass das ein großer Irrtum war. Der erhoffte Schutz durch das Gesetz bleibt weitgehend aus. Stattdessen gibt es Schikanen. Junge Männer, die einfach nur auf der Straße gehen, werden grundlos angehalten und durchsucht. Der Arzt im BMW, der auf dem Weg zu Patient*innen ist, weiß bald nicht mehr, wie oft er schon zum Halten aufgefordert wurde, weil man annimmt, dass er das Auto gestohlen hat. Ein landesweit renommierter Professor und Autor, der seinen Schlüssel vergessen hat und in sein Haus durch ein Fenster einsteigt, sieht sich von der Polizei umringt, die ihn für einen Einbrecher hält. Dabei wird ihm nicht zugehört und es wird keineswegs zimperlich mit ihm umgegangen.

Solche Erfahrungen machen Weiße selten, aber sie sind Alltag im Leben von Minoritäten. Es besteht immer gleich ein Anfangsverdacht. Und sogar wenn ein Eingreifen gerechtfertigt ist, ist der Umgang mit Verdächtigen oft brutaler als nötig. Illegaler Zigarettenverkauf und ein kaputter Autoscheinwerfer werden dann mit dem Tod bestraft, immer im Wissen, dass solche Übergriffe keine oder nur harmlose Konsequenzen haben. Dass da irgendwann in den Opfern die Wut hochkocht, ist nachvollziehbar.

Durch die Polizei­brille geschaut

Wie aber stellt sich die Lage von der anderen Seite dar? Wie sehen das die Polizist*innen, die in Problemvierteln ihre schwierige Arbeit machen und für die etwa die radikale Forderung, der Polizei die Finanzierung zu entziehen, ein Affront ist? 2019 wurden 48 Polizist*innen im Dienst getötet, 44 davon mit einer Schusswaffe und vier von ihnen durch mit Absicht auf sie gelenkte Fahrzeuge. Drei der Toten waren Frauen, sieben waren Schwarze, einer war asiatischer Herkunft und vierzig waren Weiße.

Ein großes Problem in den USA ist, dass fast jede Person legal oder illegal an Pistolen, Gewehre und Maschinengewehre herankommt. In Stadtteilen, in denen hauptsächlich Minoritäten wohnen, ist das nicht anders. Von der Mafia bis zum kleinen Drogendealer kann und muss die Polizei annehmen, dass das Gegenüber bei einer Konfrontation schießen könnte. Wenn die Polizei in Fällen häuslicher Gewalt an der Tür klopft, können ihr plötzlich Kugeln von innen um die Ohren fliegen. Etwa von Aggressionen heimgesuchte Menschen, die es nun einmal gibt, werden durch Waffenbesitz lebensgefährlich anstatt nur schwierig. Im Streifenwagen sitzen dann Menschen, die immer mit dem Schlimmsten rechnen müssen und hyperwachsam sind. Beim Aussteigen aus dem Auto ist die Waffe griffbereit. Die Logik allgemeiner Bewaffnung ist: Wer zuerst abdrückt, hat die bessere Chance. Wenn sich dann herausstellt, dass das Gegenüber bloß das Handy zückte, heißt die Ausrede, dass man Angst um sein Leben gehabt hätte.

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In den real existierenden Slums wird die Polizei häufig mit den Schattenseiten des Lebens konfrontiert: Armut, Perspektivlosigkeit, Frust, die Verachtung der Mitbürger*innen und das Gefühl, vom Staat übergangen zu sein, ergeben eine bisweilen explosive Mischung. Polizist*innen als erste Vertreter*innen von Gesetzen, die für manche ungerecht oder schlimmstenfalls willkürlich angewendet werden, treffen ständig auch auf Menschen, die ihnen misstrauen und feindselig begegnen. Im Gegenzug macht sich bei der Polizei Zynismus breit. Die Polizei greift erst gar nicht mehr ein, wenn sie Zeugin von Verbrechen wird, nach dem Motto: Sollen sie sich doch gegenseitig umbringen, denn sie sind ohnehin »animals«, also Vieh. Oder die Polizei handelt nicht nur als Hüterin des Gesetzes, sondern gleich auch als Richtende und Vollstreckende.

Das sind die düsteren Szenarien. Am 11.9.2001 verloren 71 Polizist*innen ihr Leben, als sie ins einstürzende World Trade Center stürmten, um Menschen zu retten. Sie hielten es für ihre Pflicht und haben sehr wahrscheinlich nicht auf die Hautfarbe geschaut. Dutzende sind seither an Krebs gestorben, nachdem sie für Wochen in den Trümmern mit giftigem Material hantierten. Ja, es waren immer noch O’Leary, Sullivan, O’Flaherty und Ryan dabei, aber auch Rodriguez, Kaminski, Napolitano, Wong, Panzarella, Weintraub und O’Connor-Funigiello, um nur einigen wenigen einen Namen zu geben. Aber auch im ganz normalen Alltag: Manche Polizist*innen bemühen sich aufrichtig, ohne rassistische Vorurteile die Menschen in ihrem Revier kennenzulernen. Sie steigen aus dem Auto aus, begegnen Misstrauen mit Offenheit und werden ihrer Aufgabe gerecht. Sie reden einfach mit den Leuten.

Ulrike Rainer ist Professorin für Germanistik sowie Vergleichende Literaturwissenschaft, ehemals am Dartmouth College (New Hampshire).

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