The Mighty Red. Ein Flussdelta im Hintergrund.

Von Rüben und Menschen

Rezensiert von Kathi King

10.12.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 406

Am Vorabend ihrer Hochzeit stürzt sich Kismet Poe in die Fluten des Red River. Heraus fischt sie ihr Highschool-Kamerad Eric, der gerade seine Ersthelferausbildung abgeschlossen hat. Noch einmal davongekommen – das sind viele der Figuren in Louise Erdrichs Roman The Mighty Red, der im Red River Valley in North Dakota spielt.

Wir schreiben das Jahr 2008, in dem Kismet und ihre Klassenkamerad*innen die Highschool abschließen. Sie sind Millennials und rutschen von der Schulbank in eine Welt voller Unsicherheiten: die Große Rezession von 2008ff, ausgelöst durch eine Immobilienblase, bringt eine Welt ins Wanken, in der schon vieles im Argen lag. Es geht um Ökonomie und ungleiche Besitzverhältnisse, und darum, wie der Mensch in die Natur eingreift, Landschaften formt und zerstört. Kenntnisreich schildert Erdrich die Arbeitswelten ihrer vielen Protagonist*innen, die komplexen Zusammenhänge und das Leid, das die kapitalistische Vernutzung im 21. Jahrhundert über Gesellschaften, Natur, Körper bringt.

Erdrich selbst ist Mitglied der Turtle Mountain Band, einer Gruppe der Chippewa, oder Ojibwe, die einst die Region der Großen Seen der Nordamerikanischen Kontinents bevölkerten. Deren Geschichte steht in »The Mighty Red« zwar nicht im Zentrum, doch sie sind auch hier vertreten. Unter anderem durch die Charaktere Kismet und ihrer Mutter Crystal, eine der stärksten und liebenswertesten Figuren des Romans.

»Alles auf der Welt kann eliminiert werden, wenn nur die Bedingungen stimmen«

»Alles auf der Welt kann eliminiert werden, wenn nur die Bedingungen stimmen« – diese zynische Feststellung leitet die Passage ein, in der eine schier unendliche Masse von Büffeln im Jahr 1830 unter einem Baum hindurchzieht, auf den sich ein Priester gerettet hat. Dann, nur fünfzig Jahre später, ist die Prärie bedeckt mit den Knochen der einst endlosen Herden, hervorgerufen durch das Repetiergewehr der Firma Winchester – genutzt zur sogenannten Eroberung des Westens. Ein findiger Geschäftsmann lässt daraus Knochenkohle herstellen, mit der Rohzucker gebleicht werden kann. Dieser wird damals noch hergestellt auf Plantagen, auf denen die eigentlich befreiten ehemaligen Sklav*innen immer noch unter sklavereiähnlichen Bedingungen schuften. Die Grausamkeiten der Kolonisierung – vereint in einem Produkt.

Solche Vignetten gibt es viele in Erdrichs Roman, der passagenweise vielleicht etwas eklektisch geraten ist. »The Mighty Red« hat nicht die Dichte und Kohäsion von Erdrichs preisgekrönten Roman »Der Nachtwächter« (2020, dt. Übers. im Aufbau Verlag 2021), doch er spielt dennoch in der oberen Liga der Erzählkunst. Das Geschehen fesselt stellenweise wie ein Thriller, und Erdrichs warmherziger Blick auf ihre Protagonist*innen und ihre detailgenauen Beschreibungen von Orten und Vorgängen machen »The Mighty Red« zu einem meisterhaften Gesellschaftstableau – zu einem Zeitpunkt in der jüngeren Geschichte, in dem sich heutige Krisen bereits mit lautem Getöse angekündigt hatten. Man kann hoffen, dass auch »The Mighty Red« bald ins Deutsche übersetzt wird.

Louise Erdrich: The Mighty Red. HarperCollins, New York, 384 Seiten, 17,99 Euro.

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