»Jetzt haben wir wie die Männer Gewehre«

Ambivalente Gender­normen in Tigray

Audiobeitrag von Martina Backes

08.08.2023

Die Volksbefreiungsfront in Tigray (TPLF) ist für einen hohen Anteil an Frauen in ihre bewaffneten Einheiten bekannt. Dass Frauen gleichberechtigt mit ihren männlichen Kollegen zu den Waffen greifen und an Kämpfen teilnehmen können, gehört zu den zentralen Richtlinien der Militärpolitik der TPLF.

So erhoben Frauen ehemals gegen das diktatorische Regime von Mengistu Haile Mariam die Waffen, jüngst kämpften sie im Bürgerkrieg gegen die Zentralregierung Äthiopiens. In den 1980ern bot der Befreiungskampf gegen das Derg Regime Frauen Gelegenheit, die aktive Teilnahme am bewaffneten Kampf mit dem Streben nach Gleichberechtigung zu verbinden. Sie entwickelten während dieser Zeit vielfach eine kollektive Identität, die auch androgyne Einstellungen und Verhaltensweisen umfasste, die traditionellen Geschlechternormen widersprachen. Doch was bleibt nach dem bewaffneten Kampf? Zwischen dem persönlichen Streben für gleiche Rechte und einer propagandistischen Mobilmachung für den Machtkampf liegen tiefe Abgründe. Angela Veale erinnert sich an Probleme bei der Demobilisierung, der Genderaktivist Temesgen Asfay* an das, was an Fortschritten bleibt und Beza Negewo Oda beleuchtet die Narrative ehemaliger Kämpfer*innen.


 

Erstausstrahlung am 1. August 2023 im südnordfunk #111

Sprecherin: Frauen in Militärtarnhose steigen, eine nach der anderen, über unwegsame Bergpfade, direkt auf die Betrachterin zu. Sie tragen rote T-Shirts - mit dem goldenen Stern. Die vorderste Kämpferin hält die Tigray Flagge in den Wind. Die Optik des Musikvideos zum HipHop Song des Künstlers Asfaw Girmay, bekannt als Kol’a Tigray, ist eindeutig: Gefeiert wird der entschlossene Kampfgeist der Schwestern, der Frauen in Tigray, einer Provinz im Nordosten Äthiopiens, die mutig, voranschreiten. Modern, mit allen militärischen Gepflogenheiten vertraut, ohne ihre Bindung zum Traditionellen aufzugeben. Gesungen wird der Song von Rahel Haile.

In großer Redundanz werden hochauflösende Fotos der Sängerin in Militärbekleidung präsentiert, die dann mit Bildern der Sängerin in einem traditionell-bestickten weißen Festkleid verschmelzen. Dazwischen Clipsequenzen der Mobilisierung der Jugend, junge Frauen, die Waffen ergreifen. Fotos von alten Müttern, die ihre Kinder an die Front wünschen, 3-D Animationen mit Drohnen und Hubschraubern, rot-gold flackerndes Feuerlicht. Dazwischen Schwarzweißzeichnungen in einer Ästhetik, die an die Zeit des Befreiungskampfes in den 1980er Jahren erinnert. Szenen, in denen Frauen mit dem Sturmgewehr tanzen. Das Video wurden über eine Million Mal geklickt.

Heroisches Miteinander, solidarische Umarmungen zwischen Männern und Frauen für die gleiche Sache: Die Bildästhetik des Musikvideos ist einfach gestrickt. Der Song war über 16 Wochen unter den 40 besten in den Charts in Tigray, auch noch, als längst offensichtlich war, dass der bewaffnet geführte Kampf, zu dem die TPLF (Tigrian Liberation Front) aufrief, in Blutvergießen, Flucht der Zivilbevölkerung und Hunger mündete. Die Gewalt eskalierte weiter, es kam zu Gruppenvergewaltigungen und Massakern.

Sprecherin: Zwei Jahre lang kämpften schwer bewaffnete Einheiten in Tigray im Nordosten Äthiopiens gegeneinander: Die tigrinische Volksbefreiungsfront und die Armee der Zentralregierung von Präsident Abiy. »Silence the Guns« lautet die Initiative, die im November 2022 die äthiopische Zentralregierung und die Provinzregierung in Tigray dazu bewegte, das so genannte »Abkommen über die Einstellung der Feindseligkeiten« zu unterzeichnen. Die Deutsche Welle berichtet: Beide Seiten hätten eine Entwaffnung vereinbart. Und die Wiederherstellung der Ordnung, so Vermittler Olusegun Obasanjo.

Sprecherin: Die Waffen schweigen seither keineswegs durchweg und nicht an allen Orten. Es gibt keine Sicherheit, kaum Zugang in die Region. Doch immerhin gelang es der Afrikanischen Union, einen fragilen Waffenstillstand einzuleiten. Das war vor acht Monaten. Seither wird über den Bürgerkrieg und seine langen Schatten, unter denen die Bevölkerung massiv leidet, kaum mehr in deutschen Medien berichtet. Dabei ist die Situation in Tigray verheerend: »In Tigray sind seit November 2020 schätzungsweise eine halbe Million Menschen getötet worden.« So fasst Chessie Baldwin die Lage vor einem Jahr zusammen. »Davon sind 100.000 bei den Kämpfen ums Leben gekommen, 200.000 sind durch die anhaltende Blockade verhungert und 100.000 durch den Verlust der medizinischen Versorgung«, berichtet die Deutsche Welle. »Menschenrechtsorganisationen werfen beiden Seiten Massaker und grausamste Verbrechen vor«, so Amnesty international. »Die Menschenrechtsorganisation berichtet von Soldaten der TPLF, die zivile Personen getötet haben; und von Gruppenvergewaltigungen dutzender Frauen und Mädchen«, heißt es bei Africanews. Im Krieg verübte sexuelle Gewalt und Massaker gab es auf beiden Seiten. Vice News hat tigrinische Frauen in den Flüchtlingscamps im Sudan interviewt, die über Vergewaltigungen sprachen. Desta ist eine von ihnen. Die Armee wollte von ihr wissen, wo ihr Mann sei, der mit der TPLF kämpfe.

Desta: Ich bin eine stolze Frau aus Tigray, und ich möchte, dass alle wissen, was ich erleiden musste. Sie brachten mich auf die Polizeiwache. Zuerst sagten sie immer wieder: »Bringt ihn zu uns.« Sie verprügelten mich sehr, sie schlugen mich mehrere Male. Es gab so viele Misshandlungen. Wenn es dunkel wurde, sagten sie, dass sie die Anführer rufen würden. Sie vergewaltigten uns, abwechselnd. Ich spreche darüber, damit meine Familie, die nicht weiß, ob ich noch lebe oder nicht, erfährt, dass ich noch lebe.

Sprecherin: Die Nachkriegsgesellschaft ist traumatisiert. Die verführerische Euphorie der zahlreichen Musikvideos, die während der Mobilmachung gerade auch Frauen als bewaffnete Kämpfer*innen zeigen, irritiert. Die Realität ist ernüchternd. Nicht nur bei denen, die Massaker und Vergewaltigungen durchlebten. Der Konflikt in Tigray ist nach Angaben des Forschungsinstituts International Crisis Group (ICG) »einer der tödlichsten weltweit«. Schätzungsweise 100.000 Personen starben in direkter Folge der Kriegshandlungen, der Vertreibungen und durch den Hunger als Waffe. Dennoch sind aktuell vorwiegend humanitäre Akteure mit den Kriegsfolgen befasst, seit dem Krieg gegen die Ukraine ist Tigray zu einem vergessenen Konflikt geworden.

Francesca Baldwin: »Afrikanische Frauen aus den Ländern des Globalen Südens werden mehrheitlich Frauen als passive, entmachtete Opfer dargestellt, anstatt ihr Bewusstsein, ihre Initiative und ihre Handlungsfähigkeit anzuerkennen«

Sprecherin: Die Autorin hat zahlreiche Kämpferinnen interviewt. In einem Vortrag an der Reading University konfrontiert sie die stereotype Einteilung in Frauen als Kriegsopfer und Männer als Täter eines Krieges mit den Zeuginnenberichten tigrinischer Frauen: »Die Teilnahme von Frauen, die tatsächlich eine aktive Rolle in den Kämpfen übernommen haben, erfahren nach dem Krieg oft dauerhafte soziale Folgen.« Die umfangreiche Mobilisierung von Frauen in Tigray erscheint außergewöhnlich, aber nicht unerklärlich. Sie hat historische Gründe. Angela Veale hat vor rund 15 Jahren zur Demobilisierung von Kämpfer*innen der TPLF geforscht. Sie erinnert:

Ein Drittel der TPLF-Mitglieder waren Frauen

Angela Veale: Ein Drittel der TPLF-Mitglieder waren Frauen, und ich erinnere mich, dass sie als sehr mutige und aktive Kämpferinnen gelobt wurden, so dass ihr Ruf als Kämpferinnen sehr stark war. Sie waren in gewisser Weise furchteinflößend, und es gab ein oder zwei Frauen als politische Anführerinnen, die in der TPLF hochrangig waren und dann in den politischen Strukturen eine führende Rolle spielten.

Sprecherin: Temesgen Asfay*, Genderaktivist und in der Humanitären Hilfe tägig, erinnert die damalige Zeit der Bewaffnung in Tigray so:

Temesgen Asfay: Während der Kämpfe schlossen sie sich den Einheiten an, Frauen erlangten militärische Fertigkeiten und wurden mobilisiert und ausgebildet.

Sprecherin: In den 1980ern bot der bewaffnete Befreiungskampf gegen das äthiopische Derg Regime Gelegenheit, die Teilnahme am bewaffneten Kampf mit dem Streben nach Gleichberechtigung zu verbinden. Frauen entwickelten während des damaligen Befreiungskriegs eine kollektive Identität, die traditionellen Geschlechternormen widersprach und sie herausforderte. Es drängt sich die Frage auf, wie im jüngsten Bürgerkrieg über Frauen berichtet wird.

 

Frauen! Steht auf von euren Knien;

Wir knieten unter der Herrschaft der Feudalherren;

Wir waren nur sprechende Werkzeuge.

Jetzt haben wir wie die Männer Gewehre

Und eines Tages werden wir frei sein.

 

Sprecherin: Dieser Liedtext drückt den doppelten Kampf der Frauen in Tigray aus, die zwischen 1982 und 1991 der Befreiungsbewegung in dem bewaffneten Kampf zogen. Der Name Marta‘s Song verweist auf den Bezug zur gleichnamigen Schule, der Martha School, die 1983 gegründet und nach der bekannten Freiheitskämpferin Kashu Martha benannt wurde.  Sie war eine der ersten TPLF Kämpferinnen mit einem höheren Rang. Acht Monate nah dem Eintritt in die TPLF starb sie.

Angela Veale: Einige erzählten, sie wurden in den Schulen rekrutiert, Schulen waren also ein Ort der Rekrutierung. Ich glaube jedenfalls, die TPLF hatte eine gewisse Anziehungskraft. Das Durchschnittsalter der Frauen, die der TPLF beitraten, lag bei 12 Jahren, und sie traten aus einer Reihe von Gründen bei. Aber keine wurde genötigt mitzumachen - im Vergleich etwa zu Norduganda, wo Frauen und Mädchen zwangsrekrutiert wurden. Für einige spielte ein politisches Element eine Rolle, sie wollten Teil der Bewegung sein. Aber für andere war es einfach der tägliche Kummer, es gab nichts zu essen, und dies war eine Möglichkeit, an Nahrung zu kommen.

Sprecherin: Zu den allerersten Mitgliedern der tigrinischen Befreiungsbewegung gehörten: Aregash Adane, Genet Hilu (genannt Woyanity), Herit Beyene (genannt Gual Keshi), Hadish, genannt Selase, Meberat Beyene, Yewbmar Assfaw, und Zufan, genannt Meskel. Die Wissenschaftlerin Beza Negewo Oda beleuchtet die Narrative ehemaliger Kämpfer*innen. Sie schreibt, die Oral History Aufnahmen von Hammond besagten, Kämpfer*innen hätten sich gegenseitig ermutigt: »Zeig niemals, dass du müde bist. Lasst euch nicht dazu bringen, weniger zu tragen« (zitiert aus Beza Negewo Oda). Ermutigungen wie diese interpretiert die Rekrutin Lemlem, als sie über ihre ersten Tage als Kämpferin sprach, so:

Beza Negewo Oda: »Sie wollten auf keinen Fall im Krieg zurückbleiben. Selbst wenn die Männer aus irgendeinem Grund zurückbleiben mussten, waren wir in jeder Schlacht dabei. Zusätzlich zu unseren eigenen Waffen halfen uns die Kämpferinnen immer mit dem schweren Geschütz«.

Sprecherin: Francesca Baldwin beschreibt die Kämpferin Laila, deren Klarname nicht bekannt ist.

Chessie Baldwin: Laila hat eine Arena betreten, die auf Männlichkeit aufgebaut ist, d. h. einen Raum, in dem Stärke, Risikobereitschaft, Ausdauer und Disziplin privilegiert sind, während Sanftheit und Häuslichkeit wegen ihrer Assoziation mit dem Weiblichen kritisiert werden, weshalb Feinde im Krieg häufig als verweichlicht dargestellt werden. Laila musste sich damit abfinden, was es bedeutet, in diesem Krieg eine Frau zu sein, und ihre Identität im Kontext des Soldatentums neu bewerten.

Temesgen Asfay: Während des Kampfes gegen das Derg-Regime waren die Frauen tatsächlich an den Kämpfen beteiligt, weil sie daran interessiert waren, ihr Land zu verteidigen und für die Befreiung ihres Volkes zu kämpfen.

Angela Veale: Als sie der TPLF angehörten, sprachen sie über feministische Fragen. Und auch, dass Frauen Männer rekrutieren könnten. Soweit ich mich aus den Interviews erinnere, sagten sie, dass sie für die Befreiung Tigrays kämpften, aber sie kämpften auch für ihre Rechte als Frauen. Es gab also definitiv einen starken Diskurs über die Rechte der Frauen, und ihre Auffassung davon war Teil dessen, wofür sie kämpften.

Sprecherin: Beza Negewo Oda schreibt in ihrer Arbeit über Nachkriegserzählungen von Kämpferinnen. Die Gleichberechtigung war scheinbar nicht von Beginn an Programm:

Beza Negewo Oda: Trotz ihrer Heldentaten zögerten die TPLF-Männer, weitere Kämpferinnen zu akzeptieren und begründeten dies mit den grundlegenden biologischen Unterschieden zwischen Männern und Frauen in Bezug auf körperliche Stärke, die monatliche Menstruation und benötigten Dingen wie Damenbinden, Seife und Unterwäsche. Daraufhin beschloss die Front, Frauen sollten in den Städten bleiben und beauftragte sie mit geheimen städtischen Operationen in den Bereichen Nachrichtendienst, Fundraising und Politisierung der tigrinischen Jugend.

Kämpferin: Ich sammelte Flugblätter von anderen Mitgliedern der Front in der Stadt und verteilte sie an Menschen, die frühmorgens in die Kirchen gehen. Andere verteilten diese Flugblätter auch auf den Marktplätzen und in anderen bevölkerten Gebieten.

Sprecherin: Die Erzählungen weisen Brüche auf, und jede Geschichte ist individuell. Doch vorstellbar ist gut, dass die steigende Zahl an Kämpfer*innen das Streben nach einer gleichberechtigten Position während des Krieges und im militärisch-zivilen Bereich die Gendernormen in der tigrinischen Gesellschaft in Bewegung setzte.

Temesgen Asfay: Dies schaffte für die Frauen Möglichkeiten, sich selbst und ihre Interessen auszudrücken, die Situation schafft Akzeptanz für Frauen, um auch Geschlechtergerechtigkeit zuzulassen. Es wurde ihnen erlaubt, für die Befreiung zu kämpfen, im Kampf Raum zu haben und auch Führungsrollen zu übernehmen, so schaffte der bewaffnete Kampf Möglichkeiten für Frauen, ihre Rechte einzufordern, sich selbst auszudrücken – und dies hat auch bei Männern eine Art Nachfrage nach Gendergerechtigkeit geschaffen, so dass auch sie die Rolle von Fraueninstitutionen und das Recht der Beteiligung der Frauen anerkannten.

»Ich kann nicht sagen, dass sie den Begriff Feminismus benutzt haben, aber sie haben definitiv das Wort Gleich­berechti­gung benutzt.«

Angela Veale: Ich kann nicht sagen, dass sie den Begriff Feminismus benutzt haben, aber sie haben definitiv das Wort Gleichberechtigung benutzt: Dass Frauen und Männer die gleichen Qualifikationen haben und ähnliche Dinge leisten. Sie sind aus den weiblichen Rollenbildern herausgetreten.

Sprecherin: Später bot die Befreiungsfront Mädchen Zuflucht, die vor unterdrückerischer sozialer Praxis wie Frühverheiratung oder vor Entführung oder gewalttätigen Partnern flohen. Das berichtet etwas Alem Desta 2008 in der ‚Ethiopien Millenium Foundation‘.

Alem Desta: Die TPLF unternahm große Anstrengungen, um in den bewaffneten Lagern und bei den Kämpfern mit den festgefahrenen Vorstellungen bezüglich der Rolle von Frauen und ihrer Unterordnung zu brechen. Kämpferinnen hatten ein starker Einfluss auf das sich wandelnde Verständnis, sogar der Begriff Kämpferin erhielt eine weitere Bedeutung.

Sprecherin: Laut Francesca Baldwin beschrieben Frauen ihren Status als Kämpferin mit Eigenschaften wie:

Francesca Baldwin: Durchsetzungsvermögen, Ehrgeiz und wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Diese werden traditionell mit Männlichkeit assoziiert, insofern wurden offensichtlich Genderstereotype aufgebrochen. Gleichzeitig betonten die ehemaligen Kämpferinnen spezifisch weibliche Belange, zum Beispiel, indem sie reine Frauengruppen für Diskussionen bildeten und nur für Frauen vorgesehene politische Vereinigungen gründeten. Sie klärten Mädchen über ihr Potenzial auf, das sie in die TPLF einbringen können.

Sprecherin: Francesca Baldwin meint, eine androgyne Geschlechtsidentität stellte demnach für weibliche Kämpferinnen keine feste und keine konstante Kategorie dar. Vielmehr erlaubte sie als fluider Grenzbereich ein Wechseln zwischen jenen Geschlechtsvorstellungen, die in der traditionellen Gesellschaft bekannt und dominant waren. Baldwin schreibt:

Francesca Baldwin: Die Identität der Kämpferinnen war ein Prozess, der sich oft zwischen erkennbaren Zuständen und Kategorien wie Mutter, Ehefrau, Soldatin oder Kommandantin abspielte, sich aber dennoch ständig im Fluss befand, in der Konstruktion und Rekonstruktion.

Sprecherin: Nach dem bewaffneten Kampf wurde eine mehrere Jahre währende Demobilisierung durchgeführt, begleitet von einer medialen Kampagne. Beza Negewo Oda schreibt:

Beza Negewo Oda: Die Existenz von Frauen als Soldat*innen bedrohte – ebenso wie die von Männern – plötzlich das Bemühen um Frieden und eine nationale Ordnung.

Temesgen Asfay: Später, nachdem das Derg Regime entmachtet worden war, wurde die Rolle der Frauen in der Verwaltung und in verschiedenen Institutionen gestärkt, und es wurde eine Geschlechter- oder Frauenpolitik formuliert. Mit der TPLN gab es Gender Mainstreaming in den Regierungsinstitutionen und Gender Studies an den Universitäten. Die Gender-Studien wurden sehr populär, eine Gender-Abteilung eröffnete an den Universitäten, und auch in den Regierungsbehörden wurden Gender-Fragen berücksichtigt und in der Verfassung verankert.

Sprecherin: Was auf struktureller Ebene an frauenpolitischen Schritten unternommen wurde, spiegelte nicht unbedingt wider, was ehemalige Kämpferinnen in der Nachkriegsgesellschaft persönlich erlebten.

Angela Veale: Ich glaube, sie haben auf individueller Ebene gespürt, dass sie fallen gelassen wurden. Nach der Wiedereingliederung hatten sie wirklich zu kämpfen. Während zivile Frauen das Wissen hatten, das man in einer zivilen Gesellschaft bekommt, wie z. B. in der informellen Wirtschaft zu arbeiten, aber auch andere Skills: sich eine schöne Frisur zu machen und hübsch auszusehen und einen Ehemann zu bekommen. Die ehemaligen Kämpferinnen, sie hatten das Gefühl, dass sie gebildeter waren als zivile Frauen, aber sie hatten nicht die Fähigkeiten, um in der informellen Wirtschaft zu überleben, und mit ihren kurzen Haaren und ihrer rauen Art zu sprechen, äußerten sie, sie hätten das Gefühl, dass sie bei den gefragten Weiblichkeitsnormen nicht mitspielen konnten. Es war schwierig, sich in diese Art von Geschlechterrollen in der zivilen Gesellschaft einzufügen.

Sprecherin: Alem Desta zufolge hat sich ihre Lage sogar noch verschlimmert:

Alem Desta: Viele von ihnen befanden sich sogar in einer schlechteren Situation als vor ihrem Eintritt in den Kampf und lebten im Elend und in den Slums. Der Grund war, dass sie einen Großteil ihrer Zeit mit der Arbeit für die Armee verbracht hatten.

Sprecherin: Einige ehemalige TPLF Kämpferinnen organisierten sich in Ye Hewanwa Rai, das heißt soviel wie Eva’s Vision. Sie wollten für ihre Probleme eine Lösung finden, taten sich aber schwer: Beza zitiert die ehemalige Kämpferin Negesti:

Kämpferin Negesti: Die meisten der demobilisierten Frauen waren während des bewaffneten Kampfes Heldinnen, und wir wurden von allen an der Front für unseren Beitrag geehrt und respektiert. Das brachte uns dazu, lieber beim Militär zu bleiben... aber jetzt haben wir alle nur noch Narben und Schmerzen aus dem Krieg, aber nichts, was für unser heutiges Leben nützlich wäre...

Sprecherin: Es scheint, dass - was in der Befreiungsfront an Genderrollen gebrochen wurde, den Frauen im zivilen Leben in der Nachkriegszeit nicht unbedingt einen Vorteil brachte.

Kämpferin Negesti: Viele Ehen wurden geschieden, was dazu führte, dass die Zahl der von Frauen geführten Haushalte dramatisch anstieg. Das machte Frauen sehr verletzlich und arm.

Temesgen Asfay: Wenn man es rechtlich und auf politischer Ebene betrachtet, gibt es Gleichberechtigung, aber in der Praxis klafft immer noch eine Lücke. Gut, in allen Sektoren gibt es Unterstützung für die Ermächtigung von Frauen, sich mehr zu engagieren, denn in den Büros und auf politischer Ebene sind weniger Frauen präsent. Also sehen wir, dass in dieser Hinsicht noch viel getan werden muss. In der Praxis braucht es mehr Unterstützung, mehr Ermächtigung, und es braucht Heilung und das Engagement von Männern und einen persönlichen Dialog.

Sprecherin: Angela Veale erinnert sich an durchaus frustrierende Erzählungen der Kämpferinnen:

Angela Veale: Es schien, als gäbe es eine Liste von Dingen, die in Bezug auf die Rechte der Frauen angesprochen wurden, aber ich glaube, sie fühlten sich als Frauen, die an der Seite der Männer gekämpft haben, bei der Wiedereingliederung kollektiv im Stich gelassen. Die Frauen, mit denen ich sprach, sagten, sie hätten wohl einen Bedarf erfüllt und nun würden sie nicht mehr gebraucht.

Sprecherin: Das hat sich spätestens mit den Kämpfen ab Mitte 2021 geändert. Videobotschaften und das tigrinische Fernsehen waren an der propagandistischen Mobilisierung beteiligt, Musik in Bild und Ton konnte plötzlich wieder auf den Mythos der Befreiungsbewegung setzten, und auf die ethnische Karte. Doch wenngleich die Ästhetik in Bild und Sprache an die Zeit der langanhaltenden und mit dem Fall des gewalttätigen Derg Regimes endenden Befreiungskampfes andockt, so hatten Frauen offensichtlich auch intrinsische Gründe, die sie dazu brachten, sich der Armee erneut anzuschließen:

Temesgen Asfay: Als die Kämpfe zunahmen und die Gewalt gegen die Menschen zunahm, gab es Operationen, die eine Vertreibung erforderten, es herrschte Ressourcenknappheit, und in dieser Situation wurden die Frauen ermutigt, ihr Land zu verteidigen und es von einer Situation zu befreien, die ihr Leben beeinträchtigte. Dies veranlasste viele Frauen, sich an den Kämpfen zu beteiligen.

Sprecherin: Der Song »Nieruru« von Elsa Weldegiorgis bedient eine Ästhetik des Heldinnentums, feiert die militärische Disziplin und den Patriotismus, bewaffnete Frauen und Männer scharen sich um die Sängerin auf dem Panzer. Und doch sind alle locker wie bei einer großen Tanzparty. Als leitende Kommandantin lässt sich die Sängerin umjubeln, die Ältesten schauen stolz auf die junge Frau in Patronenweste, das Video wurde über zweimillionenfach geklickt.

Angela Veale: Mir ist damals bei den Frauen, die ich interviewt habe, aufgefallen, dass dieses Sprechen von Gleichberechtigung von einem gelebten Geist getragen wurde, und dass feministische Prinzipien in der Bewegung verankert waren, die Befreiung der Frauen zusammen mit anderer Befreiung, das war definitiv Teil des Diskurses und das, wofür sie kämpften.

Sprecherin: Offensichtlich ist, dass die musikalischen Botschaften an diesen Spirit andocken. Der Graben zur gelebten Realität der tausenden, die ihr Leben verloren, und der hunderten, die von Gruppen marodierender Einheiten vergewaltigt wurden, die Narben für den Rest ihres Lebens davontragen, könnte größer kaum sein.

Sprecher: Schäme dich, Getachew Reda. 600.000 Menschen in Tigray sind wegen dieser Lügen gestorben. Shame on you! Precious Tigrayans died cause of lies.

Sprecherin: Das postet ein Zuschauer, als Getachew Reda in Colorado den Saal betritt, um geben von Sicherheitspersonal. Die in den USA lebende tigrinische Exilcommunity feiert hier an diesem Tag, dem 22. Juli 2023, ihre tigrinische Herkunft und den Wiederaufbau Tigrays, mit traditioneller Musik, Festreden und Zertifikaten.

»Ihr alle wollt die Wahrheit nicht lesen oder hören, weil sie weh tut.«

Sprecher: Shame on you!!! RIP my Tigrayans brothers. Remain in Peace. Wir werden euch nicht vergessen. Ja, die gesamte fehlgeleitete und unüberlegte TPLF-Führung, einschließlich Getachew, die ist für den unnötigen Tod und das Chaos verantwortlich, denn er hat die Kriegstrommel geschlagen.

Sprecherin: Posts wie diese wechseln mit einer Flut an Emojis aus roten und goldenen Herzchen, Beifall und Bizeps, während Getachew Reda auf der Feier Zertifikate verteilt. Unter großem Beifall. Er ist der Chef der aktuellen Interimsregierung in der Region Tigray. Am Ende tanzt der geladene Besuch, Jung und Alt schwenkten die rote Flagge mit dem goldenen Stern. Die Posts zum über dreistündigen Videostream verraten, wie gespalten die Gesellschaft nach dem Bürgerkrieg ist.

Sprecher: Ihr alle wollt die Wahrheit nicht lesen oder hören, weil sie weh tut. Tausende von Jugendlichen haben Beine und Gliedmaßen verloren, und hier klatschen die Sozialhilfeempfänger in die Hände, um sich zu trösten.

Shownotes

Seit März ist der südnordfunk mit Personen in Tigray in Kontakt und recherchiert im Rahmen des Projektes »Kriegerinnen und Friedensengel« zur Rolle von Frauen im bewaffneten Kampf und den Genderstereotypen, mit denen sie konfrontiert werden. Martina Backes hat für den südnordfunk recherchiert.

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