»Mehr als achtzig Prozent der Menschen sind gegen das Regime«
Interview mit Gilda Sahebi
Audiobeitrag von Eva Gutensohn
22.08.2023
Teil des Dossiers Feministische Kämpfe
»Das ist ein Schlachtfeld. Unser Schwert ist Liebe.« – So rappt Toomaj Salehi und gibt damit den Sound der Revolution im Iran wieder. Seit dem Tod von Jina Mahsa Amini, die von der Sittenpolizei verhaftet wurde, wachsen die Proteste. Die Solidarität ist groß – sie zieht sich durch alle Altersgruppen, Schichten und Geschlechter. Zusammen kämpfen die Menschen für Frauen, Leben, Freiheit. Die Journalistin und Autorin Gilda Sahebi, die mit vielen Menschen im Iran in engem Kontakt steht, beleuchtet die unterschiedlichen Aspekte der Revolte: die Rolle der Musik, die feministische Perspektive, die lange Geschichte der gewaltvollen Unterdrückung. Sie zeigt, wie die Iraner*innen der furchtbaren Brutalität des Regimes die größte Kraft entgegensetzen: Liebe. Sahebi ist davon überzeugt: »Was im Iran geschieht, ist feministische Weltgeschichte.« Der südnordfunk sprach mit der Autorin über den alltäglichen Kampf, tückische Repressalien, den Hass auf Frauen und die Chancen auf einen historischen Wandel im Iran.
Skript zum Audiobeitrag
Erstausstrahlung am 1.August 2023 im südnordfunk #111
südnordfunk: Du sagtest mal, die Basis für die Herrschaft im Iran sei der Hass auf Frauen. Heißt das umgekehrt, dass Feminismus und feministische Bewegung als ganz besonders große Gefahr gesehen werden?
Gilda Sahebi: Genau das, weil es gegen dieses Fundament geht. Das ist auch der Grund, warum das Regime so panisch versucht, die Proteste endlich zu beenden. In dem Moment, wo sich die Hälfte der Bevölkerung ihre Freiheit zurückholt, wird es sehr, sehr schwierig, dieses Zwangssystem zu erhalten. Und zum Hass auf Frauen: Ich glaube, dass die Misogynie immer Teil eines Patriarchats ist. Das haben wir in Deutschland auch gesehen, gerade, was sich gesellschaftlich im Zusammenhang mit den Vorwürfen gegen die Band Rammstein zeigt. (Anm. d. Red.: der Sänger Till Lindemann steht unter Verdacht, zahlreiche Frauen sexuell missbraucht zu haben). Das sehen wir an allen Ecken und Enden.
»Frauen sollen im Prinzip gebären und gehorchen.«
Und im Iran sehen wir, dass das in eine komplette Staatsideologie gepackt wurde, das heißt, die Konsequenzen für das Leben von Frauen sind umfassend und nicht mit den Auswirkungen des Patriarchats in demokratischen Gesellschaften zu vergleichen. Vom Grundsatz ist es aber dieselbe Ideologie: Frauen sollen im Prinzip gebären und gehorchen. Und wenn Frauen jetzt sagen, wir gehorchen nicht mehr und wir gebären auch nur, wenn wir Lust haben, dann wird das in einem Staat wie der Islamischen Republik natürlich fundamentale Veränderungen bringen – und davor hat das Regime Angst.
Ich fragte mich, wie ein Staat allein mit Hass und Unterdrückung als »Konstitutivum« überhaupt mittelfristig existieren und überleben kann.
Gilda Sahebi: Ich glaube auch nicht, dass das auf Dauer funktioniert. Die Sache im Iran ist: Auf dem Fundament wurde ein sehr smartes Haus gebaut, ein sehr kluges System, das ineinander verhakt ist, wo die Machthaber sich gegenseitig absichern und ein System der Loyalität aufgebaut haben, das sehr schwer zu durchbrechen ist, weil so viele Menschen davon profitieren und weil die Sicherheit, Reichtum und Macht davon abhängen, dass dieses System weitergeht. Ich hatte in letzter Zeit öfters das Bild mit den Schichten einer Zwiebel benutzt. Es gibt einen Kern mit einer Schicht nach der andern an Loyalität, an Abhängigkeit. Und das wird sich auch nur schichtenweise lösen können. Die Loyalitäten müssen sich lösen, erst mal von denen, die am wenigsten abhängig sind, hinein bis zum Kern. Und das wird eben nur passieren, wenn der Widerstand, der in der Bevölkerung herrscht, anhält und dazu führt, dass diese loyalen Menschen Angst bekommen.
Bis zum Kern der Macht
Könntest du kurz umreißen, wie die Machtverhältnisse und Machtstrukturen im Iran aussehen? Wie sind die Regierung, die Mullahs und die Revolutionsgarden miteinander verquickt?
Gilda Sahebi: Wir haben ein politisches System und ein wirtschaftliches. Politisch haben wir den Revolutionsführer. Die Revolutionsgarden sind dazu da, die Revolution von 1979 zu schützen. Die haben keine Loyalität mit den Menschen, sondern nur der Revolution und der Macht gegenüber - es ist ihnen egal, wie sie die Menschen behandeln und was sie mit ihnen tun. Die Rekrutierung und die Ausbildung dieser Revolutionsgardisten basieren fast ausschließlich auf ideologischen Faktoren. Die Gardisten bekommen zudem ein militärisches Training. Doch mehr als die Hälfte des Rekrutierungsprozesses besteht aus Ideologie.
»Ich glaube, dass die Misogynie immer Teil eines Patriarchats ist.«
Dann haben wir Strukturen wie den Wächterrat, den Expertenrat, die daran beteiligt sind, den Revolutionsführer, den nächsten Kandidaten für die ‚Präsidentschaftswahl‘ und für die ‚Parlamentswahl‘ zu ernennen. Dann haben wir Institutionen wie das Parlament. Sie alle haben keine Macht, aber sie sind da, und es hat leider jahrzehntelang sehr gut funktioniert, den Iran als quasi demokratisches System darzustellen. Das ist ihnen sehr gut gelungen, so dass der Islamische Staat auch von außen stabilisiert wurde. Dadurch hält er sich so lange.
Die gesamte Wirtschaft liegt in den Händen dieser Oberen: Revolutionsführer, Revolutionsgarden. Und das heißt, wer in diesem Land wirklich reich werden will, muss in irgendeiner Beziehung zum Staat stehen. Ohne funktioniert es nicht. Deswegen besteht der Kern der Macht aus Revolutionsführer, Revolutionsgarden und den Klerikern - und die haben ein System der Abhängigkeiten schaffen können, weil sie sehr, sehr reich sind. Der Iran ist ein exorbitant reicher Staat. Nicht die Menschen, die sind sehr arm. Die Mittelschicht erodiert seit Jahren immer weiter, die Währung verfällt, die Inflation ist enorm. Aber die Machthabenden sind sehr reich, und mit diesem Reichtum kaufen sie sich die Abhängigkeit der anderen.
Und darin unterscheidet sich der Iran dann z.B. von Regimes wie Russland? Putin ist also wesentlich abhängiger von den Oligarchen, als es im Iran der Fall ist und das macht sie umso Mächtiger?
Gilda Sahebi: Die Machthaber sind auch abhängig davon, dass sie von einem großen Kreis an Menschen gestützt werden - deswegen haben sie sich dieses Netz aufgebaut. Wenn jetzt alle Leute, die vom Regime abhängig sind, sagen würden, wir machen nicht mehr mit, dann wäre es vorbei. Das ist auch die Chance, die zum Sturz führen kann.
Liebe ist stärker als Hass
Du hast im März dein Buch herausgebracht mit dem Titel »Unser Schwert ist Liebe«. Schöner Titel – irgendwie auch romantisch – und natürlich ist Liebe stärker als Hass – im metaphysischen Sinne definitiv. Aber auch realpolitisch? Kann Liebe mehr bewirken als Gewalt?
Gilda Sahebi: Davon bin ich überzeugt, ja. Im Iran sieht man das sehr gut. Vor September 2022 hätte niemand im Iran oder in der gesamten Region geglaubt, dass eine Bevölkerung, die komplett unbewaffnet ist, das Regime zum Wackeln bringen könnte. Es gibt keine Waffen in den Händen der Menschen. David gegen Goliath. Der Staat hat alle Waffen, die man sich vorstellen kann. Wohl kaum jemand hätte gedacht, dass ein paar Leute, die auf die Straßen gehen und Frauen, die das Kopftuch abnehmen und Kurdinnen, die Jin, Jiyan, Azadî (Frau, Leben, Freiheit) rufen, dieses Regime gefährden können. Aber das tun sie. Und das haben sie durch ihre Verbundenheit erreicht. Dadurch, dass die Männer mit den Frauen und LGBTIQ-Personen gemeinsam demonstriert haben. Dadurch, dass die Mehrheitsgesellschaft sich solidarisiert hat mit der Minderheitsgesellschaft der Kurdinnen oder der Arbeitenden. Das hat eine große Macht entfaltet. Deswegen bin ich absolut davon überzeugt, dass diese positive Kraft auch politisch stärker ist. Nicht unbedingt sofort, aber auf lange Sicht.
Das Regime arbeitet entsprechend mit Angst. Es muss Angst erzeugen, weil es jetzt merkt, dass es anfängt zu wackeln. Würdest du sagen, dass man den kausalen Zusammenhang zwischen dem politischen Einfluss der Bevölkerung und der Gewaltausübung des Staates auch umgekehrt ablesen kann?
»Viele Frauen sagen, ich trage trotzdem kein Kopftuch.«
Gilda Sahebi: Ich glaube nicht immer eins zu eins. Aber man sieht mit dieser Sittenpolizei ganz gut, dass das Regime seit Monaten versucht, bei Frauen und Mädchen so viel Angst zu erzeugen, dass diese sagen: Okay, wir tragen das Kopftuch wieder. Das funktioniert seit Monaten nur über Angst. Sie haben gedroht, wir lassen eure Bankkonten sperren, und haben das gemacht. Sie haben Geschäfte, Restaurants, Cafés schließen lassen, die Frauen ohne Kopftuch bedient haben. Sie haben Angst verbreitet. Aber die Frauen haben weitergemacht. Und auch jetzt geht es darum, Angst zu verbreiten, indem eben diese Erinnerungen an die Sittenpolizei wachgerufen werden, weil die wahnsinnig gewaltvoll sind. Aber auch das funktioniert nicht. Viele Frauen sagen, ich trage trotzdem kein Kopftuch. Ich glaube, dass das Regime genau deswegen verlieren wird, weil es nichts Anderes hat als Angst und Schrecken zu verbreiten. Deswegen sind mehr als achtzig Prozent der Menschen gegen das Regime. Es sind eigentlich fast nur noch Menschen für das Regime, die irgendwie davon profitieren.
Notwehr
Im Mittelpunkt der Demonstration stehen ja insbesondere Frauen. Es geht vor allem um Frauenrechte, um Emanzipation. Männer sind natürlich von der Gewalt des Regimes genauso betroffen, von Folter und Todesstrafe, doch was macht Frauen zusätzlich verletzlich, abgesehen von dem Hass auf sie?
Gilda Sahebi: Letztendlich natürlich die untergeordnete Stellung, die sie im Iran seit 1979 haben. Sie haben weniger Rechte. Es gab diesen bekannten Fall von Reyhaneh Jabbari, eine Frau, die vergewaltigt wurde und sich gewehrt hat. Sie erstach den Täter in Notwehr – und wurde dafür hingerichtet. In dem Moment, wo du als Frau nicht mehr unterwürfig bist, verlierst du alle deine Rechte. Und die Chance liegt jetzt darin, dass viele Frauen es gemeinsam angehen und nicht eine einzeln.
Auch Gewalt gegen Kinder ist ein besonderes Terrorinstrument.
Gilda Sahebi: Ja, dazu hat Amnesty International im März einen Bericht herausgebracht, der nachzeichnet, dass Kinder systematisch in Haftanstalten gefoltert werden und sexualisierte Gewalt erfahren. Das ist systematisch, das sind keine Ausnahmen, sondern das passiert ganz gezielt.
Shownotes
- Gilda Sahebi ist deutsch-iranische Journalistin.
- Ihr jüngstes Buch »Unser Schwert ist Liebe« hat Clara Taxis für die iz3w rezensiert.