»Nichts gewonnen und nicht alles verloren«
Interview mit Claudia Vera zum zweiten Verfassungsplebiszit in Chile
Mit 55,76 Prozent Nein-Stimmen lehnte am 17. Dezember eine Mehrheit in Chile einen Entwurf einer neuen Verfassung ab. Vorgelegt hatte ihn der von den rechten Parteien dominierte Verfassungsrat. Umgekehrt war 15 Monate zuvor ein links-progressiver Verfassungsentwurf abgelehnt worden (In schlechter Verfassung). Claudia Vera von der Fundación ANIDE in Santiagobeantwortet der iz3w dazu einige Fragen.
iz3w: Die zurückliegenden vier Jahre seit dem Estallido Social, der Rebellion gegen das neoliberale Gesellschaftsmodell und gegen die Hinterlassenschaften der autoritären Pinochet-Verfassung von 1980, glichen einem Wechselbad der Gefühle. Chile wirkte wie ständig unter Strom. Vor dem zurückliegenden Verfassungsreferendum vom 17. Dezember irritierte jetzt aber ein scheinbares Desinteresse an dem, worüber entschieden wurde. Wie lässt sich das erklären?
Claudia Vera:Diese Achterbahnfahrt der Gefühle begann mit den brutalen Auseinandersetzungen während der Massenproteste 2019/2020 und der Polizeirepression, die 34 Menschen das Leben kosteten. Dann folgte der auf der Straße erkämpfte Volksentscheid vom 25. Oktober 2020 mit einer euphorisierenden Zustimmung von fast 80 Prozent: Ein aus der Zivilgesellschaft gewähltes Verfassungskonvent sollte einen Entwurf für ein neues Grundgesetz erarbeiten. Dies zog Monate des intensiven Engagements an der gesellschaftlichen Basis nach sich, um diesen Verfassungsprozess mitzugestalten: Da war ganz viel Aufbruchsstimmung zu spüren! Aber dann kam der brutale Absturz vom 4. September 2022, als eine deutliche Mehrheit den Entwurf ablehnte. Dabei wäre es die demokratischste Verfassung gewesen, die sich ein lat