Ein Graffiti an einer Hauswand, das eine junge afrikanische Frau darstellt, sowie die entwicklungspolitischen Schlagwörter "Armut", Gleichheit" und "Peace".
»Weltbaustelle« in Remscheid | Caritas

Entwicklungs­poli­tisches Enga­ge­ment: »Erreichen wir eigentlich etwas?«

Interview mit Simon Ramirez-Voltaire über Eine-Welt-Arbeit

Dieses Jahr feiert die Arbeitsgemeinschaft der Eine Welt-Landesnetzwerke in Deutschland (agl) ihr zwanzigjähriges Bestehen. Die agl ist der bundesweite Zusammenschluss der 16 Eine Welt-Landesnetzwerke und vernetzt rund 10.000 entwicklungspolitische Initiativen, Gruppen und Vereine. Damit ist sie eine der bedeutendsten entwicklungspolitischen Akteurinnen in Deutschland. Wir nahmen den Geburtstag zum Anlass, um mit agl-Geschäftsführer Simon Ramirez-Voltaire über Erfolge und Misserfolge von Eine-Welt-Arbeit zu sprechen.

Das Interview führte Christian Stock

20.04.2019
Veröffentlicht im iz3w-Heft 375

iz3w: Welchen politischen Ansatz verfolgen die Arbeitsgemeinschaftund die Eine Welt-Landesnetzwerke?

Simon Ramirez-Voltaire*: Wir setzen uns mit Bildungsarbeit und Projekten für Bewusstseinsveränderungen in Deutschland ein – und zwar mit einer globalen, kritischen Perspektive. Das heißt, wir fragen immer danach, was wir hier tun können, damit sich die globalen Lebensverhältnisse in Richtung Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit entwickeln. Wir thematisieren die Zusammenhänge etwa von Klimawandel, unfairen Produktionsbedingungen und Ungleichheit. Momentan engagieren wir uns in der bundesweiten Kampagne »Initiative Lieferkettengesetz«, an der mehr als 60 Organisationen aus allen gesellschaftlichen Bereichen beteiligt sind. Es gibt auch viele internationale Partnerschaften in unserem Netzwerk.

Eine Besonderheit der agl als Verband ist, dass sie von unten nach oben aufgebaut ist. Den großen Teil der inhaltlichen Arbeit machen die Landesnetzwerke und ihre Mitglieder in den Bundesländern. Es ist unglaublich, was es dort an Engagement gibt. Ein tolles Projekt sind die »Weltbaustellen« vom Eine Welt Netz NRW. Da werden in den Städten Wandbilder zum Thema Nachhaltigkeit gestaltet und drumherum gibt es Aktionen und Auseinandersetzung mit Bürger*innen. Ein anderes ist der »Glückshafen« – eine faire Losbude, die das Eine Welt Netz Bayern zusammen mit der AWO (Arbeiterwohlfahrt) Nürnberg entwickelt hat und die schon mehrfach bei Volksfesten eingesetzt wurde. Hier werden Leute, die mit Eine Welt-Arbeit nichts am Hut haben, direkt bei ihrem Fest erreicht – zu gewinnen gibt es fair gehandelte Artikel. Ein anderes Beispiel ist die konsequente Arbeit des Berliner Entwicklungspolitischen Ratschlags zur Dekolonisierung Berlins, vom antirassistischen Training bis zur Straßenumbenennung.

Lobbyarbeit für entwicklungspolitische Bildung

Welchen konkreten Erfolg konntet ihr bei eurem Lobbying verzeichnen?

Dass wir das Eine Welt-Promotor*innenprogramm aufgebaut haben und es von Bund und Ländern gefördert wird. Seit den 1990er Jahren sagen einige Menschen, wir brauchen in der Eine Welt-Arbeit neben kleinteiligen Projektförderungen auch ein strukturiertes zivilgesellschaftliches Programm mit Personalstellen für Multiplikator*innen, die in ganz Deutschland die Arbeit in die Fläche tragen und so noch mehr Wirkungen entfalten. Es sind viele kleinere Vereine, die nun diese Förderung erhalten. Derzeit arbeiten mehr als 150 Promotor*innen in dem Programm. Sicher, es muss noch weiter ausgebaut werden, sodass wir wirklich eine Flächendeckung erreichen. Aber es ist gut, dass es das Programm gibt.

Die agl setzt sich aber auch für eine allgemeine Erhöhung der Mittel in diesem Bereich ein – im formalen Haushaltssprech nennt sich das »Förderung entwicklungspolitischer Bildung«. Auch hier wurde erreicht, dass heute deutlich mehr Mittel für zivilgesellschaftliche Projekte zur Verfügung stehen als noch vor zehn Jahren. In dieser Zeit wurde der Topf von 12 Millionen Euro auf heute 45 Millionen pro Jahr angehoben. Momentan setzen wir uns wieder für eine Erhöhung ein. Uns schwebt eine Art Bildungsoffensive mit lokalen zivilgesellschaftlichen Protagonist*innen vor.

Wie funktioniert euer entwicklungspolitisches Lobbying?

Wir setzen uns mit Projekten für unsere Ziele ein, aber auch mit vielen Politiker*innen-Gesprächen, Briefen oder Veranstaltungen auf allen Ebenen – vom Kiez übers Bundesland bis zur Bundesebene. Es gibt Runde Tische, Initiativen für Globales Lernen in Schulen oder Messen und Konferenzen – die Bandbreite ist riesig. Insofern ist der Begriff »Lobbyarbeit« nicht ganz richtig, denn wir setzen uns öffentlich und transparent für unsere Ziele ein. Wenn, dann machen wir »Lobbyarbeit« für global gerechte und nachhaltige Entwicklung. Wichtig ist die Mitwirkung der Landesnetzwerke bei entwicklungspolitischen Leitlinien in Bundesländern, damit sich auch die Länder in Sachen Entwicklungszusammenarbeit stärker engagieren.

Welche Misserfolge musstet ihr einstecken?

Klar, es gibt Enttäuschungen. Beispielsweise setzen sich NGOs seit Jahren für verbindliche Regeln für die Wirtschaft zugunsten fairer Produktion ein, und in der Politik wird dann häufig nur auf die Freiwilligkeit der Unternehmen gesetzt. Das geht nicht weit genug und deshalb fordern wir jetzt einen gesetzlichen Rahmen für verpflichtende Regeln. Auch ist die Überzeugungsarbeit für die Bedeutung der entwicklungspolitischen Bildung in Zeiten von Klimawandel, offenem Rassismus und unfairen Löhnen ganz schön zäh. Das Potenzial von entwicklungspolitischer Bildungsarbeit wird noch nicht genug erkannt. Jahr für Jahr gibt es viele Workshops und Diskussionen zur Antirassismusarbeit, und dann erstarkt ein Rassismus, der bis in die sogenannte Mitte der Gesellschaft reicht. Da fragen wir uns schon: Erreichen wir eigentlich etwas? Wen erreichen wir? Und vor allem: Müssen wir diese Arbeit verstärken?

Die agl ist ähnlich wie viele andere NGOs und Verbände stark auf zivilgesellschaftliche Teilhabe orientiert. Dem liegt ein liberales Politikverständnis zugrunde, das kooperativ statt konfrontativ ausgerichtet ist, das von der Kraft des besseren Arguments ausgeht und das – wie Kritiker*innen monieren – nur vorgaukelt, im Geflecht starker herrschaftsförmiger Interessen von Staat und Kapital eine relevante Rolle zu spielen. Wie seht ihr das?

Gute Argumente reichen natürlich nicht aus. In der Zivilgesellschaft und insbesondere in den agl-Netzwerken entsteht aber kritisches Wissen, das durch die vielen Akteur*innen auch zirkuliert. Es sind also Räume der kritischen Debatte, des Lernens und des Meinungsaustausches. Wenn solches Wissen in die Politik eingebracht wird, kann dadurch öffentlicher Druck entstehen, der etwas bewegt. Momentan können wir das gut in der Klimaschutzdebatte sehen, die Fridays for Future haben viel bewegt. Zivilgesellschaft ist so immer auch ein Korrektiv zur Politik.

»Viele Aktive berichten, dass sie vor Ort mit rechten Positionen konfrontiert sind«

Wir brauchen Räume, die plural und partizipativ sind, denn wir wollen eine Gesellschaft, die so gestaltet ist. Und wir brauchen Organisationen, die diese Räume bieten – mit Workshops, Konferenzen, Projekten, Publikationen oder in sozialen Netzwerken. Gleichzeit beobachten wir einen globalen Trend, dass zivilgesellschaftliche Räume eingeschränkt werden. Man denke nur an Brasilien, wo die Regierung Bolsonaro allen Protest zu unterbinden versucht. In den NGOs wird das unter dem Stichwort »Shrinking Spaces« diskutiert. Auch hierbei sind Organisationen wichtig, die dem etwas entgegensetzen.

Gab es Situationen, in denen ihr euch wie ein zivilgesellschaftliches Feigenblatt vorgekommen seid? Wo eigentlich im Machtzentrum von Wirtschaft und Politik alles längst entschieden war, aber der Anschein der Partizipation gewahrt werden sollte?

Es gehört zur Standarderfahrung von NGOs, dass man bei Kooperationen sehr achtsam sein muss. Es kommt schon vor, dass andere Akteur*innen, auch staatliche, sie bisweilen funktionalisieren möchten. Dass man sie dabeihaben will, um Kontakte und Wissen der Zivilgesellschaft zu nutzen oder deren Beteiligung vorzuzeigen. Unter uns überlegen wir immer, wie weit können wir gehen, wo machen wir mit – und wo nicht. Als vor einigen Jahren der damalige BMZ-Minister Dirk Niebel einen »Deutschen Entwicklungstag« in 16 Städten organisierte, verweigerten sich zahlreiche NGOs und übten massiv Kritik. Viele haben das als eine Show betrachtet, die viel kostet, wenig bringt und NGOs für PR-Zwecke einsetzt.

Wichtig für uns ist die Frage der Augenhöhe. NGOs machen häufiger die Erfahrung, dass sie für eine Kooperation angefragt werden, wenn Konzepte und Programm bereits feststehen. Oder dass eine gemeinsame Aktivität im Erscheinungsbild eines staatlichen Akteurs dargestellt werden soll – dann hinterfragen wir schon, welche Rolle wir darin spielen sollen und drängen auf partnerschaftliche Darstellung. Es ist immer von Fall zu Fall zu entscheiden, ob eine Beteiligung etwas für unsere Ziele bringt. Damit leben wir und es gehört zu unserem Engagement dazu, die Augenhöhe bei Kooperationen auszuhandeln.

Es gibt aber auch einfach gute staatliche Förderung für gute zivilgesellschaftliche Arbeit und gute Kooperationen. Ich finde es wichtig, das anzuerkennen und nicht nur die problematischen Seiten zu sehen. Das Promotor*innenprogramm zum Beispiel arbeitet ziemlich frei.

In Deutschland ist ein Rechtsruck zu spüren, etwa beim Umgang mit Geflüchteten. Wirkt sich das auf euer Standing in der Politik aus? Hat beispielsweise die AfD in Länderparlamenten oder im Bundestag versucht, Haushaltsmittel für Eine Welt-Arbeit zu streichen?

Viele Aktive berichten, dass sie vor Ort mit rechten Positionen konfrontiert sind. Es ist offenbar schwer, Menschen, die in ihrer eigenen Biografie gesellschaftliche Solidarität vermissen, dazu anzuregen, eine globale Perspektive einzunehmen, mit anderen Menschen solidarisch zu sein oder gar Geld dafür auszugeben. Öfter geht das schon richtig ins Aggressive und führt zu Gewalt gegen Eine Welt-Engagierte. Ein Verein aus unserem Netzwerk ist seit Mai schon zweimal angegriffen worden, mit Pflastersteinen und Bierflaschen.

Aber auch politisch ist das inzwischen deutlich spürbar, derzeit vor allem in Form von parlamentarischen Anfragen der AfD zur Entwicklungszusammenarbeit. Diese Kräfte haben die EZ als Thema entdeckt und versuchen, die globale Solidarität in Frage zu stellen.

Der Begriff »Eine Welt« wurde, als er in den 1990er Jahren aufkam, vielfach kritisiert. Er suggeriere in versöhnlerischer Weise die Einheit einer Welt, die vielfach gespalten sei, in Nord und Süd, arm und reich oder Schwarz und Weiß. Warum haltet ihr an diesem Begriff fest?

Ich sehe den Begriff nicht als Zustandsbeschreibung, sondern als Ansatz, der die eine gemeinsame Welt, die wir alle teilen, in den Blick nimmt. Immer wieder fragen wir uns, ob er zeitgemäß ist. Ob in der Eine Welt-Arbeit oder überhaupt in der Gesellschaft – man muss immer auf beide Kräfte Antworten geben, auf das Gemeinsame und das Diverse. Jeder Mensch ist Teil eines Größeren, aber auch in vielen Facetten divers. Gesellschaftspolitisch ist das für mich eine der großen Herausforderungen, gerade in Deutschland, wo die Vorstellung von homogenen Gruppen total »normal« ist und die Vorstellung von einem diversen Deutschland nicht allen leicht fällt. Der aktuelle Nationalchauvinismus zeigt, wie viele für ihn empfänglich sind und wie schnell er in Aggressivität mündet.

Die Losbude »Glückshafen« als Projekt der Eine-Welt-Arbeit auf einem Volksfest
Die Losbude »Glückshafen« als Projekt der Eine-Welt-Arbeit auf einem Fest der AWO Nürnberg | Foto: AWO

Interessant sind bei uns gerade die Debatten, wie Diversität gestärkt werden kann – in den Strukturen, aber auch im Diskurs und in den Konzepten. In unserem Fachforum Migration, Diaspora und Entwicklung werden gerade spannende Impulse aus den Neuen Deutschen Organisationen zur »Gesellschaft der Vielen« diskutiert mit der Frage, ob wir sie für Eine Welt-Arbeit fruchtbar machen können. Vielleicht reden wir ja bald schon von der »Einen Welt der Vielen«.

Gab es nicht schon einen besseren Begriff als den der »Einen Welt«, nämlich den der »Dritten Welt«? Er hatte ursprünglich eine herrschaftskritische Bedeutung, nimmt auf den revolutionär aufbegehrenden Dritten Stand Bezug und wurde nicht umsonst von einem antikolonialen Theoretiker wie Frantz Fanon popularisiert. Ist es nicht ein Rückschritt, solche emanzipatorischen Begriffe fallen zu lassen?

Ist der Begriff wirklich emanzipativ? Er klassifiziert und hierarchisiert die Welten doch – und wird deshalb zu Recht stark kritisiert. Auch die damit verbundene Vorstellung, im Norden wisse man, wie sich der Süden zu entwickeln habe. Da ist doch der Begriff der Einen Welt viel besser, auch wenn wir den damit verbundenen Anspruch nicht einlösen können. Fanon hat aber wichtige Texte geschrieben. Vor allem seine psychologischen Studien zum Kolonialverhältnis sind wichtige Grundlagen, etwa für die Analyse von Rassismus.

Der Begriff »Entwicklung« ist in euren Selbstdarstellungen nicht der prominenteste, aber er taucht immer wieder auf. Hat die Post-Development-Debatte mit ihrer Fundamentalkritik an der Entwicklungsidee bei der agl keine Spuren hinterlassen? Und welche Reaktionen kommen aus der PoC-/Critical Whiteness-Community?

Sie hat Spuren hinterlassen. Die Idee der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit in Deutschland – und auch des Eine Welt-Promotor*innenprogramms – hat ja gerade den Kerngedanken, dass nicht andere Länder, etwa des Südens, zu Objekten von Entwicklungsexpert*innen des Nordens werden. Sondern es geht um gesellschaftliche Veränderungen, die im Norden nötig sind, um globale nachhaltige Entwicklung zu fördern.

»Interessant sind bei uns gerade die Debatten, wie Diversität gestärkt werden kann«

Sicher sind dazu noch viele Diskussionen auch in unseren Netzwerken nötig. Die Eine Welt-Arbeit hat aber zur Kritik des Entwicklungsbegriffs viel beigetragen und diese von Anfang an geprägt. Die agl hatte zum Beispiel ein Projekt namens »Entwicklungsland D«.

Kritische Töne aus der PoC- und Critical Whiteness-Community bekommen wir natürlich zu hören. Die Diskussion um Diversität gibt es auch in unseren Netzwerken, etwa hinsichtlich unserer Visionen, Sprache, Arbeitsweise und Strukturen. Es gibt da noch viel zu tun. Wichtig ist eine fortlaufende Debatte darüber, was wir unter Diversität verstehen, und einen selbstkritischen Blick auf weiße Strukturen zu bekommen. Dazu gehört, die Kritik von PoC und Critical-Whiteness-Akteure*innen auszuhalten und aufzunehmen. Ich möchte nicht verhehlen, dass das nicht immer einfach ist. In Strukturen gibt es immer auch Widerstände gegen Veränderung. Es ist überhaupt nicht einfach, kritisch und gemeinsam über das eigene Weißsein zu reflektieren. Und das, obwohl Antirassismus vom Grundsatz her Konsens ist.

Gibt es Themen und Ansätze, über die ihr euch innerhalb der agl streitet?

In einem pluralen Netzwerk ist es normal, dass nicht alle die gleichen Schwerpunkte und Standpunkte haben. Manche setzen sich primär für fairen Konsum und faire Produktion, manche für Antirassismus oder kritische Globalgeschichte ein, andere sind stark im Globalen Lernen. Die Landesnetzwerke treffen sich drei Mal im Jahr, um sich auszutauschen und Projekte abzustimmen, dabei wird immer wieder um gemeinsame Ansätze gerungen. Aber die Landesnetzwerke legen großen Wert auf ihr eigenes Profil. Die agl ist kein einheitlicher Zusammenschluss, sondern von unten nach oben aufgebaut. Der Weg zu mehr Diversität bedarf aber noch vieler Diskussionen und Schritte.

Das Interview führte Christian Stock (iz3w) per Email.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 375 Heft bestellen
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