Dein Bauch gehört mir
Der patriarchale Kern des Autoritarismus
In den USA findet ein massiver Angriff auf Frauen- und queere Rechte statt. Das ist kein Minderheitenproblem, sondern der logische Anfang eines autoritären Umbaus der Gesellschaft.
Es war ein politisches Erdbeben, als der Oberste Gerichtshof der USA am 24. Juni 2022 Roe vs. Wade aufhob. Das Grundsatzurteil von 1973 garantierte bis dato das Recht auf Abtreibung. Für viele war diese Entscheidung ein Schock, obwohl die Entwicklung absehbar war. Reproduktive Rechte sind seit den 1980er-Jahren ein zentrales Agitationsthema der Rechten in den USA. Schon damals begann die religiöse Rechte mit dem Aufbau eines Netzwerks an Jurist*innen. Denn ihre Positionen stellen eine Minderheitenmeinung dar, auch in Bezug auf Abtreibung. Wahlen waren damit nicht zu gewinnen, weshalb die ultrakonservativen Vorstellungen von Gesellschaft über gerichtliche Entscheidungen durchgesetzt werden sollten.
Über 40 Jahre nach der Gründung der Federalist Society, der wichtigsten juristischen Organisation der Rechten, muss man dieser Strategie Erfolg attestieren. Die Republikaner kämpften mit allen Mitteln um die Dominanz im Obersten Gerichtshof – dessen Richter*innen auf Lebenszeit ernannt werden. Der ehemalige Präsident Donald Trump besetzte gleich drei Posten neu – mit Beratung der Federalist Society. Die Mehrheit der aktuellen Richter*innen am Obersten Gerichtshof waren oder sind Mitglieder der Federalist Society.
Fürsorgliche Belagerung
Diese Entwicklungen wurden zu lange nicht ernst genommen. Erkämpfte Fortschritte, besonders im Bereich Frauen- und queerer Rechte, schienen unumkehrbar. Das Ende von Roe zeigt, dass dem nicht so ist. Und der Backlash geht weiter. In konservativ regierten Staaten sind Gesetze in Kraft getreten, die Abtreibung verbieten oder extrem erschweren. Mehrere Staaten haben Regelungen erlassen, die die Beihilfe zu Abtreibung kriminalisieren. Mit Idaho versucht der erste Staat, den Zugang zu Abtreibung in anderen Staaten zu unterbinden: Reisen von Minderjährigen zum Zwecke einer Abtreibung sind strafbar, wenn diese ohne Zustimmung der Eltern stattfinden.
Es ist kein Zufall, dass es zuerst Frauen und Queers trifft
Anfang April setzte ein Gericht die Zulassung des Medikaments Mifepriston aus, das für den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch verwendet wird. Mittlerweile ist es mit Einschränkungen wieder zugelassen, darf aber etwa nicht per Post verschickt werden. Für viele ungewollt Schwangere in abgelegenen Regionen oder Staaten, die restriktive Gesetze erlassen hatten, war die Pille per Post der letzte Zugang zu einem sicheren Schwangerschaftsabbruch. Das sind nur Beispiele dafür, wie Abtreibungen in den USA zunehmend kriminalisiert werden. In einigen Staaten gibt es Überlegungen, einen Abbruch als Mord zu behandeln und zu bestrafen.
Die Journalistin Annika Brockschmidt, Kennerin der religiösen Rechten, kommentiert die neuesten Entwicklungen auf Twitter: «Das Ende von Roe war erst der Anfang. Die Abschaffung von Abtreibungs- und Fehlgeburtsmedikation steht noch auf der christlich-nationalistischen Wunschliste genau wie Verhütungsmittel und künstliche Befruchtung”.
Interview mit Ariel Goldstein über Evangelikale in Lateinamerika
Zeitgleich findet in den USA ein massiver Angriff auf die Rechte von queeren und trans Personen statt. In vielen Staaten wird Sexualaufklärung zu queeren Themen kriminalisiert und trans Personen sollen ihren Geschlechtseintrag nicht mehr ändern können. Sogenannte Gender-Affirming Care (medizinische Maßnahmen, die die Geschlechtsidentität einer Person unterstützen und die nicht nur von trans Personen in Anspruch genommen werden) wird aktuell in 15 Bundesstaaten massiv eingeschränkt. In Missouri ist sie verboten, nur, wenn nach langer Therapie andere ‚Vorerkrankungen‘ wie Depression oder Autismus ausgeschlossen werden können oder behandelt wurden, besteht eine Chance auf Zugang. Das ist perfide, denn Transgeschlechtlichkeit wird dadurch zur psychischen Erkrankung und es brechen sich ableistische Vorstellung Bahn: Autismus etwa ist keine Krankheit und kann daher weder behandelt noch geheilt werden. Der drastische Gesetzentwurf in Bezug auf Jugendliche wurde gerade in Florida beschlossen: Dort kann der Staat nun Eltern das Sorgerecht entziehen, wenn sie ihr Kind bei einer Transition unterstützen.
Dann ist der Mann ein Mann
An den Entwicklungen in den USA zeigt sich exemplarisch der autoritäre Turn der letzten Jahre. Dabei ist es kein Zufall, dass es zuerst Frauen und Queers trifft. Vielmehr ist dies ein wiederkehrendes Muster in autoritären Gesellschaften. Von China bis Iran gehen sie einher mit konservativen Geschlechter- und Familienbildern. Häufig durchziehen diese dabei sämtliche Politikfelder. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban hat aus antifeministischen Vorstellungen ein ganzes autoritäres Regierungsprogramm gebaut: ‚Gender‘ wurde zum zentralen Aspekt eines Bedrohungsszenarios, gegenüber dem Orban Ungarns ‚ursprüngliche‘ und ‚christliche‘ Werte gegen ‚Globalismus‘ verteidigt. Der russische Präsident Wladimir Putin wiederum verband in einer Rede anlässlich der Annexion ukrainischer Gebiete am 30. September 2022 die Emanzipation von queeren Menschen mit der kriegerischen Außenpolitik Russlands: Er bezeichnete geschlechtsangleichende Eingriffe als Perversionen, gegen die sich Russland und sein Volk zur Wehr setzen müssten und beschwor einen apokalyptischen Endkampf des ‚heiligen‘ Russlands gegen die westlichen Eliten.
Die autoritäre Persönlichkeit will die Geschlechtsidentität ‚rein‘ halten
Diese Fixierung ist nicht willkürlich. Autoritäres Denken ist immer patriarchal. Im Autoritarismus ist der Aspekt der Freiwilligkeit zentral. Der Zwang, sich unterzuordnen wird nicht als solcher empfunden, da er durch eine emotionale Beziehung ergänzt wird. Die Autorität, der man sich unterordnet, wird bewundert, gleichzeitig übt man selbst gerne Macht aus. Autoritarismus vereinfacht Gesellschaft und ist deshalb attraktiv. Die Vereinfachung funktioniert durch stark emotional besetzte Unter- und Überordnungsverhältnisse, die die Weltsicht autoritärer Persönlichkeiten prägen. Ein binäres Geschlechterverhältnis, in dem es eine klare Hierarchie zwischen Mann und Frau gibt, ist dabei das autoritäre Wunschverhältnis par excellence. Zudem ist es jene Hierarchie, die uns allen am nächsten ist – sein Geschlecht trägt man immer und überall mit sich herum, ob man möchte oder nicht.
Bereits in den Studien zum Autoritären Charakter, die Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford in den 1940er-Jahren durchführten, spielten Sexualität und Geschlechterverhältnisse in der Erklärung des autoritären Charakters eine zentrale Rolle. Frenkel-Brunswik betonte die für den autoritären Charakter typische Vorstellung von idealer Männlichkeit und Weiblichkeit sowie die zwanghafte Verleugnung sämtlicher davon abweichender Ausprägungen von Geschlecht. Autoritäre Persönlichkeiten verleugnen jene Züge ihrer Identität, die konventionell dem anderen Geschlecht zugeschrieben werden. Sie wollen Geschlechtsidentität ‚rein‘ halten. Vor allem bei männlichen Studienteilnehmern zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen autoritären Charakterstrukturen und heterosexistischen Männlichkeitsidealen.
Das autoritär-binäre Geschlechterverhältnis
Auch wenn die Unterordnung der autoritären Persönlichkeit freiwillig ist, so ist sie mit Belastungen verbunden. Die Macht über andere wiegt einen Teil dieser Kosten auf: Männer wurden für ihre Unterwerfung lange durch die Macht über Frauen ‚entschädigt‘, in einer Hierarchie mit klarer Rollenaufteilung und Regeln. Die Emanzipationsbewegungen der letzten Jahrzehnte haben dieses Machtgefälle vermindert. Die Existenz von queeren und besonders von trans Menschen stellt die autoritären Kategorien des binären Geschlechterverhältnisses noch radikaler in Frage. Geschlecht und Patriarchat waren schon immer Gewaltverhältnisse, die auch jene trafen, die davon auf die eine oder andere Art profitierten. Autoritäre Persönlichkeiten haben sich aus ihrer Sicht an die Regeln dieser Gewaltverhältnisse gehalten. In der Aggression gegen Frauen und Queers bricht sich nun der Hass auf jene Bahn, die diese Zumutung verweigern und angeblich ‚machen, was sie wollen‘.
Die Vorstellung einer ‚reinen‘ Geschlechtsidentität ist eine Chimäre: Auch autoritäre Persönlichkeiten haben Anteile, die nicht mit ihren eng gefassten heterosexistischen Vorstellungen von Geschlecht übereinstimmen. Diese können sie jedoch nicht zulassen und allzu oft tauchen die abgewehrten Wünsche in der Projektion auf Andere wieder auf und werden stellvertretend in ihnen verfolgt. So werden nicht die Konventionen, die die Wünsche verbieten, bekämpft, sondern die Wünsche selbst – und mit ihnen die Stellvertreter*innen.
Der Frontalangriff auf reproduktive Rechte in den USA ist der Versuch, einen Teil der ‚verlorenen‘ Macht zurückzuerlangen, indem die Selbstbestimmung von Frauen massiv beschnitten wird. Die Angriffe auf trans Personen zielen hingegen nicht auf Kontrolle, sondern auf Auslöschung. Im autoritär-binären Geschlechterverhältnis werden Frauen zumindest für die Reproduktion ‚gebraucht‘. Alle anderen Geschlechter haben im autoritären Verständnis nicht nur keinen Platz, sie sind vielmehr ein Angriff auf die Grundfesten der autoritären Weltsicht. Und dort darf nicht sein, was nicht sein kann. Dabei geht es nicht um religiöse Gefühle oder Identitätspolitik, sondern um einen autoritären Umbau der Gesellschaft. Dieser beginnt bei den Rechten von Frauen und Queers, aber er hört dort noch lange nicht auf.