Die würdige Stimme
Gedichte über das Verschwindenlassen in Kolumbien
Im April 2021 kam es in Kolumbien zu einer regelrechten Explosion sozialer Proteste gegen die Regierung Iván Duque. Der Auslöser war eine Steuerreform. Die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer hätte die Preise für Lebensmittel und Konsumgüter weiter in die Höhe getrieben. Obwohl die Regierung die Reform wieder rückgängig machte, war die Situation bereits außer Kontrolle geraten: Die Gründe für die Unzufriedenheit waren vielfältig und hingen mit einer jahrzehntelangen verfehlten Politik in den Bereichen Bildung, Justiz und Sozialpolitik zusammen, zu denen die von der Covid-19-Pandemie verursachten Probleme hinzukamen. Der Staat reagierte mit heftiger Repression auf die Proteste. Es gab Verletzte und Tote in der Zivilbevölkerung, willkürliche Verhaftungen, sexuelle Übergriffe und das Verschwindenlassen von Personen. Vor diesem Hintergrund haben sich die Mitglieder des Kollektivs Nacen Voces zusammengefunden, um zu versuchen, einige Fragen vor allem zu Letzterem zu klären: Wo sind die Verschwundenen? Wird der Staat für seine Taten bezahlen? Was sind die Geschichten der Opfer?
Aus der belletristischen Recherche von Nacen Voces ging schließlich das Buch »La digna voz« (Die Würdige Stimme) hervor. Über seine Suche schreibt das Kollektiv: »Da wir uns des Mangels an Antworten und Lösungen bewusst waren, beschlossen wir, einen Raum zu schaffen, um einen Teil der Geschichte bekannt zu machen, weil wir an die heilende Kraft des Wortes glauben. Auf diese Weise haben wir nach zwei Jahren Arbeit das Buch »La Digna Voz« herausgegeben. Es enthält das Werk mehrerer Autor*innen in der Form von Gedichten, Erzählungen, Briefen, Liedern und Illustrationen, welche Teil eines Prozesses der Erinnerung, der Heilung und des Wiederaufbaus des sozialen Gefüges in Kolumbien und Lateinamerika sein wollen.«
SCHOKOLADE OHNE DICH
Die Schokolade schmeckt anders ohne dich.
Jeder Tag bricht wolkig an,
auch wenn die Sonne da ist.
Vorüber ziehen die Stunden und Wolken,
Vorüber ziehen die Wolken und Menschen,
Vorüber ziehen die Stunden und werden zu Tagen,
Tagen, die mit Melancholie gefüllt sind.
Die Schokolade schmeckt anders ohne dich.
Jeden Morgen fröstelt es mich,
auch wenn die Sonne da ist.
Jetzt weiß ich nicht, ob ich wach bin,
jetzt weiß ich nicht, ob ich schlafe.
Dieser Albtraum, der nicht enden will,
zerreißt mich innerlich.
Du bist alleine verschwunden,
aber nahmst ein Stück von mir mit.
Wo bist du jetzt?
Keiner hat dich gesehen,
nur wenige helfen mir, dich zu suchen.
Ich fürchte um dein Leben!
Ich fürchte um mein Leben ohne dich!
Ich werde nicht aufhören, dich zu suchen.
Ich muss dich finden,
oder ich werde leben wie Gaspar,
zweifelnd, leidend und weinend für immer.
Claudia A. Ramos
WELCHE REGIERUNG VERRÄT IHRE GEHEIMNISSE?
Um das Land von Müll zu befreien und
Wildblumen im Unterholz zu pflanzen, bleibt keine Zeit.
Das Einfachste scheint kompliziert,
wenn die verworrensten Verschwörungen geschrieben werden.
Um die Sandkörner in der Wüste
vom Busen des Meeres zu trennen, bleibt keine Zeit.
Auch nicht, um die Verschwundenen zu identifizieren
oder um das Gesicht der Geschlagenen wiederherzustellen.
Wer lügt? Diejenigen, die weggehen, sind nicht verloren;
auch nicht ist derjenige wiedergeboren, der zurückkehrt.
Ohne Flügel, die uns vor dem Sturz bewahren,
bis die Regierungen uns begraben.
Aber wer bleibt: Wie kann man das verhindern?
Ringsum herrscht die Erinnerungslosigkeit.
Kepa Murua